Interview mit Erich Seifritz, Universitätsklinik Zürich

Deshalb eignet sich Telemedizin für die Anwendung in der Psychiatrie

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Die Coronapandemie hat die Nutzung von Videokonferenzen verstärkt. Telemedizin eignet sich hervorragend auch in der Psychiatrie und Psychologie. Dennoch gibt es einige Hindernisse, sagt Erich Seifritz, Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Erich Seifritz, Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. (Source: © Daniel Ammann, all rights reserved)
Erich Seifritz, Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. (Source: © Daniel Ammann, all rights reserved)

Braucht es für eine erfolgreiche Behandlung im ­Bereich der Psychiatrie und Psychologie zwingend die physische Nähe?

Erich Seifritz: Nein, nicht zwingend. Die wissenschaftliche Evidenz für fernmündliche und digitalisierte automatisierte Behandlungen ist eindeutig, insbesondere für Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Für Erkrankungen wie Psychosen existieren weniger Studien.

Was ist entscheidend für den Erfolg?

Wichtig beim Einsatz von Telemedizin in der psychiatrisch-­psychotherapeutischen Praxis ist die Anpassung der Therapie an die individuellen Bedürfnisse des Patienten und seiner Krankheit beziehungsweise Möglichkeiten. Videokommunika­tion erlaubt im Vergleich zu Präsenzbehandlung ganz neue und wahrscheinlich wirksame Therapiesettings, insbesondere aufgrund des Wegfalls der Reisezeit. Damit sind beispielsweise häufigere, aber kürzere Therapieelemente möglich, was viele Vorteile haben kann. Praxisbesuche sind während der Covid-19-Pandemie durch die Beschränkungen und das Ansteckungsrisiko schwieriger geworden. Für die Psychiatrie besonders einschränkend hat sich das Maskentragen im direkten Gespräch erwiesen, was in der Telepsychiatrie wegfällt. Leider hat sich aber die Telemedizin bisher nicht durchgesetzt.

Warum?

Das therapeutische und diagnostische Telefongespräch ist im Tarmed limitiert auf 20 Minuten pro Behandlung, sodass telefonische Konsultationen nur in ausgewählten Situationen sinnvoll sind. Videotelefonie ist als fernmündliches Behandlungssetting im Tarmed gar nicht abgebildet, hier handelt es sich formal gesehen um eine rechtsunsichere Situation. Und überhaupt nicht verrechenbar sind Internet- und Computerprogramm-basierte Therapieverfahren. Diese werden daher in der praktischen Arbeit ambulant kaum eingesetzt. Trotz guter Erfahrungen im Rahmen der kurzfristigen Auflösung der zeitlichen Limiten durch das BAG während der Pandemie 2020 hat der therapeutische Einsatz wieder abgenommen.

Was braucht es, damit sich Telepsychiatrie und -psychotherapie durchsetzen könnten?

Datensichere Videokommunikationssysteme sind elementar, um das Vertrauen von Patienten und Therapeuten nachhaltig sicherzustellen. Auch ist zentral, dass in Tarmed und Folge­tarifsystemen dieses Behandlungssetting abgebildet wird. Stand heute: Auch Tardoc würde dieser Anforderung keineswegs gerecht und verhindert die notwendige Entwicklung moderner Kommunikations- und Therapiesettings. Das ist bedauerlich, weil damit wichtige Versorgungsanforderungen besser erfüllt werden könnten, etwa die Versorgung in Gebieten mit weniger guter psychiatrisch-psychotherapeutischer Abdeckung. Es ist längst überfällig, dass in der Schweiz die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, dass digitale Internet- und Computer-basierte Therapieprogramme abrechenbar werden.

Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen einer physischen und einer digitalen Sitzung?

Vorteile von fernmündlichen Behandlungen liegen in der Niederschwelligkeit durch Wegfall von Reisezeit, damit sind Therapien auch besser in den Arbeitsalltag integrierbar. Digitalisierte Therapieverfahren sind zudem kosteneffizient, mit gleichem zeitlichen und somit finanziellen Aufwand ist eine höhere Therapiedichte erreichbar. Gewisse Patienten empfinden das Videoformat auch als persönlicher, da sich Therapeutin und Patientin direkter aufeinander konzentrieren. Hinderungsgründe liegen in der Befürchtung mangelnder Datensicherheit und Handling der Technologie – hier braucht es bessere für die Medizin beziehungsweise die Psychiatrie geeignete Systeme. Die Zukunft liegt im Einsatz von sogenannten «blended» Therapieverfahren. Diese kombinieren persönliche Interventionen mit autonom durch den Patienten durchgeführte Behandlungselemente.

Sie sehen also ein grosses Potenzial?

Absolut. Generell sollte Telemedizin in der gesamten Medizin vermehrt angewandt werden. Neben Videokommunikation setzen wir an der PUK immer häufiger auch telemedizinische Verfahren für die Diagnostik im Bereich de Inneren Medizin ein (Temperatur, Blutdruck, EKG, Spiegelungen etc.), insbesondere für unser Hometreatment und in abgelegenen Standorten. Für die eigentliche Therapie eignet sich natürlich die Psychiatrie-Psychotherapie hervorragend, weil ein Grossteil der Behandlung auf dem Gespräch basiert. Auch eignet sich die Psychiatrie-Psychotherapie sehr gut für den Einsatz von algorithmusgesteuerten Internet- und Computer-basierten Therapiever­fahren. Eine Forschungsgruppe der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der PUK, unter Federführung von Professorin Birgit Kleim und mir, ist in Zusammenarbeit mit der ETH an der Entwicklung von solchen Systemen. Im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie werden bereits heute App-basierte Tools eingesetzt.

Die Mischung aus Patientendaten, dem Videogespräch und der physischen Sitzung macht also künftig den Therapieerfolg aus?

Richtig, exakt angepasst an das individuelle Bedürfnis des ­Patienten. Das ist genau die Richtung, in die sich die digitalen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten in Medizin und insbesondere Psychiatrie-Psychotherapie entwickeln sollten.

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Garif Yalak

Kommentar: Vertrauensvolle Umgebung

Es ist bedauerlich, dass die Rahmenbedingungen in der Schweiz für die Telemedizin in der Allgemeinmedizin und die Psychiatrie-Psychotherapie im Speziellen noch so schlecht sind. Länder wie Frankreich, Grossbritannien, die USA, China und Australien sind viel weiter, fördern und vergüten die aktive Anwendung und nutzen sie zur Stärkung der mentalen Gesundheit; die Mayo Clinic beispielsweise verzeichnete als grösstes US-Gesundheitsinstitut von Mitte März bis Mitte April 2020 eine Zunahme der Videotermine bei Patienten zuhause um 10 880 Prozent.

Das Bedürfnis und ein Mehrwert wären auch in der Schweiz vorhanden, das zeigen die Erfahrungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Professor Erich Seifritz bestätigt es im Interview. Viel mehr als das: Sitzungen mit Patientinnen und Patienten könnten zielgerichtet und bedürfnisgerecht durchgeführt, neue Therapieformen gefunden werden, beispielsweise in Kombination mit Livedaten und mit einer Mischung aus Präsenz und digitalem Dialog.

Darüber hinaus reduziert die Anwendung von Telemedizin den Aufwand, die Kosten und die Hemmschwelle, sich schnell und unkompliziert Hilfe zu holen – die notwendige Datensicherheit natürlich immer vorausgesetzt. Eine vertrauensvolle Umgebung ist die Grundlage für den Erfolg. Cisco Webex etwa beherrscht die End-to-End-Verschlüsselung und ist bereits in hunderten von Kliniken im Einsatz. Sie ist HIPAA-compliant, ein US-Gesetz, das Sicherheit, Datenschutz und Zugriffsrechte von Patientendaten regelt. Zudem entspricht Webex mit der Wahl des Datenstandorts Europa dem strengen EU-Datenschutz, den die Schweiz gerade erst schrittweise nachvollzieht.

Es gibt viele Anwendungsmöglichkeiten. In einer Universität können Studentinnen und Studenten eine kurze Therapie­sitzung gegen den Covid-Stress buchen. In Kanada haben sich erste Praxen auf Onlinetherapien spezialisiert. Sie haben ­erkannt: Moderne Videokommunikation ermöglicht Gespräche in höchster Bild- und Tonqualität, die auch im Nachhinein ­bequem analysiert werden könnten. Zudem stehen mit der Integration weiterer Daten und Funktionen ganz neue und ­effektivere – damit auch kostengünstigere – Therapien offen.

Garif Yalak ist Head of Digital Transformation für das Bildungs-/ Gesundheitswesen & Governance in der Country Digital Acceleration Initiative für die Schweiz bei Cisco. Er hat einen B.Sc. in Bioinformatik, einen M.Sc. in Biomedizin aus Deutschland und einen Ph.D. der ETH Zürich in beiden Disziplinen. Er war mehr als 10 Jahre in der Gesundheitsforschung in Deutschland, den USA und der Schweiz tätig.

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