Bis 2020 fehlen rund 25'000 ICT-Fachkräfte

Quereinsteiger – ein Rezept gegen den Fachkräftemangel?

Uhr | Aktualisiert
von Miriam Kalunder

In der ICT-Branche sind noch immer zwei Drittel aller Beschäftigten ehemalige Quereinsteiger. Die Netzwoche ging der Frage nach, ob das altbekannte Rezept, Quereinsteiger einzustellen, auch eine Lösung für den aktuellen Fachkräftemangel sein könnte.

Der aktuelle und künftige Fachkräftemangel könnte die Diskussion um Quereinsteiger wieder neu anheizen. Im neusten Econlab-Bericht "ICT-Fachkräftesituation – Bildungsbedarfsprognose 2020" von Anfang September 2012 rechnen die Autoren Nils Braun und Markus Gmünder im Auftrag von ICT-Berufsbildung Schweiz vor, dass der Schweiz bis ins Jahr 2020 rund 25 000 ICT-Fachkräfte fehlen werden, vor allem in der Softwareentwicklung und -analytik. Zudem fehlt es an der Basis: Es gibt zu wenige IT-Lernende. Die Branche selbst hat derweil Mühe, Fachkräfte aus dem mittleren Segment zu rekrutieren, wie Francesco Bruno, Leiter Business Operations beim Zürcher Softwarehaus Soreco, sagt. "Das Problem sind weniger die jungen, motivierten Leute oder die hochqualifizierten Fachkräfte. Es mangelt vor allem an solide ausgebildeten Spezialisten, die man auch bezahlen kann."

Warum also den Fachkräftemangel nicht mit einem altbekannten Rezept bekämpfen, mit der Rekrutierung von Quereinsteigern? Noch heute sollen rund 60 Prozent aller ICT-Beschäftigten in der Schweiz Quereinsteiger sein, sagen Branchenkenner. Sie sind im historisch jungen Berufsfeld ICT keine Seltenheit. Die meisten von ihnen wurden ab Mitte der 1980er-Jahre bis kurz nach dem Milleniumswechsel eingestellt. Dann platzte die Dotcom-Blase, und die Fachkräfte ohne ICT-Abschluss waren urplötzlich in einer wenig vorteilhaften Situation, wie Rolf Walser, Geschäftsführer des Personal- und Unternehmensberaters Nexus, weiss. "Die Quereinsteiger hatten um das Jahr 2001 vor allem diejenigen Stellen besetzt, die in der Folge wegrationalisiert und ausgelagert worden sind."

Gefragte Spezialisten

Jörg Aebischer, Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung Schweiz, registriert seit einiger Zeit eine erhöhte Nachfrage bei Arbeitnehmenden nach einem Einstieg in die Informatik, wie er gegenüber der Netzwoche ausführt. Dabei spielten die anhaltenden Diskussionen rund um den ICT-Fachkräftemangel eine wesentliche Rolle. Der Quereinstieg könne dann eine Option sein, wenn er über eine qualifizierte und anerkannte Ausbildung stattfinde. Er wendet allerdings ein: "Viel wichtiger ist es, dass wir die Jungen zur Erstausbildung in der Informatik motivieren. Mit der Komplexität der Technologien steigen auch die Anforderungen an die Fachkräfte."

Dies bestätigt Francesco Bruno von Soreco. Bei der Unternehmensgründung 1988 waren viele Quereinsteiger dabei. Inzwischen haben sich die Ansprüche an die Kandidaten deutlich erhöht. "Die Stellenanforderungen werden spezifischer. Es sind Spezialisten gefragt und nicht wie bis vor einigen Jahren ‹nur› einfach Informatiker", begründet Bruno.

Für Walser ist klar, dass sich durch den Berufsausstieg der ersten Informatiker-Generationen der Fachkräftemangel in den nächsten zehn Jahren verschärfen wird. Ob Quereinsteiger wieder häufiger zum Zug kommen könnten? "Eine wirksame Massnahme könnte durchaus sein, wieder vermehrt Einsteiger-Programme zu lancieren", sagt Walser. Sie hätten besonders dann eine Chance auf einen erfolgreichen Einstieg in die IT-Branche, wenn sie ICT-nahe Berufe wie beispielsweise Hoch- und Tiefbauzeichner oder Elektroniker ausgeübt haben und eine hohe Affinität zu IT-Themen hätten. Dazu kommen Fachkräfte, die punktuell ein spezialisiertes Branchenwissen haben, das wenig verbreitet ist. Dies sei beispielsweise im Bereich E-Health, in der IT-Validierung und im Qualitätsmanagement möglich, ergänzt der IT-Personalberater Beat Mühlemann, Gründer und Inhaber der Mühlemann IT-Personal AG.

Quereinsteiger mit Entwicklungspotenzial haben Chancen

Die Tendenz bezüglich der Chancen für Quereinsteiger auf dem Arbeitsmarkt ist jedoch klar: Unternehmen sind immer weniger gewillt, Kandidaten ohne ICT-Abschluss zu rekrutieren. Das sagen sämtliche von der Netzwoche befragten Branchenkenner. So hat Walser etwa festgestellt, dass Grossunternehmen zunehmend weniger Einsteigerprogramme wie beispielsweise sogenannte Jumpstart-Kampagnen anbieten würden. Zudem setzen Unternehmen heute anstelle von Quereinsteigern eher auf gut ausgebildete Lehrabgänger und Fachhochschulabsolventen. Der Grund liegt auf der Hand: Durch die Rekrutierung einer nicht spezifisch ausgebildeten ICT-Fachkraft muss ein Unternehmen kurzfristige Produktivitätseinbussen in Kauf nehmen. Mühlemann bemerkt jedoch: "Oft geht vergessen, dass die Suche nach einer Fachkraft für gewisse Positionen länger dauern kann als die Einarbeitung eines Quereinsteigers."

Auch Soreco rekrutiert eher selten externe Quereinsteiger. Interne Umsteiger gebe es noch viel eher, sagt Bruno. Das Softwarehaus bietet für Angestellte Trainings "on-the-job" an, so beispielsweise für Projektleiter, die in die Softwareentwicklung umsteigen wollen. Zusätzlich machen diese Umsteiger dann berufsbegleitende Weiterbildungen und schliessen diese später mit einem Fachabschluss ab. Wenn Soreco Quereinsteiger rekrutiert, achtet das Unternehmen auf zwei wesentliche Faktoren: Die Kandidaten müssen ins Unternehmen passen und auch das nötige Entwicklungspotenzial vorweisen. Deshalb schaue man bei der Rekrutierung eines Quereinsteigers bisweilen auch etwas genauer hin als bei einem ausgewiesenen Spezialisten, sagt Bruno. Um Synergien zu nutzen und Kosten zu sparen ist Soreco bestrebt, jeweils mehrere Kandidaten gleichzeitig einzuarbeiten.

Quereinsteiger erhalten beim Softwarehaus dieselben Arbeitsverträge wie "fertig" ausgebildete Fachkräfte. "Sie werden nicht länger verpflichtet, weil sie extra eingearbeitet werden müssen", sagt Bruno. Man zähle aber auf den Goodwill der Eingestellten. Bisher habe Soreco damit gute Erfahrungen gemacht. "Die Kandidaten haben gehalten, was sie versprochen haben", resümiert er. Sie hätten sich dankbar gezeigt für die Chance, die sie erhielten. Diesen Eindruck bestätigt auch Mühlemann: "Heutige Quereinsteiger arbeiten aus Dankbarkeit, dass ihnen der Quereinstieg ermöglicht wurde, dann meistens recht lange im Unternehmen. Langfristig gesehen gibt das der Firma dann auch einen beachtlichen Return on Invest."

ICT-Berufsbildung Schweiz fördert Quereinsteiger

Hoffnungen auf eine steile Karriere in der IT-Branche sollten sich Quereinsteiger indes kaum machen. "Die Aufstiegschancen sind eher schlecht", stellt Walser klar. Sich mit einem Wechsel in die Informatik eine besser gefüllte Lohntüte zu ergattern, sei sehr häufig Wunschdenken. Gerade ältere Quereinsteiger stünden sich bei solchen Plänen oft mit zu hohen Lohnforderungen selbst im Weg. Auch Aebischer warnt vor zu hohen Erwartungen seitens der Arbeitnehmer: "Es ist eine Illusion zu glauben, dass man mit einer Schnellbleiche in der ICT Erfolg haben wird." Geht es nach den Autoren der zu Beginn zitierten Studie, werden Arbeitgeber jedoch auch im Jahr 2020 noch immer in grossem Masse auf Quereinsteiger angewiesen sein. Eine erschwerende Komponente ist dabei die zunehmende Komplexität in der ICT-Branche. Die Unternehmen dürften auch künftig kaum Qualitätseinbussen bei der Rekrutierung in Kauf nehmen. Damit sie Quereinsteiger rekrutieren, brauchten sie mehr Offenheit, finanzielle Mittel und zeitliche Ressourcen für die Weiterbildung, wie in der Recherche für diesen Artikel klar wurde.

ICT-Berufsbildung Schweiz will neben der Förderung von IT-Lehrstellen auch den Quereinstieg künftig verstärkt unterstützen. Dabei hat der Verband vor, ein Verbandszertifikat einzuführen. Dieses hat den Arbeitstitel "ICT-Assistent" und soll Quereinsteigern weitere Qualifikationsschritte ermöglichen. Es ist nur eines von vielen Projekten, mit dem der Fachkräftemangel der Schweizer ICT-Branche gelindert werden soll.

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