Interview mit Fabian Vaucher, Geschäftsführer Pharmasuisse

Wie Apotheken zu digitalen Gesundheits-Coaches werden wollen

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Seit 175 Jahren vertritt der Schweizerische Apothekerverband Pharmasuisse die Anliegen der Apotheken. Im Interview zeigt Geschäftsführer Fabian Vaucher, wo heute die digitalen Herausforderungen der Branche liegen und wie er die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben will.

Fabian Vaucher, Pharmasuisse. (Source: ZVG)
Fabian Vaucher, Pharmasuisse. (Source: ZVG)

Wie lief die Digitalisierung bei den Apotheken ab?

Fabian Vaucher: Die Apotheken waren eine der ersten ambulanten Leistungserbringer die EDV-Systeme einführten. Darum sind wir schon relativ lange digital unterwegs, insbesondere was die Logistik anbelangt. Da ging es um die Automatisierung von Bestellprozessen oder die Optimierung der Lagerbewirtschaftung. Der zweite Fokus der Digitalisierung war die Automatisierung des Abrechnungsprozesses. Mit Apothekenscheinen und handgeführten Listen war dieser früher sehr aufwendig. Die ersten EDV-Systeme kamen hier Mitte der 90er-Jahre auf. Sie haben Systeme mit Karteikärtchen, Lochkarten oder Mikrofiches ersetzt.

Wie sieht es heute aus?

Die Apotheken sind bereits relativ weit. Mit unseren ERP-Systemen führen wir heute Lageroptimierung, Liquiditätsplanung oder den Kontakt mit Grossisten und Versicherungen digital. Die Herausforderung heute liegt natürlich in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Ohne IT geht in einer Apotheke nichts. Doch gilt es jetzt, die Primär-Systeme für den inter-professionellen Austausch fit zu machen. Mit Versicherungen, Grossisten und Logistikern war dies einfach, weil wir es dort mit technologiegetriebenen Fachleuten zu tun hatten. Bei Hausärzten, Spitälern und der Pflege sind die technischen Voraussetzungen aber sehr unterschiedlich. Der wichtigste Anspruchspartner einer öffentlichen Apotheke ist der Hausarzt – und da gibt es durchaus noch Potenzial bei der Digitalisierung.

Wo liegt das Problem?

Mein eigener Hausarzt zum Beispiel hat alle Krankengeschichten digitalisiert. Andere sagen aber: Das mache ich nicht mehr und fahren weiter wie bis anhin. Hausärzte, die in Gruppenpraxen eintreten und digitalisieren müssen, nehmen diese Arbeit auf sich. Einzelpraxen, die keine aktive Nachfolgeregelung betreiben, werden diesen Aufwand nicht betreiben.

Wo liegen die Herausforderungen für die Apotheken?

Eine Herausforderung ist die Einbindung deselektronischen Patientendossiers (EPD) in unsere Prozesse. Wir sehen dieses als Digitalisierungsschritt hin zu unseren Kunden, im Sinn einer Gesundheitsakte. Mit der Bezeichnung EPD sind wir nicht glücklich. Niemand sieht sich selber als Patient, sondern als Kunde, der gesund werden und bleiben will. Deshalb wollen wir die Treiber der digitalen Transformation für die Gesundheit unserer Kunden sein.

Was sind die Knackpunkte bei der Einführung des EPD?

Der erste ist die sogenannte doppelte Freiwilligkeit. Nach ihr können beide, sowohl der Leistungserbringer wie auch der Patient ein Opt-in, das heisst ihr MitmachenfreiMitmachen frei, wählen. Nach unserer Meinung ist das ein falscher Entscheid. Der alleinige Entscheider ist der Kunde; und wenn der ein EPD wünscht, müssten alle es anbieten. Wir sind ready, haben damals aber Rücksicht auf die Ärzte genommen, die noch nicht so weit sind und mit dem Referendum drohten. Wenn die stationären Leistungserbringer ab 2020 in die Pflicht genommen werden und wenn das EPD erfolgreich Anwendung finden soll, wird man sich sehr schnell überlegen müssen, es mit einer entsprechenden Übergangslösung auch für die ambulanten Leistungserbringer zur Pflicht zu machen.

Weshalb lehnen Sie die Freiwilligkeit im ambulanten Bereich ab?

Wir erachten es als grosse Chance zur Demokratisierung des Gesundheitswesens, wenn der Patient ermächtigt wird und mehr Autonomie bekommt. Er soll entscheiden wann und wo er Gesundheit konsumieren will. Die Apotheke ist als wohnorts-naher, einfach zugänglicher Eintritt ins Gesundheitswesen prädestiniert, zur Unterstützung des EPD eine Offerte zu machen, die im alltäglichen Leben eine Vereinfachung der Gesundheitsdienstleistungen bringen kann. Man muss sich dort nicht anmelden, man muss keinen Spezialisten aussuchen oder an ein Call-Centern wenden. Mit verschiedenen neuen Kompetenzen könnten die Apotheken einen einfachen Zugang ins Gesundheitswesen bieten. Zum Beispiel mit der Möglichkeit, ein Gesundheitsdossier zu eröffnen. Zum einen gibt es damit Transparenz, wenn man zu einem Arzt oder ins Spital muss. Zum anderen kann eine Apotheke nach ersten Massnahmen direkt eine Überweisung zum Arzt vornehmen, wenn das notwendig ist.

Wo liegen weitere Herausforderungen?

Der zweite Knackpunkt ist die Top-down-Organisation des EPD über Staat, Kantone und Spitäler. Man greift mit dieser vertikalen Ausrichtung zu kurz. Wenn ich erst im Spital ein Patientendossier brauche, könnte man meinen, dass ich angezählt bin und wohl bald die letzte Ölung bekomme. Die Akzeptanz des EPD in diesem Setting ist beim Polymorbiden sicher gegeben, aber wir möchten auch den Kunden berücksichtigen, der sich um seine Gesundheit kümmern will – denn das sind weit über 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung.

Und der dritte Knackpunkt?

Die EPD-Provider wollen von den Zusatzdienstleistungen leben, die nicht im EPDG geregelt sind. Hier steht es jeder (Stamm)Gemeinschaft frei, eigene Austauschformate zu definieren. Das wird das Roaming dieser Zusatzdienstleistungen erschweren. Wählt man den dualen Ansatz, sind die Leistungen zwischen den Leistungserbringern in der ganzen Schweiz zu standardisieren. Darin sehen wir noch einige Arbeit, die pharmaSuisse weiter unterstützt. Auch weil Stammgemeinschaften unter der Ägide der Kantone dazu verleitet sein könnten, Zusatzdienstleistungen rund um die stationären Leistungserbringer zu bevorzugen. Gesundheitsdienstleister auf der untersten, ambulanten Stufe – wo die Schaffung einer Schweizer Lösung eigentlich schnell und einfach wäre – werden wahrscheinlich zuletzt und dies zulasten des Patienten berücksichtigt.

Warum sollten die Kantone das zulassen?

Die Kantone haben ein Interesse, ihre Investitionen möglichst schnell zu amortisieren. Das heisst, sie müssen die Effizienz im stationären Bereich steigern. Von den Kosten her ist dieses Vorgehen nachvollziehbar, aber im Hinblick auf die Nutzerrate des EPD wird dieses allein nicht attraktiv genug sein. Die Frage ist, was der Konsument sich wünscht. Eine persönliche Gesundheitsakte privater Anbieter mit nahtloser Anbindung ans EPD beispielsweise unterstützt durch Versicherungen ist denkbar.

Welchen Beitrag leisten die Apotheken zum Projekt EPD?

Wir sind im Gespräch mit Abilis, der einzigen Stammgemeinschaft, die einen nationalen Ansatz verfolgt. Die Apotheke ist prädestiniert, das Gesundheitsdossier zu eröffnen, da dort eine Beratung stattfinden und der Identifikationsprozess initiiert werden kann. Auch für die Befähigung der Bevölkerung zum Umgang mit dem Tool bieten sich unsere 1800 Verkaufsstellen an. pharmaSuisse prüft, wie dieser Prozess angetrieben werden kann. Im Rahmen der Digitalisierung der Grundversorgung wollen wir die Führung übernehmen.

Wie wollen Sie das umsetzen?

Einer der wirksamsten Prozesse ist die Medikation. Dort setzen wir an und schaffen für den Patienten Transparenz. Es geht darum, Fragen rund um Medikamente, das Medikamenten-Management oder die Logistik zu digitalisieren und so Effizienzgewinne zu realisieren. Deshalb war pharmaSuisse Initiator der Inter-professionellen Arbeitsgruppe IPAG. In ihr haben wir uns mit anderen Berufsorganisationen für die Standardisierung der Medikation stark gemacht. Diese Standardisierung scheint auf den ersten Blick sehr einfach. Auf den zweiten Blick gibt es aber Indikationen, Diagnosen, Laborwerte und Interaktionen über die man sich auf Standards einigen muss. Diese Diskussion müssen die Berufstätigen führen, denn es braucht eine alltagstaugliche, keine Techniker-Lösung.

Wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen geht, steht meist das EPD im Vordergrund. Welche Projekte sind davon abgesehen für die Apotheken wichtig?

Digitalisierung betrifft die Apotheken in Hinblick auf das ganze Gesundheitswesen, sie betrifft uns aber auch als KMU-Detailhandel. Das geht so weit, dass wir über neue Ladenkonzepte nachdenken Wie können wir Menschen heute zum Besuch eines lokalen Geschäfts begeistern? Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund. Erstens: Wie können wir mit unseren Kunden in Kontakt bleiben, um ihren Bedürfnissen nach dem Einkauf nachzukommen und Pflegepersonen den Job zu erleichtern? Zweitens, und das ist schwieriger, wollen wir mit neuen Kunden in Kontakt treten. Dort ist die digitale Sichtbarkeit der Apotheke die grösste Herausforderung.

Was verstehen Sie darunter?

Heute ist jede Apotheke mit einer Homepage unterwegs, aber das genügt nicht. Ein Mitarbeiter von Google Health sagte uns, dass die häufigste Frage im Internet lautet: Wo ist die nächste Apotheke? Wir müssen unsere Apotheken also erst einmal dazu bringen, ihre Informationen bei Google Business einzutragen, damit sie dort überhaupt sichtbar werden. Die zweite Erkenntnis von Google war, dass die meisten digitalen Anfragen morgens um sieben Uhr kommen. Daraus lernen wir, dass wir unsere Öffnungszeiten und unser Leistungskonzept anpassen müssen.

Was heisst das konkret?

Wir haben drei verschiedene Konzepte. Erstens die Apotheke im urbanen Gebiet, wo ein Überangebot herrscht aber auch mehr Kapital. Zweitens der rurale Bereich, wo man froh ist, wenn man überhaupt noch eine Apotheke findet. Dort sind die Anforderungen an die Digitalisierung ganz andere. Es geht nicht um einen Marktvorteil, sondern um die Zugänglichkeit, dass zum Beispiel auch der Alphirt noch Zugang zum Gesundheitswesen hat. Und drittens gibt es den Zwischenbereich der Agglomerationen, wo das Angebot relativ knapp ist. Diese drei Konzepte müssen wir beim Ladenbau und beim Aussenauftritt berücksichtigen. In Bezug auf die digitale Sichtbarkeit heisst das vor allem, dass wir Leistungen auf einer Plattform anbieten wollen.

Wie sehen die Eckpunkte dieser Plattform aus?

In der Interaktion mit den Kunden sind vor allem Vertrauen und Sicherheit wichtig und dies muss auch digital spürbar werden. Insbesondere in der Kundenbetreuung denken wir über verschiedene Lösungen nach. Zum Beispiel könnten wir jedem Kunden eine Bezugsperson für seine Anliegen anbieten, die dann beispielsweise via Tele-Coaching mit ihren spezifischen Kenntnissen dem Kunden zur Seite steht. Den Wissensaustausch zwischen diesen Spezialisten wollen wir digital fördern.

Wie wollen Sie diese Lösungsansätze bei Ihren Mitgliedern umsetzen?

Herausfordernd für uns als Berufsverband ist, unsere Mitglieder vom Potenzial dieser Ansätze zu überzeugen. Dazu müssen wir Geschäftsmodelle erarbeiten, die die Chancen aufzeigen und unsere Mitglieder befähigen, in diesen Dimensionen mitzudenken und zu handeln.

Klappt das?

Wie immer gibt es Aktive, die im ersten Wagen mitfahren und selbstmotiviert helfen, die Lokomotive zu befeuern .Ein grosser Teil findet, wir sind gut unterwegs. Und es gibt auch einen Wagen, bei dem man sich fragt inwiefern es sich lohnt, diesen noch mitzunehmen. Wie bei den Ärzten ist Digitalisierung ein Generationenthema. Ältere Generationen in den Apotheken orientieren sich in punkto Wissen noch stark an zentralisierten Datenbanken. Studenten, die den Beruf erlernen, beschaffen sich Informationen dagegen über Netzwerke. Als Verband gilt es eine Digitalisierungs-Kultur und zukunftsträchtige Geschäftsmodellen aufzubauen und zu sichern.

Das Bild des Apothekers ist eher traditionell. Wie digital sind die Apotheken heute im Alltag?

Die Digitalisierung hat mit der Automatisierung einen grossen Schritt gemacht. Es gibt kaum noch Apotheken, die keinen Roboter zur Lagerverwaltung haben. In netCare Apotheken verbinden wir die Beratungen in der Apotheke mit dem Angebot einer Telekonsultation mit einem Arzt. Der nächste Schritt ist, dass man Touchscreens und interaktive Beratungstools in der Apotheke einsetzt. Auch die Gamification des Einkaufs kommt aktuell. Wir müssen auch unsere Läden an die digitale Welt anpassen. Es genügt eben nicht, in jede Apotheke ein Display zu stellen. Mehr Einsatz braucht es im digitalen Kontakt mit unseren Kunden und Partnern.

Wie haben Sie das in Ihrer eigenen Apotheke umgesetzt?

Wir haben einfach die Theke eliminiert. Der Kunde weiss heute, wie er sich im Laden orientiert. Er braucht keinen Zerschellpunkt zum hinlaufen. Das klassische Bild ändert sich, aber der Apotheker als Vertrauensperson - vielleicht auch im weissen Schurz - wird bleiben.

Wo liegen die grössten Herausforderungen für die Digitalisierung der Apotheken?

In der inter-professionellen Vernetzung. Die aktuellen Tarife in der ambulanten Versorgung bedienen Silos. Arzt und Apotheker verdienen nur, wenn sie selbst etwas mit dem Patienten machen. Wenn sie sich untereinander vernetzen und austauschen, bekommen sie nichts. Das hat zu einem sehr geringen Vernetzungsgrad geführt. Man ist miteinander in Kontakt, aber immer nur fallspezifisch. Patient, Pflege, Apotheker und Arzt, alle profitieren, wenn wir inter-professionell nützliche Vernetzungskonzepte, wie beispielsweise die Medikationsliste, erarbeiten und national realisieren. .

Inwiefern sind Technologien wie Virtual Reality, das Internet der Dinge oder Blockchain für die Apotheken ein Thema?

Die sind ein grosses Thema. In meiner Apotheke zum Beispiel habe mit iHealthy eine Plattform, die von der Blutdruckmessung über die Waage bis hin zum Blutzuckergerät verschiedene Geräte per Bluetooth und App verbindet. Eine Möglichkeit wird in naher Zukunft auch die virtuelle Hausapotheke sein, die von der Apotheke gemanaged wird. Der Kunde wird dann nur noch wenige Medikamente zuhause haben. Wenn diese verbraucht sind, weiss der Apotheker, dass neue geliefert werden müssen. Der Kunde muss nicht mehr 100er-Packungen kaufen und sich um Verfallsdaten oder Haltbarkeit kümmern. Solche Medikamenten-Management-Systeme sehe ich in naher Zukunft kommen.

Was bietet die Blockchain dem Gesundheitswesen?

Blockchain ist in erster Linie eine Technologie, die Sicherheit verspricht. Das ist im Bereich des persönlichen Gesundheitsdossiers denkbar. Zum Beispiel könnte man den Zugriff auf Daten über eine Blockchain realisieren.

Und Virtual Reality?

Ich könnte mir vorstellen, das VR in Diagnose-Apps zum Einsatz kommt. Heute muss ein Patient bei vielen Diagnose-Tools oft selbst seine Symptome und Daten eingeben. In Zukunft wird er mit VR-Hilfsmitteln zeigen können, wo und wie stark er Schmerzen hat. Solche Tools werden vieles vereinfachen. Sie werden Entscheidungen unterstützen, eine Empfehlung abgeben können und aufzeigen ob eine Lösung direkt in der Apotheke gefunden werden kann.

Apotheken sind oftmals der erste Kontaktpunkt der Menschen mit der Medizin. Welche Wünsche in punkto E-Health gibt es an der Front?

Der grösste Wunsch ist die Interaktivität mit dem Kunden. Beispielsweise bei der Bestellung und Abholung von Medikamenten. Hier können wir uns hinsichtlich Vertraulichkeit, Sicherheit und Verbindlichkeit verbessern. Der zweite Punkt ist das Management der Medikation. Sobald jemand mehr als drei Medikamente nehmen muss, macht es für den Patienten Sinn, zusammen mit dem elektronischen Rezept den ganzen Prozess effizienter und einfacher online zu gestalten. Von der Erinnerung der Einnahme der Medikamente bis zur automatischen Nachbestellung, Ebenfalls auf viel Anklang stösst der elektronische Impfausweis. Und dann gibt es noch den Wunsch nach mehr Austausch, sowohl zwischen Fachperson und Patient, wie auch zwischen den Fachpersonen untereinander. Verständlicherweise wollen viele Patienten heute nicht mehr die gleichen Informationen an verschiedene Leistungserbringer immer wieder angeben müssen.

Was wünscht sich der Apotheker von der Digitalisierung?

Für die Apotheker besteht ein Riesenpotenzial darin, dass sie viele Daten erzeugen, mit denen sie ihre Dienstleistungen optimieren können. Das EPD ist interessant, da es viel mehr Daten enthalten wird, als Apotheker bis jetzt hatten. Die Frage ist, inwiefern Apotheken bereit sind, diese Daten auch anderen Leistungserbringern zur Verfügung zu stellen, damit sie damit arbeiten können.

Digitalisierung und Digitale Transformation werden oft in einen Topf geworfen. Aber beim Letzteren werden ganze Geschäftsmodelle umgekrempelt. Wo stehen die Apotheken in dieser Hinsicht?

Das ist wie überall eine sehr ambivalente Sache. Einerseits bedroht die digitale Transformation bestehende Prozesse, Gewohnheiten und Einkommen. Wir spüren, dass eine Disruption in die Branche einbricht. Neben Ohnmachtsgefühlen schenkt uns die Digitalisierung auch grosse Chancen. In diesem Spektrum oszillieren unsere Mitglieder. Sie sehen, dass sie ihre Geschäftsmodelle ändern müssen. Apotheker bringen im Vergleich zu anderen Akteuren des Gesundheitswesens einen stärkeren Kundenfokus mit. Wir sagen immer: Der Arzt macht den Patient. Bei uns ist er immer noch Kunde. Diese kompromisslose Ausrichtung auf den Kundennutzen ist eine gute Einstellung, um Mehrwerte der Digitalisierung zu erkennen und zu nutzen. Das motiviert, sich auf die Transformation einzulassen.

Kassenlose Läden, Einkaufen per App, Lieferungen nach Hause - Amazon macht vor, wie der Handel in Zukunft aussehen könnte. Wann kann ein Schweizer Apotheker das?

Der Medikamentenmarkt ist ein spezieller Markt, kein normaler Konsumgütermarkt. Die Gefahr, im Medikamentenbereich Schaden zu nehmen ist sehr gross, deshalb gibt es hier auch spezielle Regulatorien. Ausserdem ist im Bereich der Gesundheit das Bedürfnis nach persönlichem Austausch, Sicherheit und Vertrauen grösser als in vielen anderen Märkten. Klar, was Sie schildern ist ein Fakt. Amazon bringt im Omnichannel-Bereich und bei der Logistik sehr viel Erfahrung mit. Die Zukunft gehört aber auch der Personalisierung und dem Beziehungsmanagement, nicht nur der Effizienzsteigerung im Onlinehandel. Die Kunst besteht darin, beides zu verbinden. Nicht Amazon oder die kleine Apotheke werden das Rennen machen, sondern der Kunde wählt, wo er was kauft. Als Smart-Shopper bevorzugt er in gewissen Situationen den Onlinehandel, in anderen den lokalen Laden.

Inwiefern ist es für Sie eine Bedrohung oder eine Chance, wenn immer mehr Menschen ihre Medikamente online kaufen?

Online-Handel ist eine Realität. Der Kunde ist mündig und entscheidet, wo er kauft. Für den Apotheker heisst das, sich weniger als Distributor und mehr als Anbieter von Lösungen zu verstehen. Als Manager, der die passende Lösung für den Kunden findet, ihm einen Mehrwert bietet und auch Alternativen aufzeigt. Wir müssen uns zum persönlichen Gesundheits-Coach wandeln und individuelle Kundenwünsche bedienen, vielleicht auch wieder vermehrt selbst Medikamente herstellen. Das Versprechen der Apotheke wird nicht mehr so einheitlich sein. Das wollen wir unseren Mitgliedern vermitteln und auch der Bevölkerung verständlich machen. Hier kann eine übergreifende Plattform lenkend wirken.

Zu Gesundheits-Coaches werden, Patienten beraten und betreuen – das klingt als wollten Sie vieles machen, was heute der Hausarzt macht.

Da geht es letztlich um die Transformation des ganzen Gesundheitswesens. Die Rolle des Hausarztes wird sich ändern, weil sich die Rollen von allen Akteuren im Gesundheitswesen ändern. Für uns ist der Hausarzt nach wie vor der wichtigste Partner neben der Pflege. Apotheker wollen beide auf diese Reise mitnehmen. Aber den Hausarzt als Einzelkämpfer wird es nicht mehr geben. Stattdessen wird es noch mehr Gemeinschaftspraxen geben, mit denen wir zusammenarbeiten.

Welche Rolle wird der Arzt in Zukunft spielen?

Die verfügbaren privaten finanziellen Mittel für Gesundheit ist begrenzt. Das heisst, der Arzt wird sehr viel präziser und punktueller agieren und so manches delegieren müssen. Darüber sprechen wir mit den Ärzten. Auch sie empfinden die Disruption ihres Berufsstandes als Bedrohung und Chance gleichermassen. Wir sehen die Hausärzte als Case Manager, die als Begleiter ein wichtiger Teil in der digitalen Coaching-Welt sind. Sie sind immer da, wenn es eine Krise gibt. Damit das besser klappt, brauchen wir verbindliche Protokolle und Prozesse. Diesen Dialog führen wir weiterhin fort.

Apotheken wollen digitalisieren aber die Hausärzte treten oft auf die Bremse. Wie wollen Sie diese Partner motivieren, mehr zu machen?

Die Hausärzte kommen mit auf die digitale Reise, wenn sie einen Nutzen erleben. Das heisst, entweder mehr Effizienz bei gleichem Einkommen oder zusätzliches Einkommen durch neue Geschäftsmodelle. Dort liegen die Knacknüsse auf der Strecke. Deshalb verhandelt pharmaSuisse auch mit Versicherungen das Entgelt der Leistungserbringer Wird der Arzt weiterhin nur über den Patientenkontakt entschädigt, werden sich die Bremse sich kaum lösen . Der Arzt muss der Qualitätsgarant für den Gesamtprozess bleiben und dafür ein Coaching-Entgelt pro Patient erhalten, dies auch wenn er an einen Apotheker delegiert. Wir müssen weg von der Silo- und Personenzentrierten Entgeltung. So kann der Apotheker dem Arzt Mehrwerte bieten und umgekehrt

Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen explodieren. Digitalisierung wird als Gegenmittel gehandelt. Ist das ein frommer Wunsch oder realistisch?

Digitalisierung an sich ist noch kein Wert – sie erzeugt primär Kosten. Aber Wertschöpfung wird möglich, wenn man Daten auswertet oder miteinander teilt. Grosse initiale Infrastrukturprojekte verschlingen enormen Investitionskosten, die die Erlöse aus Services kurzfristig nicht decken können. Langfristig jedoch erhoffen sich Investoren lohnende Netzwerk-Effekte. Im Rahmen des EPD bleibt die Frage offen: Wer beteiligt sich an den notwendigen Investitionen und den damit verbundenen Risiken?

Was würden Sie beim Thema E-Health gerne machen, dürfen es aber nicht?

Das Allerwichtigste im Rahmen des EPD sind die Zusatzdienstleistungen, die gesetzlich nicht geregelt sind. Damit fehlen übergreifende Standards, die aufwändig erarbeitet werden müssen, um mehr Investitionssicherheit für den Unternehmer zu bieten. Zweitens muss die doppelte Freiwilligkeit fallen.

Wie sieht die digitale Apotheke der Zukunft aus?

Wir haben zum 175-jährigen Jubiläum von pharmaSuisse einen Ladengestaltungswettbewerb zu diesem Thema veranstaltet. Neben digitalisierten, dezentralisierten Vorschlägen war ein deutlicher Trend hin zu Personalisierung und Konzentration erkennbar. Das ging so weit, dass die Apotheke als sakraler Ort vorgestellt wurde, der in einem hochurbanen Umfeld der einzige Ort wäre, wo ich mich mit dem allerwichtigsten Gut – meiner Gesundheit – auseinandersetzen kann. Dieser Student inszenierte die Apotheke als Kloster, wo der Apotheker es einem Mönch gleich tut, völlig fokussiert handelt und daher nur geflüstert werden darf. Einfach um das Moment der Interaktion zu überhöhen. Es hat mich völlig erstaunt, wie in der digitalisierten Welt die Bedeutung der persönlichen Beziehung und des Sicherheitsaspekts wieder zu zunehmen scheint. Für uns heisst das: Die Apotheken müssen das, was sie bisher konnten, noch besser machen. Demgegenüber wirkt die ganze Logistik weniger wichtig – sie ist blosse Voraussetzung.

Das klingt sehr fantastisch, mit was können wir in 5 bis 10 Jahren realistischer Weise rechnen?

Wenn wir konsequent auf den Kunden fokussieren, werden sich Apotheken voneinander deutlich unterscheiden. Die digitale Interaktion, die wir bei Migros oder Coop sehen, wird sich auch in der Apotheke abbilden. Der Apotheker wird dank digitaler Tools schon beim Eintreten des Kunden wissen, was sein Anliegen und seine Bedürfnisse sind. Durch stärkere Betreuung wird es der Kunde bequemer neue Produkte und Dienstleistungen entdecken und schätzen lernen. Die klassische Apotheke vor Ort wird durch digitale und interaktive Hilfsmittel ergänzt. Das werden wir bald erleben. All das wird für unsere Kunden und die Pflege Erleichterungen und Qualitätsverbesserungen bringen – und das ist gut so.

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