Pierre-François Regamey im Interview

"Beim elektronischen Patientendossier geht es um mehr als ein Informatik-Tool"

Uhr | Aktualisiert
von Rodolphe Koller

Unter dem Druck neuer Gesetze und der Notwendigkeit, Effizienz und Pflegequalität zu verbessern, erleben Spitäler derzeit eine digitale Revolution. Wie das Universitätsspital Lausanne (CHUV) damit umgeht, hat Pierre-François Regamey, Leiter für Informationssysteme, im Interview mit der Netzwoche erläutert.

Pierre-François Regamey, Leiter für Informationssysteme des Unispitals Lausanne.
Pierre-François Regamey, Leiter für Informationssysteme des Unispitals Lausanne.

Herr Regamey, die Spitäler erleben derzeit eine digitale Revolution. Wo liegen die Hauptursachen für den fundamentalen Wandel?

Es sind hauptsächlich zwei Faktoren, die zu diesem Wandel geführt haben. Zunächst einmal ist dies E-Health. Es besteht heute eine Notwendigkeit, klinische Daten auszutauschen, um die Qualität und die Kontinuität der Pflege zu verbessern. In anderen Branchen ist es im Gegensatz zu den Spitälern schon längst üblich, dass mit Kundendaten bereichsübergreifend gearbeitet wird. Zweitens gibt es neue Verordnungen, die zu mehr Wettbewerb und damit zu einem höheren Kostendruck führen. Die Erstellung eines elektronischen Patientendossiers trägt diesen beiden Entwicklungen Rechnung.

Wie sehen diese neuen gesetzlichen Einschränkungen aus?

Ab 2012, sobald die neue Version des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) in Kraft treten wird, subventioniert der Staat auch private Einrichtungen. Andererseits kommt es zu einer Verallgemeinerung der Pauschaltarifierung (Swiss-DRG). So wird dem Spital beispielsweise derselbe festgelegte Betrag für die Behandlung einer Blinddarmentzündung gezahlt, egal ob der Patient einen oder fünf Tage im Spital verbracht hat. Diese beiden Faktoren werden auf jeden Fall zu verstärktem Wettbewerb führen.

Es geht also darum, die Effizienz zu steigern?

Ja. Die Betreuung muss optimiert werden. Dabei ist die Dauer des Spitalaufenthalts ein Schlüsselelement. Wenn das Spital Patienten in kürzerer Zeit bei gleicher Pflegequalität behandelt, ist es effizienter. Um dies zu erreichen, muss vor allem die Verweilzeit verkürzt werden. Wenn der Patient auf eine Kernspintomographie oder eine andere technische Leistung warten muss, ist dies verlorene Zeit. Eines der Ziele des Patientendossiers ist es, diese Verweilzeiten zu verkürzen und sie gleichzeitig zu überwachen und zu kontrollieren. Aus diesem Grund haben wir uns für ein modernes Patientendossier entschieden, mit dem wir die Workflows verwalten können. Ich bin zudem der Meinung, dass auch die Pflegequalität verbessert wird, wenn die Verweilzeiten verkürzt werden.

Warum sollte dies eine positive Auswirkung auf die Pflegequalität haben?

Gemeinsam mit der Generaldirektion des CHUV haben wir vor kurzem das Universitätsspital in Hamburg besucht. Dieses hat komplett auf elektronische Patientendossiers umgestellt und verwendet die Soarian-Lösung von Siemens, die auch wir gewählt haben. Deren medizinischer Leiter hat uns erläutert, dass im Rahmen der Umstellung der Tarifierung das elektronische Patientendossier besonders für komplizierte Fälle vorteilhaft ist, die durch mehrere Spitalabteilungen gehen. Als Universitätsspital verfügen wir ja über hochspezialisierte Ärzte in verschiedenen Bereichen. Zu unseren Stärken gehört es, hochwertige Leistungen in mehreren Disziplinen anzubieten. Der Datenaustausch zwischen den Teams muss deshalb unbedingt vereinfacht werden. Dies ermöglicht das elektronische Patientendossier. Diese Trumpfkarte hat die Generaldirektion des CHUV komplett überzeugt. Sie hat verstanden, dass es bei dieser Herausforderung um mehr als ein einfaches Informatik-Tool geht.

Auf welchem Standard beruht das Patientendossier?

Es gibt derzeit keinen einheitlichen, anerkannten Standard für die klinische Nomenklatur. In der Schweiz ist die Landesregierung nicht ermächtigt, einen nationalen Standard durchzusetzen. Deshalb ist die Entwicklung in den einzelnen Kantonen sehr unterschiedlich. Meiner Meinung nach wird es deshalb wohl noch fünf bis zehn Jahre dauern, bis wir eine Vereinheitlichung erleben werden. Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit und der Wunsch, über digitale Daten zu verfügen. Dem Bedürfnis müssen wir jetzt nachkommen. Deshalb haben wir mit unserer Strategie "eHealth ready" beschlossen, vorwärtszumachen. Die Idee sieht so aus, dass wir zunächst Patientendossiers innerhalb des Spitals anlegen und uns vergewissern, dass der gewählte Standard für die klinischen Daten übersetzbar ist und mit externen Organisationen ausgetauscht werden kann. Mit dieser Strategie können wir zumindest sicher sein, dass wir schnell über Daten in digitaler Form verfügen.

Wie hoch setzen Sie den Massstab bei der Modellierung an?

Das ist bei klinischen Informationen ein heikles Problem. Bei der Messung des arteriellen Blutdrucks zum Beispiel benötigt eine Krankenschwester nicht dieselben Details wie ein Herzspezialist. Anfangs wollten wir diese Daten im Detail für alle Fachbereiche modellieren. Letzten Endes haben wir aber beschlossen, schrittweise vorzugehen und uns zunächst auf einen gemeinsamen Nenner mit allgemeinen Informationen zu beschränken, etwa so, wie man sie in einem Austrittsbericht findet. Dabei wollen wir überall, wo es möglich ist, quantifizierbare digitale Werte verwenden. So können wir das Dossier schneller im gesamten Spital verbreiten und in einem zweiten Schritt alle von den Spezialisten benötigten Daten einbinden.

Welche Auswirkungen hat dieses Patientendossier auf Ihre IT-Systeme?

Zunächst könnte man meinen, dass die Patientendossiers mit der vorhandenen Infrastruktur eingeführt werden könnten: Es handelt sich dabei ja nur um eine webbasierte Client-Server-Anwendung mit SQL-Server – also technisch gesehen kein Hexenwerk. In Wirklichkeit ist es aber viel komplizierter. Wir müssen unsere Denkweise komplett in Frage stellen und unser Informationssystem neu gestalten. Das Patientendossier muss mit einer Vielzahl anderer Applikationen synchronisiert werden. Bei einem bestimmten pathologischen Befund müssen wir zum Beispiel in der Lage sein, eine ganze Reihe Testresultate an die Laborverwaltungssoftware zu senden und anschliessend die Ergebnisse in die Patientendossiers zu integrieren. Dies bedeutet, dass wir viele Schnittstellen und in manchen Fällen eine Migration auf neue Versionen bereits existierender Spezialanwendungen benötigen. Ausserdem dient das Patientendossier als Portal. Das heisst, dass man dadurch auf Ergebnisse der Labors und die Röntgenbilder zugreift. Dies hat klare Auswirkungen auf die Verwaltung der Zugriffsrechte.

 

Das komplette Interview mit Pierre-François Regamey können Sie in der aktuellen Ausgabe der Netzwoche (11/2011) lesen.