Aus der aktuellen Ausgabe

"Jetzt stecken wir mitten in der Mathematisierung der Information"

Uhr | Aktualisiert
von René Mosbacher

Der Ehrenpreisträger von Best of Swiss Web 2012, Beat Schmid, hat die Schweizer ICT-Branche während 25 Jahren miterlebt und mitgeprägt, unter anderem als Professor an der HSG. Er sprach mit der Netzwoche über die neue Rolle des Internets, arbeitende Daten und verpasste Chancen.

Herr Schmid, ich habe gehört, Sie arbeiten gerade an einem Buch über den Einfluss des Internets als Informationsträger – was reizt Sie an diesem Thema?

Mir geht es um die neue Gestalt, die die Information in diesem digitalen Medium annimmt. Es geht darum zu verstehen, was anders ist als früher, wie man das begrifflich fassen kann und welche Wirkungen es hat.

Wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Art?

Wirtschaftlich, kulturell und sozial. Die Frage ist, was passiert, wenn diese neue Art der Information zu einem der bestimmenden Rohstoffe in der Gesellschaft wird. Sie können das mit der Situation vergleichen, als Metalle zum neuen Rohstoff wurden. Das wirkte sich auf der technologischen, der kulturellen und auf vielen anderen Ebenen des Gesellschaftssystems aus.

Schimmert hier noch etwas der Ansatz des Physikers durch?

Ja, vielleicht – in der Physik hat sich zu Beginn der Neuzeit mit der Mathematisierung von Raum und Zeit etwas sehr Ähnliches abgespielt. Diese Veränderungen hatten gewaltige Auswirkungen auf die technische Entwicklung, die schliesslich in die Industrialisierung mündete, aber auch auf der geisteswissenschaftlichen Ebene. Jetzt stecken wir mitten in der Mathematisierung der Information, mit ähnlich tiefgreifenden Wirkungen. Das Spannende daran ist, die passenden Analogien zu finden.

Können Sie schon einen kleinen Einblick in Ihre Hypothesen geben?

Eigentlich docke ich an der Definition der Information in der Informatik an. Information hat ja drei Dimensionen: die physikalische, die syntaktische und die semantische. Wenn Sie die Veränderungen ansehen, die die Informatik in den drei Dimensionen bringt, dann können Sie ungefähr erahnen, wo sich das Ganze hinentwickelt. Die erste, die physikalische Ebene stellt mit dem Internet mittlerweile einen universellen Informationsträger zur Verfügung. Über den können Sie eigentlich alle Informationsarten transportieren und überall und zu jeder Zeit verfügbar machen. Das bescherte uns einen Produktivitätssprung und ein Technologiewachstum, das rund zehnmal schneller ist als bei der ersten Industrialisierung. Diese Dimension der Internetrevolution wurde schon vielfach analysiert und besprochen.

Spannender ist die syntaktische Seite. Hier hat die Informatik gezeigt, dass das Konzept der Maschine und das Konzept der formalisierten Information zwei Seiten derselben Medaille sind. Betrachtet man die neue industrielle Revolution durch diese Brille, zeigt sich, dass die Information zu einem Gewebe von virtuellen Maschinen wird. Die Information fängt an, selbstständig zu arbeiten. Voraussetzung für das Zusammenspiel dieser virenartigen Information ist, dass eine universelle Sprache existiert – beim Internet etwa HTML. Es baut sich sozusagen ein Nervengeflecht rund um den Erdball auf, das immer mehr Macht erhält. Es übernimmt Steuer- und Regelungsaufgaben, von der Kommunikation und Transaktionen in die Finanzindustrie bis zur Steuerung von Post- und Güterverkehr.

Es geht nicht mehr um elektronische Datenverarbeitung, sondern automatisch arbeitende Daten, und wir sitzen mittendrin. Auch diese syntaktische Seite der Information lässt sich gut in Begriffe fassen. Weit schwieriger ist aber abzuschätzen, was passiert, wenn man diese Entwicklung auf 100 Jahre hinaus extrapoliert. Die dritte Dimension, die semantische, birgt meiner Meinung nach am meisten Potenzial, ist aber konzeptionell noch am wenigsten gut erfasst. Dort steht der Wissensaspekt im Vordergrund, und dieser kann zu gewaltigen Umwandlungen führen.

Was muss ich mir darunter vorstellen?

Ich vergleiche das gerne mit der Entwicklung der Kartografie. Früher wurden Rauminformationen von Hand in Stichen oder Zeichnungen erfasst – dementsprechend langsam verbreitete sich die geografische Information. Später mit dem Buchdruck beschleunigte sich zwar die Verbreitung, aber der eigentliche Quantensprung war, als man die kartografische Information in einem mathematischen Framework abbilden konnte. Es bedurfte des Koordinatensystems und der Vermessungstechnik, um aus den Daten Karten und aus diesen Atlanten zu synthetisieren.

So konnten die Karten immer schneller mit weiteren Daten, auch mit wirtschaftlichen oder politischen, verfeinert werden. Und heute beginnen diese Daten aktiv zu wirken, etwa im Navi, das uns führt und mit Echtzeitstaumeldungen und Ausgehtipps dient. Ich vermute, die Information zu anderen Sachbereichen wird in den nächsten Jahrzehnten eine ähnliche Entwicklung zu Sachgebietsatlanten durchleben wie seinerzeit die Rauminformation.

Was heisst das bildungs- und informationspolitisch? Sind die Menschen immer besser informiert und verstehen dabei immer weniger?

Das ist schwer zu sagen. Die Frage ist, wie eine Gesellschaft mit der Explosion der Informationsmenge und der gleichzeitigen Fragmentierung des Wissens umgehen kann. Wir müssen das in den Griff bekommen. Das könnte heissen: die Komplexität herunterkochen und in einfach verständliche Metaphern und Interfaces verpacken. Einfachheit ist gefordert, aber ohne deswegen falsch zu werden – eine Gratwanderung und Herausforderung für Produktdesigner.

Ist das das Ende dessen, was man die Phase der technischen Aufklärung nennen könnte?

Gute Frage. Die Komplexität führt heute dazu, dass viele Menschen kapitulieren. Vielleicht rückt das technische Verständnis des Einzelnen weiter in den Hintergrund, weil er es zum Überleben gar nicht mehr braucht. Wir hatten immer wieder solche gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. So war es beispielsweise mit dem Aufkommen der Nationalstaaten für den Einzelnen nicht mehr so wichtig, von wem er abstammt.

Apropos Nationalstaaten: Läutet das Internet das Ende der Nationalstaaten ein?

Nein und Ja. Der Nationalstaat hat auch künftig seine Funktion. Es braucht ihn, um das Zusammenleben der Menschen auf seinem Territorium zu regeln, hoheitliche Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen und Infrastrukturen bereitzustellen. Aber die neuen Informationsinfrastrukturen stellen den Nationalstaat auch infrage. Die sind nämlich global. Das sehen Sie am Beispiel der elektronisierten Finanzwirtschaft, die die Handlungshoheit der Staaten schon deutlich eingeschränkt hat. Denken wir an die Schuldenkrise. Die neue Finanzindustrie ist auch ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn notwendiges Wissen und aktuelles Verständnis weit auseinanderklaffen. Die heutigen Prozesse und Finanzprodukte sind so komplex, dass sie kaum mehr jemand versteht. Und was der Nationalstaat nicht versteht, kann er auch nicht kontrollieren.

Kann man in solch einer Situation vom Nationalstaat überhaupt noch erwarten, dass er für die ICT günstige Rahmenbedingungen schafft, wie das etwa die Agenda 2020 fordert?

In vielen Bereichen kann und muss der Staat nach wie vor gute Rahmenbedingungen schaffen. In anderen Bereichen hingegen hat er kaum Einfluss. Viele Fragen der Kommunikationstechnik oder der Sicherheit sind nur im internationalen Kontext regelbar. Aber nehmen Sie die Ausbildung oder den Bau der Infrastruktur – das sind immer noch nationale Aufgaben, die gelöst werden müssen, wenn man der Wirtschaft gute Bedingungen bieten will. Ein schönes Beispiel ist etwa Südkorea mit dem Bau seiner Kommunikationsinfrastruktur.

Momentan will alles ins Internet, aber gleichzeitig scheint die Internetkriminalität immer bedrohlicher zu werden. Ist das in den Griff zu bekommen?

Technisch könnte man das hinreichend gut lösen, etwa durch starke Verschlüsselung. Ein weiterer technischer Ansatz wären sicherere Architekturen. Sie könnten die Informationen strikter von ihrem Kontext trennen, was den unerwünschten Zugriff auf gesuchte Informationen deutlich erschwert. Wir haben von den technisch machbaren Lösungen vieles noch kaum implementiert. Aber das war in der alten Welt auch nicht anders. Die Sicherheit hinkt immer hinterher.

Ein neues Phänomen ist, dass die Datensicherheit von Staaten unterminiert wird. Sie wollen für ihre Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste Hintertüren zu relevanten Daten. Wenn Sie aber überall Hintertüren einbauen, hilft das auch den Einbrechern. Es ist eine politische Frage, wie viel Privatheit wir zulassen und wie viel Staat wir wollen. Die Diskussion um das Bankgeheimnis gibt einen Vorgeschmack auf die Kämpfe, die sich in diesem Bereich abspielen werden.

Aber genau beim Datenschutz und bei der Sicherheit sind doch die Möglichkeiten der Politik wieder beschränkt. Bei zu hohen Standards bangt die Industrie wieder um ihre internationale Konkurrenzfähigkeit.

Gerade die Schweiz könnte sich durch hohe Sicherheitsstandards und einen Schutz der Privacy einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Immerhin sind wir ein basisdemokratischer Staat. Eine Vorreiterrolle könnte unseren Unternehmen in diesem Bereich international den Rücken stärken.

Tut die Schweiz als Staat eigentlich genug für die Datensicherheit – Stichwort Melani?

Er wird zum Schutz seiner Bürger künftig mehr tun müssen.

Wie weit schadet die momentane Sicherheitslage dem E-Commerce in der Schweiz?

Die Sicherheit ist oft noch ungenügend implementiert. Aber wir stellen fest, dass die Konsumenten trotzdem übers Internet einkaufen. Der Umsatz wächst ja immer noch zweistellig. In diesem Sinne glaube ich, dass der E-Commerce momentan nicht wesentlich durch Sicherheitsprobleme behindert wird.

Wo sind die grossen Aufgaben zu lösen, damit die Schweiz beim E-Commerce international gesehen weiterkommt?

Der Schweizer ist relativ vorsichtig und langsam, wenn es um die wirtschaftliche Adaption von neuen Techniken geht. Es gibt relativ wenige Beispiele von technischen Entwicklungen, bei denen wir von Anfang an als Anbieter vorne dabei waren. Doch, wenn wir einmal etwas für gut befunden haben, dann nehmen wir es in die Hand und machen es sehr gut. Ich nehme an, das wird im E-Commerce auch so sein.

Sie finden es also nicht alarmierend, wenn wir hier noch hinterherhinken?

Nein – nehmen Sie die E-Books. In den USA werden schon etwa die Hälfte aller Bücher elektronisch gekauft. Bis wir das in der Schweiz erreichen, wird es noch etwas dauern, aber nicht allzu lange. Das wird mit den Zeitungen und Zeitschriften nicht anders sein. Je rascher sich die mobilen Endgeräte verbreiten, umso rascher werden die Konsumenten auch diese Produkte hier elektronisch kaufen.

Was halten Sie eigentlich von der "Appisierung"  des Internets?

Sie stellt einen wesentlichen Schritt in dem Prozess dar, von dem ich sprach: Die "lebendige" Information, die in unzähligen Applikationen in immer mächtigerer Form vorhanden ist, wird über das Internet für immer mehr Menschen auf immer mehr und kleineren Endgeräten wirksam. Man kann so beispielsweise über das Handy auf Produkte von Bastlern, aber auch auf Informationssysteme von Banken, Fluggesellschaften und so weiter zugreifen und sich ihrer Dienste bedienen, überall und für wenig Geld. Die Produktivität der Informationsressourcen wird so massiv gesteigert.

Sie haben die Schweizer ICT die letzten 25 Jahre miterlebt und mitgeprägt, was bleibt Ihnen in Erinnerung?
Am eindrücklichsten war die Begeisterung bei den jungen Leuten, die in meinem Umfeld gearbeitet haben. Es war enorm viel Kreativität da.

Und was waren die verpassten Chancen?

Wir hätten als Industriestandort hervorragende wirtschaftliche Chancen gehabt. Wir hätten auch die notwendigen Leute dafür gehabt. Aber dieses Potenzial wurde weder vom Parlament noch von der Industrie erkannt und genutzt. Beispielsweise gab es im E-Commerce ausgesprochen gute Chancen. Wir hätten auch das E-Government zielstrebig vorantreiben können. Das hätte eine landesinterne Nachfrage produziert, die unserer Industrie eine Starthilfe für neue Exporte gegeben hätte. Bei der ersten Industrialisierung haben wir früh eine erfolgreiche Rolle gespielt. Bei der neuen gehören wir nicht zu den Frühstartern.

Ist das ein Problem der langsamen direkten Demokratie?

Ich glaube nicht – es hat vielleicht mit der Saturiertheit in unserer Gesellschaft zu tun. Vielleicht ist es uns schon zu lange sehr gut gegangen.

Aber es gibt ja auch Hoffnung. Mir scheint beispielsweise, dass die Schweizer Internetbranche in den letzten Jahren gegenüber dem europäischen Umland deutlich an Boden gut gemacht hat.

Ja, das sehe ich auch so. Auch das hängt vielleicht damit zusammen, dass die Schweizer zu den Langsam-Startern gehören. Wir packen die Dinge oft später an als andere, dafür dann umso besser. Das gilt auch für die Forschung, wo wir mittlerweile in vielen Bereichen einen internationalen Spitzenplatz erreicht haben. Was wir aber tun müssen, um nachhaltig vorne dabei zu bleiben, ist, für Nachwuchs zu sorgen. Hier braucht es Reformen, speziell bei der Ausbildung der Jugendlichen, und die müssen angepackt werden, weil sie Zeit brauchen.