Wild Card

Die Ungnade der frühen Geburt

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Das Ausprobieren und Installieren von Software und das Streamen von Inhalten geht heute minutenschnell und ­reibungslos. Wie alle vor 1980 Geborenen wissen, war dem nicht immer so. Haben die Computer der Generation X ­kostbare Lebenszeit geraubt, oder war doch nicht alles umsonst?

Christof Zogg ist Director Digital Business bei den SBB. (Source: Netzmedien)
Christof Zogg ist Director Digital Business bei den SBB. (Source: Netzmedien)

Neulich hatte ich bei HP online Fotopapier bestellt und dabei die Mindestbestellmenge für die kostenfreie Lieferung nicht erreicht. Kurz entschlossen legte ich deshalb die selbstklebenden Social-Media-Fotosticker auch noch in den Warenkorb. Ein Tag später lag die Lieferung auf dem Bürotisch und ich machte mich daran, das neue Produkt auszuprobieren: Zuerst die App aus dem Store in­stalliert, dann das Smartphone via WLAN für Wireless Printing mit dem Drucker verbunden, anschliessend mit ein paar Tabs ein Foto aus der Galerie bearbeitet und schliesslich mein Werk ausgedruckt und an die Kinderzimmertür geheftet – selbstklebend.

Wenn’s wieder mal etwas kürzer dauert

Nein, Ihr Kolumnist ist nicht unter die Social Media Influencer gegangen und versucht auch nicht, mit schamlosem Product-Placement seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es geht um Folgendes: Die ganze, oben beschriebene Prozedur hatte gerade einmal 1 Minute und 47 Sekunden gedauert. Und das führte mir in einer Art nostalgischem Technologie-Flashback vor Augen, wie anders solche In­stallationsprozesse noch vor wenigen Jahren verlaufen wären. Wer erinnert sich noch daran?

Nehmen wir an, Sie wollten vor zehn Jahren eine Audio­datei vom WAV- ins MP3-Format konvertieren. Dazu starteten Sie eine kurze Deskresearch-Session, kennzeichneten das Produkt mit dem besten Sterne-Rating, um nach dessen Download feststellen zu müssen, dass die Datei im Ihnen unbekannten RAR-Format vorlag. Kein Problem, dachten Sie sich: Nur schnell einen RAR-Dekomprimierer herunterladen, und das Problem ist gelöst. Leider entpuppte sich die zuerst heruntergeladene Datei entpackt nicht als Audio-Konvertierer, sondern als Browser verunstaltende Adware. Also nochmals zurück auf Feld eins … und im Nu waren 1 Stunde und 47 Minuten verstrichen.

Andere Zeiten, andere Zeitfresser

Was haben wir damals nicht Stunden um Stunden mit unproduktiver Computerei vertrödelt – beim Suchen der passenden Software im Zeitalter vor den App-Stores, beim Reparieren des Betriebssystems im Zeitalter vor Autorepair und beim tagelangen, illegalen Herunterladen von Musik und Videos im Zeitalter vor Spotify und Netflix. Doch war das denn wirklich alles umsonst? Werden jeder Generation durch die dannzumal vorherrschenden Möglichkeiten und Gepflogenheiten hunderte Stunden an kostbarer Lebenszeit geraubt? In den Sechzigern beim Herumexperimentieren mit halluzinogenen Suchtmitteln, in den wilden Achtzigern beim Demonstrieren und Schaufenster einschlagen und in den Nullerjahren eben beim Evaluieren und Installieren von Software?

Ganz so düster fällt das Fazit nicht aus, denn keine Erfahrung ist ohne Lerneffekt. Zum einen meine ich, dass nur die Usergeneration, die sich einst nächtlich mit Treiber-Installationen gequält und über File-Download-Abbrüche geärgert hat, wirklich beurteilen und schätzen kann, wie bequem das digitale Benutzererlebnis heute geworden ist. Zum anderen stelle ich fest, dass die hunderten Stunden an Debugging-Erfahrung in mir ein tiefes Grundverständnis für die Informatik geweckt haben, das der Generation «Click and Run» zuweilen abzugehen scheint.

Wie wohl die mit Youtube und Social Media aufwachsenden Millennials dereinst die Zeitfresser ihrer Generation beurteilen werden?

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