Kolumne

"Maaami, ich flüg über de Tunnel!"

Uhr | Aktualisiert
von Christof Zogg, Leiter Digital Business bei den SBB

Um der Öffentlichkeit die monumentalen Dimensionen des Gotthard-Basistunnels zu vermitteln, haben die SBB ein ­innovatives Virtual-Reality-Erlebnis (VR) geschaffen. Im Feldtest mit tausenden VR-Neulingen zeigen sich allgemeine ­Herausforderungen und Lösungen bei der Entwicklung von VR-Anwendungen.

Christof Zogg, Leiter Digital Business bei den SBB. (Quelle: Netzmedien)
Christof Zogg, Leiter Digital Business bei den SBB. (Quelle: Netzmedien)

Am 1. Juni hat die Schweiz mit viel europäischer Politprominenz die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels gefeiert. Frau Merkel, Signore Renzi und Monsieur Hollande werden im Zug von Bundesrat Schneider-Ammann mit Tunnel-Witzen unterhalten. Einige Tage später ist dann bei typischem Sommerwetter 2016 das Schweizer Zugs… ähm Fussvolk dran. Doch wie bringt man einem Massenpublikum die Bedeutung des längsten Eisenbahntunnels der Welt näher, wenn es sich bei dessen physischer Befahrung quasi um ein Nicht-Erlebnis – 20 Minuten in einem schwarzen Loch – handelt? Mit virtueller Realität.

Um den Besuchern die Dimensionen des historischen Bauwerks plastischer zu vermitteln, realisierten wir ein virtuelles Gotthard-Erlebnis (auch kostenlos als "Gottardo 2016"-App verfügbar). Mehrere tausend Gäste besuchten am Festanlass unser Virtual-Reality-Standkino, und gefühlte 99 Prozent davon tauchten zum ersten Mal in ihrem Leben in die virtuelle Realität ein. Das führte zu folgenden Einsichten und praktischen Tipps für die Entwicklung von VR-Apps:

Kinder sind Virtual Natives

Zunächst war es für den VR-erfahrenen Beobachter amüsant zu sehen, wie sehr die VR-Newbies in das Erlebnis eintauchten. Zu beobachten waren etwa Szenen von händchenhaltenden Paaren, die sich gegenseitig vor dem vor dem virtuellen Absturz beschützten, Besucher, die fünf Minuten lange den Kopf nicht bewegten bis hin zu mehrfach um die eigene Achse wirbelnde Kleinkinder (aka Virtual Natives) ohne jegliche Berührungsängste.

Gleichzeitig stellen die noch relative Unerfahrenheit des Publikums sowie die limitierten Steuerungselemente den Interaction Designer von VR-Anwendungen vor anspruchsvolle Herausforderungen. Wie stellt man sicher, dass sich die Benutzer in der virtuellen Welt orientieren können? Wie gestaltet man eine selbsterklärende Benutzerführung, wenn einem bloss ein Cursor-Punkt sowie ein einziger Knopf für die Interaktion zur Verfügung stehen?

Keep it even simpler

Nach ersten Anwendungstests mit freiem Flug über die 3-D-modellierte Gotthardregion, wird klar, dass sich einige Nutzer gewissermassen virtuell verliefen und nicht mehr zum Ausgangspunkt zurückfanden. In der Folge ersetzten wir deshalb die freie Navigation durch Orientierungshilfen in Form von stationären Aussichtspunkten (visualisiert als Heissluftballone) und geführten Flugpfaden (in einer virtuellen Zeppelin-Passagierkabine), was gut funktionierte. Bei der Benutzerführung half es, kurze Übungen zur Bedienung der grundlegenden Navigationselemente in das obligatorische Tutorial zu integrieren.

In der finalen Version der Standkino-App vereinfachten wir schliesslich die Interaktion, indem wir selbst auf den Klick zum Anwählen der Navigationselemente verzichteten. Mit fokussiertem Blick auf ein Interaktionsyymbol erscheint automatisch der dahinter verborgene Inhalt. Der "long glance" in der VR-Welt entspricht gewissermassen dem "long press" in der App-Welt. Und analog zu den Touch-Apps, wo sich das erlernte Benutzer-Repertoire vom einfachen Tap zu ausgefeilten Mehrfinger-Wischgesten entwickelte, werden sich auch die virtuellen Steuerungsmöglichkeiten signifikant erweitern. Aber für frühe VR-Anwendungen gilt dasselbe wie für die Regentage im Sommer 2016 – weniger ist eindeutig mehr.

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