Gast-Interview

Reto Lipp: "Digitalisierung und Cyberrisiken sind in der Geschäftsleitung angekommen"

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von Fridel Rickenbacher, Mitglied der Redaktion des Verbandes swissICT und Mitbegründer und Partner der MIT-Group

Die Themen Digitalisierung, Innovation, Cybersecurity und Privatsphäre haben massgeblich an Relevanz gewonnen. SRF- und Eco-Moderator Reto Lipp teilt im Interview seine Einschätzungen zu diesen Trendthemen.

Reto Lipp ist Moderator des Wirtschaftsmagazins ECO auf SRF. (Source: SRF/Oscar Alessio)
Reto Lipp ist Moderator des Wirtschaftsmagazins ECO auf SRF. (Source: SRF/Oscar Alessio)

Die digitalen Entwicklungsschübe haben alle Lebensbereiche erfasst. Industrie 4.0 ist in aller Munde. Die Digitalisierung aller Arbeits- und Lebensbereiche erfordert integrierte und robuste Strategien und Prozesse. Ist die Schweizer Wirtschaft genügend robust und resilient dafür?

Reto Lipp: Die Schweizer Wirtschaft ist gut aufgestellt, um die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern. Gerade der starke Franken erhöhte den Druck auf die Firmen, effizienter zu werden. Das hat viele Firmen dazu gebracht, diese Veränderungen offensiver anzugehen oder zumindest die neuen Chancen gerade auch im IT-Bereich neu auszuloten. Wenn man unter Druck ist, sucht man oft neue Wege. Und das ist in den letzten Jahren auch wirklich geschehen.

Die Schweiz schafft es in einem neu entwickelten Index über "Digitale Innovationsfähigkeit" nur auf Rang 8 unter 35 OECD-Ländern. In anderen Innovationsrankings belegt die Schweiz fast immer Spitzenplätze. Weshalb bei der Digitalisierung nicht?

Das wundert mich nicht - die Schweiz ist sehr innovativ in der Grundlagenforschung. ETH und Universitäten bringen wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse hervor, da sind wir weltweit spitze. Weniger gut aufgestellt ist die Schweiz, wenn es darum geht, diese Erkenntnisse in marktreife Produkte umzusetzen. Die Kommerzialisierung von neuen Erkenntnissen geht eher langsamer voran als in anderen Ländern. Die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Produkte muss sich beschleunigen. Da helfen natürlich auch Start-ups, die sich vermehrt und erfolgreich im Umfeld von ETH und Universitäten ansiedeln oder von ehemaligen Studenten gegründet werden.

Die Darwin'sche Evolutionstheorie "Survival of the fittest" oder "Fressen oder gefressen werden" ist en vogue im Zeitalter der Digitalisierung. Was heisst das für die Schweizer Wirtschaft?

Das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft sind KMU, nicht die Grossbetriebe. Sie sorgen für die meisten Arbeitsplätze. Viele dieser KMU waren in den letzten Jahren aber stark gefordert angesichts der Frankenstärke. Gerade in der Industrie haben viele Firmen ungenügende Renditen erzielt oder sogar Defizite erwirtschaftet. Ein Teil der Firmen hat auch auf Kosten der Substanz gelebt. Das geht eine Weile gut, aber langfristig ist das natürlich nicht haltbar, da dann oft das Geld für echte Innovationen oder neue Produktionsmethoden fehlt. Das gipfelt dann in einer Abnahme der Wettbewerbsfähigkeit und letztlich geht dann auch die Zukunftsfähigkeit verloren.

Werde die Chancen und Gewinne rund um die Digitalisierung und Automatisierung zu Gunsten der Shareholder und Stakeholder aber vielfach auch zu Lasten der Arbeitnehmer, zum Beispiel mittels Entlassungen, ausgetragen?

Das wird noch viele Diskussionen auslösen, denn natürlich kommen die Gewinne der Digitalisierung in erster Linie jenen zugute, die über die Kapitalbereitstellung dafür gesorgt haben, dass die entsprechenden Prozesse in den Firmen eingeleitet und die entsprechende Soft- oder Hardware gekauft wurden. Wenn also in den Fabrikhallen vor allem Roboter stehen, dann wird der Gewinn, der sich darauf ableitet, natürlich eher den Aktionären zu Gute kommen als den Arbeitern, die es unter Umständen eh nur noch in verminderter Zahl hat. Der Staat – also letztlich wir alle – müssen die Diskussion führen, ob man diese Gewinne nicht anders verteilen kann. Denn es kann nicht sein, dass am Schluss der Staat über die Arbeitslosenkassen die Modernisierung der Firmen bezahlt und die Unternehmensspitzen den Gewinn privatisieren.

Im Rahmen der Digitalisierung wird alles vernetzt und digitalisiert. Ist die Wirtschaft im Hinblick auf sicherheitstechnische Aspekte dafür genügend gut vorbereitet?

Ich glaube, dass es hier noch viele Defizite gibt. Vernetzungen bringen natürlich ein grosses Potenzial an ökonomischen Gewinnen – nur leider öffnen sich auch Tür und Tor für Sicherheitslücken. Viele Firmen gehen diese sehr offensiv an, andere sind noch nicht so weit. Insgesamt dürfte man eher davon sprechen, dass die Schweizer Unternehmen mittelmässig sensibilisiert sind. Denn wir dürfen nicht vergessen: die meisten sicherheitsrelevanten Probleme entstehen nicht durch Maschinen, sondern die Schwachstelle ist oft der Mensch, meist aus Nachlässigkeit. Man muss nur mal den Umgang mit Passwörtern studieren und man weiss, dass Sicherheitslücken meist beim Mensch beginnen - ich nehme mich da nicht aus.

Die Schweiz hat im Bereich Cyber Security Nachholbedarf. Die Notwendigkeit einer nationalen Strategie zum Schutz der Schweiz vor Cyber-Risiken (NCS) wurde erkannt. Wie kann die Wirtschaft dieses Bestreben unterstützen?

Natürlich haben die meisten Firmen inzwischen begriffen, wie anfällig die modernen Technologien auf Sicherheitsrisiken und Sicherheitslecks sind. Der neuste Datendiebstahl der Swisscom hat vor Augen geführt, wie stark heute die Zukunft einer Firma davon abhängt, im Sicherheitsbereich keine Kompromisse zuzulassen. Eine Firma kann heute angesichts der Gefahren einen derartigen Reputationsschaden durch ein Datenleck erleiden, dass sie sich davon nicht mehr erholt. Damit sind Cyberrisks definitiv auf der Stufe der gesamten Geschäftsleitung angekommen. Es gibt aber leider auch immer noch viele Firmen, die glauben, sie könnten sicherheitsrelevante Themen einfach an die Informatik-Abteilung abschieben. Dabei müsste sich das gesamte Management mit diesen Themen befassen – auch damit, wie man im Falle einer Cyberkrise reagiert. Hier sind Checklisten und Notfallübungen auf Geschäftsleitungsebene durchaus angebracht.

Data Breaches oder Hacks bei Unternehmen zeigen teilweise Kommunikations-Defizite auf, verursachen Reputationsschäden und mitunter auch massive Verluste an der Börse. Braucht es Neubewertungen von Unternehmen je nach Risiko und Exposition? Unter Berücksichtigung von vorhandenen Cyber Security Policies in den Unternehmen?

Die Anleger haben die Cyberrisiken leider noch nicht so gross auf ihrer Agenda - sehr zu Unrecht, denn Reputationsschäden wirken sich heute direkt auf den Börsenkurs aus. Innerhalb Sekunden können Milliardenschäden entstehen - wenn nicht richtig kommuniziert. Leider stecken auch globalisierte Milliarden-Konzerne oft noch in Kinderschuhen, wenn es um Kommunikation geht. Und gerade die Exposition von Cyberrisiken ist kommunikativ äusserst anspruchsvoll. Krisenkommunikation beginnt nicht erst in der Krise, sondern muss präventiv geschult und geübt werden. Verwaltungsräte heute tun gut daran, wenn sie ihr Top-Management dazu anhalten, entsprechende Checklisten vorzubereiten und Trainings abzuhalten. Gute Kommunikatoren in der Krise fallen leider nicht vom Himmel - es ist alles eine Frage der Vorbereitung.

Die Digitalisierung fordert die Unternehmen, möglichst sicher mit ihren Daten umzugehen. Die Geschäftsprozesse und die Mitarbeitenden wiederum brauchen Flexibilität und Offenheit. Wie sollten sich die Akteure in diesem grossen und längst globalisierten Spannungsfeld verhalten?

Dieses Spannungsfeld ist das zentrale Arbeitsfeld der Zukunft, denn tendenziell dürften die Systeme eher offener werden, was die Einfallstore öffnet für Leute, die nicht nur Gutes im Sinne haben. Die Investitionen in die IT-Sicherheit werden für viele sensible Branchen deutlich zunehmen, aber vermutlich müssen wir uns alle daran gewöhnen, dass es die hundertprozentige Sicherheit nicht gibt. Gerade wir Konsumenten, die auch auf allen sozialen Medien unterwegs sind, müssen uns an der eigenen Nase nehmen, wenn unsere Daten abgesaugt werden. Vielleicht ist die Gegenstrategie heute: möglichst viel ins Netz stellen. Denn ist erstmals alles öffentlich, dann gibt’s kaum noch private Dinge, die gestohlen werden können. Oder man bleibt gleich ganz offline. Das ist vielleicht der letzte Luxus des 21. Jahrhunderts - auf online zu verzichten. Die Sensibilisierung muss beim Unternehmer und den zu befähigenden Mitarbeitern beginnen. Da stehen bekanntlich viele Unternehmen vor einigen zusätzlichen Herausforderungen und Investitionen. Die meisten verantwortlichen Unternehmer haben die Herausforderungen erkannt. Bei wem das noch nicht angekommen ist, der dürfte in den nächsten Jahren ohnehin Probleme bekommen. Viel wichtiger scheint mir, dass man die Mitarbeiter auf diesem Weg der Digitalisierung mitnimmt und die Ängste thematisiert und klar adressiert. Viele Firmenlenker haben hier grosse Defizite. Immer nur Disruption rufen und wunderbare Zukunftsvisionen entwerfen, nutzt nichts, wenn man seine Mitarbeiter nicht mit ins Boot holt. Hier gibt es noch gewaltige Defizite. Die Kommunikationsfähigkeit von gewissen Chefetagen ist leider sehr beschränkt.

Es stehen einige Regulationen an, zum Beispiel beim Datenschutz und bei der Cyber Security (CH-DSG, EU-DSGVO / GDPR). Wie schätzen Sie hier den Stand der Schweizer Unternehmen ein?

Fast jeder Kongress in diesen Tagen beschäftigt sich mit dem Thema Digitalisierung - hier wird sehr viel informiert und diskutiert. Deutlich weniger diskutiert werden die Sicherheitsaspekte und disruptiven Auswirkungen. Wobei man auch nicht so tun sollte, als würde morgen mit einem Mal die ganze Welt auf den Kopf gestellt. So erschreckt man eher Mitarbeiter als dass man sie auf den Weg mitnehmen. Die Digitalisierung würde ich eher als eine Evolution als eine Revolution beschreiben. Da bin ich sehr bei der letzten Studie von Avenir Suisse, die besagt, dass wir schon Jahre in einem Prozess der Digitalisierung drin sind und dass dieser oft langsamer verläuft als viele meinen. Glücklicherweise - so haben wir nämlich Zeit uns darauf einzustellen. Von diesem "Disruptions-Hysterie", mit dem Unternehmensberater gerne ihre Kurse und Beratungen verkaufen, halte ich wenig.

Informationsethik und Privacy sind im Rahmen der Digitalisierung und Zeitalter der Datenraffinierung mittels Big Data und künstlicher Intelligenz vermeintlich letzte Bastionen. Wie schätzen Sie diese Aspekte ein?

Der gläserne Konsument ist leider keine Alptraumvision aus einem Science-Fiction-Film mehr, sondern Realität. Firmen tun allerdings gut daran mit ihren mit Hilfe von Big Data gesammelten Daten ethisch korrekt umzugehen. Denn im Zeitalter der Daten-Transparenz und der globalisierten sozialen Medien, führen Daten-Lücken ganz schnell zu weltweiten Reputationsproblemen. Viele Firmen haben heute eigentlich "Control-Rooms" eingerichtet, in denen sie überwachen, was weltweit in den sozialen Medien über sie berichtet wird. Datenlücken können eine Firma ruinieren, aber auch der unbedachte Umgang mit Daten oder flapsige Bemerkungen dazu, können zu einem weltweiten Rufschaden führen. Die Firmen müssen mehr in diesen Bereich investieren und auch stärker zusammenarbeiten. Denn Datensicherheit und Privacy sind firmenübergreifende Themen, die nicht nur unternehmensspezifisch angegangen werden können.

Sie sind ein aktiver Influencer in den Social Media. Ist es wirklich ein Vorteil, dass die Digitalisierung genau jetzt stattfindet, in einer Zeit, in der die Babyboomer in Pension gehen?

Das halte ich für einen grossen Vorteil, denn tatsächlich werden sich in den nächsten Jahren in der Schweiz Hunderttausende von Babyboomern - ich gehöre auch dazu - vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Gleichzeitig wird die Digitalisierung ganz sicher auch den einen oder anderen Job kosten. Wir sehen das beispielsweise gerade in den Medien, wo Journalisten-Jobs immer rarer werden, da die Digitalisierung den ganzen Mediensektor völlig umkrempelt - und heute immer mehr Werbung zu Google und Facebook geht. In einer solchen Situation ist es sicher eine Erleichterung, dass nicht allzu viele Junge auf den Arbeitsmarkt drängen. Das wird die Situation entspannen - und auch die Ängste vor der Digitalisierung etwas relativieren.

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