Julia Vogt im Interview

Eine ETH-Forscherin erklärt, was KI den Ärzten bringt

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Julia Vogt entwickelt neue Formen des maschinellen Lernens, die für klinische Datenanalysen und Präzisionsmedizin zum Einsatz kommen. Im Interview spricht sie über die Chancen und Tücken ihres Forschungsgebiets sowie darüber, warum der Begriff "personalisierte Medizin" mitunter falsche Hoffnungen weckt.

(Source: Copyright: Giulia Marthaler)
(Source: Copyright: Giulia Marthaler)

Was verstehen Sie unter personalisierter Medizin?

Julia Vogt: Personalisierte Medizin, auch Präzisionsmedizin genannt, bezeichnet die Anpassung der medizinischen Behandlung an die individuellen Merkmale eines Patienten. Konkret versteht man darunter die Fähigkeit, Personen anhand ihrer Eigenschaften in Untergruppen einzuteilen. Die Patienten in den jeweiligen Untergruppen können sich auf verschiedene Weisen unterscheiden, zum Beispiel in ihrer Anfälligkeit für eine bestimmte Krankheit, in der Prognose einer Krankheit, im Krankheitsverlauf oder in der Reaktion auf eine bestimmte Behandlung. Vorbeugende oder therapeutische Massnahmen werden dann individuell auf jene Patienten konzentriert, die davon profitieren. So bleiben den Personen, die aufgrund ihrer Genetik oder Lebensumstände nicht von einer bestimmten Behandlung profitieren, Nebenwirkungen erspart.

Der Begriff weckt viele Hoffnungen. Welche davon sind falsch?

Der Begriff «personalisierte Medizin» wird gerne falsch interpretiert, da er möglicherweise suggeriert, dass für jeden Einzelnen individuelle Behandlungen entworfen werden können. Personalisierte Medizin bedeutet aber nicht wörtlich die Neuerfindung von Medikamenten oder medizinischen Geräten für einen einzigen Patienten, weshalb meist der Begriff «Präzisionsmedizin» bevorzugt verwendet wird. Die Idee der Präzisionsmedizin besteht darin, alle verfügbaren Informationen zu nutzen, um Patienten auf personalisierte Weise zu behandeln. Sie bricht mit der Annahme, dass alle Patienten mit dem gleichen Krankheitsbild automatisch mit der gleichen Therapie behandelt werden sollen.

Wo sehen Sie die grössten Chancen der Präzisionsmedizin?

Allgemein sehe ich in der Präzisionsmedizin eine grosse Chance, Patienten eine bessere Heilung zu ermöglichen. Bei einer optimalen Behandlung werden Nebenwirkungen verhindert und Ärzte bei der Medikamentenwahl und der Bestimmung der optimalen Dosis unterstützt. Die Effizienz der Behandlung von Krankheiten steigt. Bei gewissen Patienten kann abgeschätzt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass sie eine bestimmte Krankheit entwickeln werden. Dies kann dabei helfen, Krankheiten sehr früh gezielt zu behandeln oder präventive Massnahmen zu ergreifen, was wiederum zu besseren Prognosen führt.

Wie verändert die Präzisionsmedizin die Sicht auf den Patienten?

Präzisionsmedizin hängt in hohem Masse von einer individuellen Kontextualisierung der für den einzelnen Patienten verfügbaren Daten ab. Das Aufkommen von modernen Techniken wie Hochdurchsatz-Sequenzierung, Proteomik, Metabolomik oder hochauflösende Mikroskopie ermöglicht eine sehr differenzierte Betrachtung des Patienten aus systemischer Sicht. Da diese Techniken immer mehr Teil der Standardpraxis werden, wird in Krankenhäusern eine Fülle von heterogenen Daten gesammelt. Diese Informationsfülle zu jedem Einzelfall macht es möglich, Patienten in immer differenziertere Untergruppen einzuteilen und entsprechend ihrer in dem Sinne personalisierten Bedürfnisse zu behandeln.

Eines Ihrer Forschungsgebiete befasst sich mit therapeutischen Entscheidungshilfen für Ärzte. Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Beispiel aus meinem Forschungsgebiet ist die personalisierte Vorhersage in der Neugeborenenmedizin mithilfe von maschinellem Lernen. Eine der häufigsten Erkrankungen bei Neugeborenen ist die Neugeborenengelbsucht. Zum Glück verläuft sie meist harmlos. Unerkannt und unbehandelt kann sie jedoch zu lebenslangen Beeinträchtigungen führen. In einem Projekt zusammen mit dem Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) haben wir uns deshalb zum Ziel gesetzt, ein Computermodell zu entwickeln, das sehr früh eine individuelle Vorhersage für eine therapiebedürftige Neugeborenengelbsucht treffen kann. In einer Beobachtungsstudie am UKBB mit wiederholten Blutmessungen des gelben Blutfarbstoffs Bilirubin von vielen hundert Neugeborenen haben wir aus einer Vielzahl klinischer und laborchemischer Parameter die Schlüsselfaktoren ermittelt, die für die Vorhersage einer therapiebedürftigen Erkrankung notwendig sind.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Um die Vorhersagetechnik in der Klinik anwendbar zu machen, entwickelten wir eine Webapplikation mit einfacher Handhabung. Die frühe individuelle Vorhersage einer therapiebedürftigen Neugeborenengelbsucht ist damit mit einer sehr hohen Zuverlässigkeit möglich. Diese mithilfe von maschinellem Lernen neu entwickelte medizinische Entscheidungshilfe hat das Potenzial, die Patientensicherheit von Neugeborenen zu erhöhen, unnötige Untersuchungen zu vermeiden und die Therapie- und Patientenverweildauer zu optimieren. So kann eine verfrühte Entlassung aus dem Spital verhindert und gegebenenfalls die nötige Therapie veranlasst werden. Das Tool ist zudem so konzipiert, dass der Aufwand für das behandelnde Gesundheitspersonal minimal ist – ein wichtiger Faktor für den klinischen Alltag.

Für die medizinische Forschung ist es gemäss ETH-Professor Ernst Hafen schwierig, an relevante Patientendaten zu gelangen. Machine Learning ist jedoch auf hochwertige Trainingsdaten angewiesen. Wie kommen Sie an genügend Daten heran?

Hochwertige Trainingsdaten sind natürlich enorm wichtig. Im Gebiet der Medizininformatik sind fachübergreifende Kollaborationen essenziell, und in meiner Forschung stütze ich mich derzeit auf die Kombination aus starken nationalen und internationalen Kollaborationen mit klinischen Partnern sowie Open-Access-Daten. Forschende im Bereich des maschinellen Lernens generieren mathematische Modelle, die effizient mit gros­sen und heterogenen Daten umgehen können. Unsere klinischen Partner hingegen generieren hochwertige Daten und verfügen über medizinisches Fachwissen. Durch diese fachübergreifende Zusammenarbeit entsteht eine gut funktionierende, natürliche Symbiose. Ich hatte in den letzten Jahren das grosse Glück, mir ein sehr gutes Netzwerk an klinischen Partnern aufbauen zu können. So erhalte ich hochwertige Trainingsdaten und gleichzeitig auch die notwendige klinische Fragestellung und Unterstützung bei der medizinischen Interpretation der Ergebnisse. Zudem gibt es mittlerweile für bestimmte Szenarien sehr grosse öffentlich zugängliche Datensätze, an denen wir unsere Modelle zusätzlich testen und validieren können.

Trotzdem bleibt der Zugang zu Trainingsdaten für die Grundlagenforschung ein Problem. Was kann man dagegen tun?

Ideal für Forschende im Bereich Data Science und Machine Learning wäre eine grosse, schweizweite Datenbank, die für Forschungszwecke zugänglich ist. Das Swiss Personal Health Network, das die fünf universitären Spitäler der Schweiz mit den damit verbundenen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen in der Schweiz verknüpft, ist ein grosser Hoffnungsträger für die Schweizer Forschenden im Bereich medizinischer Daten.

Viele Machine-Learning-Anwendungen kranken daran, dass verzerrte Trainingsdaten zu verzerrten Ergebnissen führen. Wie verhindern Sie das?

Um die Validität der Ergebnisse sicherzustellen, ist es wichtig, die Daten sorgfältig aufzubereiten. Dies ermöglicht das Erkennen von Verzerrungen in den Daten. Falls wir Verzerrungen feststellen, versuchen wir, diese gezielt zu entzerren, beispielsweise durch Hinzunahme von weiteren Patientendaten aus anderen Krankenhäusern, anderen Ländern oder verschiedenen Altersgruppen. Wenn die aktuelle Datenlage dies nicht zulässt, müssen prospektiv weitere Daten gesammelt werden.

Wenn von maschinellem Lernen gesprochen wird, fällt oftmals die Metapher der Black Box. Dann heisst es etwa: Die Entscheidungen von Algorithmen sind nicht nachvollziehbar. Was halten Sie von solchen Aussagen?

Vor allem im medizinischen Bereich, in dem es um das Wohl­ergehen von Menschen geht, ist es wichtig, dass die Methoden, die wir entwickeln, nachvollziehbar und interpretierbar sind. Ohne das Vertrauen der Ärzte in unsere Methoden werden neue Modelle nicht in der klinischen Praxis genutzt werden. Algorithmen verarbeiten eine enorm grosse Menge an unterschiedlichen Daten und erkennen dabei wichtige Merkmale schneller, als dies ein einzelner Mensch je könnte. Das ist für viele erst einmal schwer nachvollziehbar. Allerdings trifft die Annahme, je komplexer ein Modell, desto besser die Vorhersage, oft nicht zu: Vor allem bei strukturierten Daten liefern einfachere, interpretierbare Modelle oft sogar bessere Ergebnisse als komplexe Black-Box-Modelle.

Haben Sie sich schon überlegt, aus Ihrer Forschung ein Spin-off zu machen?

Es gibt die Idee für ein Spin-off, das die Entwicklung von medizinischer Software unterstützt.

Können Sie schon Details verraten, etwa zu den Zielen oder zu etwaigen Partnerschaften?

Die Methoden basieren auf Algorithmen des maschinellen Lernens, und die Software soll Mediziner vor Ort dabei unterstützen, die richtige klinische Entscheidung zu treffen. Wir konzentrieren uns auf die Neonatologie, insbesondere auf Krankheiten mit schweren medizinischen Folgen, und auf Krankheiten mit einem schwer vorhersehbaren klinischen Verlauf.

Wenn Sie an die Zukunft des maschinellen Lernens denken: Was bereitet Ihnen Sorgen?

Die Erwartungshaltung an die Ergebnisse des maschinellen Lernens ist sehr hoch, jedoch ist maschinelles Lernen keine Magie. Im Kontrast dazu steht das grosse Misstrauen oder die Angst vor potenziellen negativen Folgen von maschinellem Lernen. Beide Haltungen sind hinderlich für die bestmögliche Nutzung des optimalen Zusammenspiels von menschlichem und maschinellem Lernen. Da die Anwendung des maschinellen Lernens im Gesundheitswesen noch in den Kinderschuhen steckt, gibt es Aspekte – zum Beispiel in den Bereichen Datenschutz, Ethik und auch Haftung –, die noch geklärt und sorgfältig aufgegleist werden müssen. Um neue Methoden des maschinellen Lernens in den Alltag der Gesundheitsbranche zu integrieren, müssen diese Problematiken zuerst gelöst ­werden.

Und was gibt Ihnen Hoffnung?

Maschinelles Lernen treibt die Innovation in der Gesundheitsdiagnostik voran und bietet viel Raum für neue Anwendungen, die bessere Aussicht auf Behandlungserfolg bis hin zur Entdeckung neuer Behandlungen und neuer Medikamente versprechen. Dank automatisierter Prozesse könnte es Ärzten künftig möglich sein, wieder mehr Zeit für ihre Patienten aufzuwenden – ein wichtiger Aspekt in der Patientenbehandlung. Mit realistischen Erwartungen sind die Effizienzsteigerung und die Kostensenkung in täglichen Prozessen, der Diagnostik und der Behandlung Bereiche, in denen das Potenzial von maschinellem Lernen voll ausgeschöpft werden kann – alles im Sinne einer besseren Patientenversorgung. Es besteht also Grund zur Hoffnung, dass maschinelles Lernen einen grossen Beitrag zur besseren Patientenversorgung leisten wird und ich freue mich, mit meiner Forschung einen Teil zu dieser positiven Entwicklung beitragen zu dürfen.

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