Titelgeschichte

China als digitaler Vorreiter

Uhr | Aktualisiert
von Christoph Grau

Das Silicon Valley und die USA gelten als das Mekka für IT-Fans. Aber nicht nur in den USA tummeln sich innovative Firmen. In einigen Bereichen ist China schon deutlich weiter. Eine Reportage aus dem Reich der Mitte.

In stoischer Ruhe schlängelt sich der allmorgendliche Verkehr über die Zhongguancun-Hauptstrasse im Stadtteil Haidian der chinesischen Hauptstadt Beijing. Neben der Strasse recken sich grün und blau schimmernde Hochhäuser gen Himmel. In diesen Gebäuden befinden sich die Büros vieler chinesischer IT-Riesen. Firmen wie Sina oder Youku-Tudou (siehe Tabelle auf Seite 15), die in China jedes Kind kennt, haben hier ihren Hauptsitz. Hier, im einstigen Dorf Zhongguan Cun ("Cun" heisst Dorf), schlägt das Herz der chinesischen Technologiewelt. Vor 20 Jahren war dieser Ort noch weit ab vom Schuss und ländlich geprägt. Jetzt reiht sich ein Hochhaus an das andere.

Zwischen den Häuserschluchten zweigt die Haidian-Hauptstrasse in westlicher Richtung von der Zhongguancun-Hauptstrasse ab. Direkt an der Kreuzung liegt das Hochhaus mit dem klingenden Namen "Meeresdrachen", in dem auf vielen Stockwerken die neuesten elektronischen Geräte feilgeboten werden.

E-Commerce auf einem anderen Level

Zu fast jeder Tageszeit herrscht hier reges Treiben. Eine Blechlawine aus Autos, klapprigen Bussen und verschieden gestreiften Taxis quält sich vorbei. Hinzu kommt ein Strom von Fahrrädern, Fussgängern und den für Beijing so typischen Lastendreirädern. Ein Chaos wie eh und je. Nur hat sich aber bei den Dreirädern in den letzten Jahren etwas getan. Sie befördern nicht mehr nur Wasserkanister, Baumaterialien und Müll. Viele haben jetzt einen roten Aufbau. Links und rechts huschen diese elektrisch betriebenen Gefährte fast geräuschlos an den Fussgängern vorbei.

Bei diesen Gefährten handelt es sich um Lieferfahrzeuge der chinesischen E-Commerce-Giganten Alibaba und Jing­dong. Hinzu kommt noch die ebenfalls in rot gehaltene Elektroroller-Flotte des Suchmaschinenbetreibers Baidu. Durch das viele Rot sind diese Lieferflotten auf den ersten Blick kaum voneinander zu unterscheiden. Wie ein nicht enden wollender Strom liefern sie Pakete, Essen und andere Onlinebestellungen aus. Oft erreichen Waren in Beijing schon in wenigen Stunden den Zielort.

In Anbetracht der riesigen Lieferflotten scheint das Onlineshopping zu einer Art Freizeitbeschäftigung in Beijing geworden zu sein. Es müssen tausende von Lieferfahrzeugen allein in dieser Stadt sein. Ähnlich sieht es in vielen anderen Millionenstädten Chinas aus. Genaue Zahlen geben die Onlinehändler nicht bekannt. Aber in den kleinsten Gassen der Altstadt Beijings steht an jeder zweiten Ecke eines dieser Dreiräder, um Waren auszuliefern.

Die Dynamik des chinesischen E-Commerce wird schon an den schieren Zahlen ersichtlich. Im Jahr 2006 lag der Umsatz im E-Commerce laut einer Erhebung von Statista in China noch bei 56 Milliarden Yuan (8 Milliarden Franken). Bis 2013 stieg der Wert auf 1,7 Billionen Yuan (rund 260 Milliarden Franken). Im vergangenen Jahr erreichte der Onlinehandel fast 6,2 Billionen Yuan, dies sind fast eine Billion Franken. In einer Studie erwartet Switzerland Global Enterprise weiterhin anhaltende Wachstumsraten von um die 20 Prozent pro Jahr. Eine atemberaubende Entwicklung.

Das Paradebeispiel für den chinesischen E-Commerce ist der sogenannte Single Day am 11.11. Jedes Jahr aufs Neue werden an diesem Tag in China E-Commerce-Rekorde aufgestellt. Es ist der Tag der Singles, da die Eins in der chinesischen Lesart als ein einsamer Mensch verstanden wird – auf Chinesisch: "blanker Stock". Und am 11. November gibt es diese Zahl gleich vier Mal. Seit wenigen Jahren locken Onlineshops an diesem Tag mit Rabatten. Nicht nur der Single kann sich beim Shoppen über die Einsamkeit hinwegtrösten. Auch Menschen, die in Partnerschaften leben, nutzen den Tag gerne, um Geschenke zu machen. 2015 machte Alibaba allein an diesem Tag einen Umsatz von umgerechnet 14 Milliarden Franken. Dies sind 60 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Und Alibaba ist nur ein Anbieter unter vielen.

Mobiles Bezahlen gehört zum Alltag

Die grossen chinesischen E-Commerce-Anbieter etablierten in den letzten Jahren eigene Bezahllösungen. Die grösste davon ist Alipay (Zhifubao) – von Alibaba. Kleine und grosse Einkäufe jeder Art lassen sich damit abwickeln. Mit dem Onlineshopping fing alles an, inzwischen kann Alipay aber viel mehr. Es ist heute sozusagen der Alleskönner beim Bezahlen. Denn gerade das mobile Bezahlen erreichte mit Alipay ein Level, das hierzulande und auch in den USA unerreicht ist.

Wie selbstverständlich mobiles Bezahlen in China ist, zeigte ein junges Pärchen. Es betrat die Filiale eines Kentucky Fried Chicken an besagter Kreuzung zwischen Haidian-und Zongguancun-Hauptstrasse. Der junge Mann fragte seine Freundin: "Hast du eigentlich Geld dabei?" "Nein, habe ich nicht", erwiderte sie. "Ich auch nicht. Aber das ist kein Problem. Ich habe doch Wechat", sagte er ganz selbstverständlich. Der verwunderte Zuhörer mag sich fragen, wie in dieser Situation die chinesische Whatsapp-Alternative Wechat helfen soll? Die Antwort ist ganz einfach. Mit Wechat kann man ganz selbstverständlich auch mobil bezahlen.

Wie das geht? In die chinesische Version der auch in Europa zugänglichen App ist ein elektronisches Portemonnaie (Qianbao) integriert. Dieses kann man mit Geld aufladen, oder es direkt an sein Konto anbinden. Auch Alipay ist mit an Bord.

Die Akzeptanz des mobilen Bezahlens ist weit verbreitet. Nicht nur bei grossen Fastfoodketten, in Supermärkten oder hippen Coffee-Shops wird diese Bezahloption akzeptiert. Sondern auch beim Marroni- oder Schaschlikverkäufer an der Ecke. Und es wird auch rege genutzt. Dabei funktioniert das Bezahlen ähnlich, wie das Paymit in der Schweiz plant. Mit der Smartphone-Kamera wird ein QR-Code gescannt und die Zahlung anschliessend bestätigt. Fertig ist die Transaktion.

Auch für Peer-to-Peer-Überweisungen wird Wechat rege genutzt. Diese Erfahrung machte der Autor in einem Hotel, in der abgelegenen südostchinesischen Provinz Yunnan. Das Hotel war schon bezahlt, da stellte die Rezeptionistin fest, dass vergessen wurde, ein Rabatt zu berechnen. Das Geld erstattete sie aber nicht in bar oder als Überweisung zurück. Vielmehr fragte sie: "Wie lautet Ihre Portemonnaie-Nummer?" "Welche Portemonnaie-Nummer?", war die Antwort der verdutzten Ausländer. "Natürlich die von Wechat", sagte sie. "Zeigen Sie mir einfach kurz ihr Wechat und ich überweise Ihnen den Betrag." Schon wenige Sekunden später war das Geld im elektronischen Geldbeutel, ohne Registrierung oder Kreditkarte, einfach so.

Didi-Kuaidi ist das chinesische Uber

Wie in Europa und den USA wurde auch die chinesische Taxibranche durch die Digitalisierung erheblich aufgemischt. Die vielzitierte Uberisierung hielt auch im Reich der Mitte Einzug. Bis vor kurzen teilten sich noch zwei grosse Anbieter den Markt: Didi Dache und Kuaidi Dache. Im vergangenen Jahr fusionierten die Firmen zum Anbieter Didi-Kuaidi. Nach eigenen Angaben vermittelte das Unternehmen im Jahr 2015 mehr als 1,4 Milliarden Fahrten. Davon allein 200 Millionen im Dezember. Dies ist weit mehr als Uber vorzuweisen hat.

Ende 2015 feierte Uber die milliardste Vermittlungen, wohlgemerkt in der gesamten sechsjährigen Unternehmensgeschichte. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung wäre dies mehr als eine Fahrt pro Einwohner im Jahr. Noch konzentriert sich Didi-Kuaidi nur auf den chinesischen Markt. Didi-Kuaidi ist aber nicht nur eine einfache Kopie von Uber. Der Dienst vermittelt auch Aufträge an Busse und für Expressfahrten. Sogar Firmendienstleistungen hat Didi-Kuaidi im Angebot. Mit insgesamt acht unterschiedlichen Vermittlungsdiensten ist das Unternehmen breiter aufgestellt als Uber.

Auch sieht sich Didi-Kuaidi nicht in direkter Konkurrenz zur Taxi-Industrie. Die Vermittlungsdienste stehen auch normalen Taxis offen. In Gesprächen zeigten sich Taxifahrer vom System begeistert. Sie bestätigten, dass die Zahl der Vermittlungen über Didi-Kuaidi immer mehr zunimmt.

Was in China nicht läuft

Aber nicht alle Trends aus Europa und den USA funktionieren auch in China. Besonders auffällig ist dies beim Carsharing. Dienste wie Mobility in der Schweiz gibt es in China so gut wie nicht. Dabei wären solche Angebote in Anbetracht des stetig zunehmenden Verkehrs und der Luftverschmutzung durchaus sinnvoll.

Dass es Carsharing-Modelle in China nicht gibt, mag kulturelle Gründe haben. Das Land hat sich in den letzten Jahren sehr stark entwickelt. Für die stetig wachsende Mittelschicht ist das eigene Auto zu einem wichtigen Statussymbol geworden. Mit diesem kann man sich abheben und den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln entgehen. Häufig hört man in China daher den Spruch, dass man zum Heiraten drei Dinge brauche: Geld, ein eigenes Haus und ein Auto. Vor 30 Jahren waren diese drei Dinge noch eine Armbanduhr, ein Fernseher und ein Fahrrad.

Im Grossen und Ganzen sind in China jedoch sehr ähnliche Entwicklungen zu beobachten wie in Europa und den USA. Nur ist die Dynamik und Durchdringung der neuen Technologien teilweise sehr viel stärker ausgeprägt. So ist etwa Mobile Payment hierzulande gerade einmal angekommen und noch weit davon entfernt, von einer breiten Masse akzeptiert zu werden.

China zeigt, wie schnell die Entwicklungen vonstatten gehen können. Neuartige Geschäftsideen schiessen wie Pilze aus dem Boden. Noch ist die Entwicklung auf den recht abgeschotteten chinesischen Binnenmarkt beschränkt. Sollten die dort ansässigen grossen Player mit ihren erprobten Produkten zur globalen Expansion ansetzen, könnten sie auch in Euopa für einiges Durcheinander sorgen.

Es lohnt sich daher, die Entwicklungen im Reich der Mitte im Auge zu behalten. Denn Disruption kommt nicht nur aus dem Silicon Valley. Ein Blick in den Fernen Osten kann auch für Überraschungen sorgen.

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