Hintergrund

Gamification: Der wachsende Einfluss des Spielfaktors auf unseren Alltag

Uhr | Aktualisiert
von Rodolphe Koller

Die sogenannte Gamifizierung, ein Prozess, bei dem Situationen abseits des traditionellen Spielebereichs mit spielerischen Elementen angereichert werden sollen, breitet sich aus. Verschiedenen Studien zufolge wird der Markt von 100 Millionen Dollar im Jahre 2011 auf 2,8 Milliarden Dollar 2016 wachsen. Auch die Berufswelt ist davon betroffen.

Mit der Spiele-App Fold.it können die Spieler an der Zusammensetzung von Proteinen "arbeiten". (Quelle: Screenshot)
Mit der Spiele-App Fold.it können die Spieler an der Zusammensetzung von Proteinen "arbeiten". (Quelle: Screenshot)

Wird unser Alltag bald zu einem riesigen Spielplatz? Das zunehmende Eindringen des Spielerischen in manchmal ungeahnte Winkel unseres täglichen Lebens ist Teil einer absolut trendigen Dynamik, der Gamifizierung. Sie ist aus einer Marketingstrategie hervorgegangen, die darauf abzielt, Spielmechanismen in Zusammenhänge ausserhalb des Freizeitbereichs einzubinden, und erfreut sich einer rasch wachsenden Beliebtheit.

Von der Punktekarte über die Statusmeldungen, Quizspiele und Freundschaftswerbungen bis hin zu den Buttons – die spielerische Dimension hält überall Einzug. Anfangs wurde das Konzept vor allem von grossen Marken zu Werbezwecken und zur Kundenbindung eingesetzt. Heute hat es sich bereits auf ganz andere Bereiche wie Arbeit, Ausbildung und zwischenbehördliche Kommunikation ausgedehnt. In diesem Fall spricht man dann von Serious Games.

Drei Milliarden Stunden Spiel pro Woche

Die französische Forscherin und Spielespezialistin Jane McGonigal hebt das enorme Potenzial der Gamifizierung hervor. Sie erinnert daran, dass weltweit jede Woche drei Milliarden Stunden mit Spielen verbracht werden. Richtig genutzt, könnte diese Neigung zum Spielen aus Kunden Fans und aus Arbeit oder Ausbildung eine Quelle der Freude machen.

Dem Marktforschungsunternehmen Gartner zufolge haben die grossen Unternehmen das längst verstanden. Bis ins Jahr 2014 sollen bereits mehr als 70 Prozent der 1000 weltweit grössten Firmen über mindestens eine spielerische Applikation verfügen – entweder für ihre Kunden oder für ihre Belegschaft.

"Im Segment der Start-ups verfolgen die Unternehmen alles ganz genau, was mit der Gamifizierung zu tun hat, da viele in diesem Bereich aktiv oder sichtbar sein wollen", bestätigt Matthias Sala, Vorsitzender und CEO des Zürcher Start-ups Gbanga. Das Unternehmen produziert spielerische Apps für verschiedene Kunden. M2 Research, ein weiteres Marktforschungsunternehmen, geht seinerseits davon aus, dass der Markt der Gamifizierung, der sich heute auf 100 Millionen Dollar beläuft, bis 2016 auf 2,8 Milliarden Dollar zulegen wird.

Erfolgsfaktoren

Bei einer Session zur Gamifizierung im Rahmen der letzten Lift Conference Ende Februar bemerkte Sebastian Deterding, Forscher an der Universität Hamburg, dass das Zusammentreffen von drei Faktoren zum derzeitigen Erfolg des Phänomens geführt habe.

Erstens sei dies das positive Bild vom Spielen in unserer Gesellschaft. Zweitens habe es der technische Fortschritt erst ermöglicht, dem Verbraucher spielerische Anwendungen anzubieten. Und drittens habe der Erfolg von Vorreiter-Apps wie Foursquare geholfen. Letztere hätten bewiesen, dass das Konzept funktionieren kann und somit viele weitere Projekte nach sich zogen.

Tom Armitage, Game Designer bei Hide & Seek, weist darauf hin, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem alles miteinander verbunden ist. Die Spiele, die auch Systeme sind, widerspiegeln diese Komplexität und helfen uns somit dabei, die Realität des 21. Jahrhunderts besser zu verstehen. Dabei sei es egal, ob es sich um Themen aus Wirtschaft, Finanzen oder Politik dreht. Auf diese Dynamik stützt sich auch die Playtime-Ausstellung, die gerade im der Maison D’Ailleurs in Yverdon gezeigt wird (siehe Kasten).

Wissenschaftliche, politische und finanzwirtschaftliche Spiele

Die soziologische Dimension der Gamifizierung erklärt auch, weshalb «seriöse» Bereiche wie Wissenschaft, Politik und Finanzwirtschaft nicht zögern, auf dieses Verfahren zurückzugreifen, um ihr Zielpublikum anzusprechen. Dies wird zum Beispiel an der App Fold.it deutlich, die von der Universität Washington entwickelt wurde. Damit konnte das Rätsel um die Struktur eines dem Aids-Virus ähnlichen Enzyms in nur wenigen Stunden entschlüsselt werden. Die Wissenschaftler hingegen haben mit der Untersuchung des Problems bereits mehrere Jahre zugebracht.

Was die Politik anbelangt, hat die französische Partei Mouvement Démocrate (MoDem) im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen ganz auf spielerischen Aktivismus gesetzt. Die Unterstützungbewegung des Präsidentschaftskandidaten Jean-François Bayrou hat ihrerseits die Plattform Bayrou.fr/volontaires gegründet. Dort konnten angemeldete Nutzer Punkte – genannt Dezibels – und Buttons gewinnen, nachdem sie bestimmte Aufgaben wie den Druck und die Verteilung von Flugblättern erledigt hatten.

Ein weiterer Bereich, in dem die Serious Games wie Pilze aus dem Boden schiessen, ist das Gesundheitswesen. Spiele-Apps wie Quitnow oder Foodzy sollen die Nutzer dazu bringen, das Rauchen aufzugeben oder sich gesünder zu ernähren. Den Anreiz schaffen Buttons als Preise, grosse Herausforderungen, der direkte Wettstreit mit anderen Spielern und Ähnliches.

Gamifizierung im Unternehmen

Solche Anwendungen werden jedoch auch im rein beruflichen Umfeld immer beliebter. Das amerikanische Start-up Redcritter zum Beispiel hat eine Projektverwaltungslösung namens Redcrittertracker entwickelt, die je nach Fortschritt des Teams Buttons und andere Belohnungen an seine Mitglieder verteilt.

In Frankreich wurde das etwas andersartige Projekt Suez Ambassador mit dem Preis für das "Meilleur Serious Game 2011" ausgezeichnet. Das Spiel basiert auf den Prioritäten und Verpflichtungen der Gruppe. Es ermöglicht neuen Mitarbeitern ihre Aufgaben, ihre Organisation und die Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, zu kommunizieren. Nachdem der neue Mitarbeiter seinen Avatar erstellt hat, entdeckt er seine Missionsziele und die Herausforderungen der Gruppe, beispielsweise Wasser- und Abfallkreisläufe oder auch Innovationen, mit denen sich neue Dienstleistungen entwickeln lassen.

Im Weiteren beschleunigt die Demokratisierung der Smartphones, die ja zumindest teilweise auch auf dem Spieltrieb des Menschen basiert, die Popularisierung der Serious Games. Dank ihrer technischen Ausstattung (GPS, Kamera, Kompass etc.) hat man mit den Smartphones jederzeit Zugang zum Spiel. Zudem können die Spiele-Apps in der realen Welt Fuss fassen, indem die Anwendungen die Gamifizierung in das Alltagsleben integrieren.

Ein Beispiel dafür ist das Zürcher Start-up Gbanga mit seinem Lernspiel "Zooh – Save the Amur Tiger". Bei ihm werden die Spieler auf die Suche nach verirrten Wildtieren geschickt mit dem Ziel, sie in den Zoo der Stadt zurückzubringen. Das pädagogische Ziel ist es, die Spieler für Umweltfragen zu sensibilisieren, ihre Kenntnisse der Tierwelt zu verbessern und dabei neue Besucher in den Zoo zu locken.

Die drei M des Erfolges

Auch wenn die Durchdringung des Berufs- und Alltagslebens mit Spielerischem reizvoll erscheinen mag – sie funktioniert nur, wenn einige Qualitätskriterien erfüllt sind. Das sagen zumindest die Experten auf diesem Gebiet. Gartner zufolge muss jedes seriöse Spiel drei Kriterien, die sogenannten 3 M, erfüllen:
• Motivation, einhergehend mit einem Belohnungssystem (extrinsische Motivation) oder dem Interesse der Person an der durchzuführenden Aufgabe (intrinsische Motivation);
• Momentum (Schwung), der nur aufrechterhalten wird, wenn der Schwierigkeitsgrad des Spiels den Fertigkeiten des Spielers entspricht;
• Meaning (Bedeutung), wobei nachzuweisen ist, dass das Spiel einem übergeordneten Ziel dient, mit dem sich die Spieler identifizieren können.

Leider werden diese Regeln jedoch in den meisten Fällen missachtet, so die befragten Experten. Wenn sie nach den Regeln der Kunst ausgeführt wird, kann diese, unserem Alltag hinzugefügte Art des Spielens aber die Verantwortung der Bürger stärken. Sie kann sie in Themen verwickeln, für die sie sich eigentlich nicht interessieren. Sie kann Mitarbeiter oder Kunden motivieren und binden. Und vielleicht kann sie sogar die Gesellschaft etwas verändern.