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Das Open-Source-Prinzip: Offenheit statt Geheimniskrämerei

Uhr | Aktualisiert
von Janine Aegerter

Open Source hat sich in der Schweiz noch nicht richtig etabliert. Hinderungsgründe sind oftmals Ängste und Missverständnisse. Die Netzwoche hat bei Unternehmen und bei der Swiss Open Systems User Group nachgefragt, warum sich das Offenheitsprinzip für Unternehmen lohnen kann.

Schweizer Unternehmen stehen dem Thema "Open Source" (noch) vorsichtig gegenüber. Einerseits, weil es bezüglich Open-Source-Software noch viele Missverständnisse oder Informationslücken gibt. Andererseits, weil für gewisse Produkte, zum Beispiel komplexe ERP-Systeme, noch keine etablierten Open-Source-Alternativen existieren.

Matthias Stürmer, Vorstandsmitglied der Swiss Open Systems User Group CH Open, kennt die Vorbehalte gegenüber Open-Source-Software sehr gut. Er setzt sich seit Jahren für die Verbreitung von Open-Source-Software ein und versucht, vorherrschende Missverständnisse aus dem Weg zu räumen (siehe Kasten). Gerade weil die IT für viele Branchen so strategisch ist, sollten die Unternehmen sie nicht einfach aus der Hand geben, findet er. Er plädiert daher dafür, die Abhängigkeit von den Herstellern zu reduzieren. "Ich möchte den IT-Anwendern zu mehr Ownership, mehr Awareness und mehr Verantwortung verhelfen." Er ist sich aber auch bewusst, dass viele Unternehmen nach wie vor lieber proprietäre und bekannte Branchenlösungen verwenden, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Allerdings ergibt es seiner Meinung nach keinen Sinn, dass Unternehmen teures Geld für Lizenzen ausgeben, wenn sie ein gleichwertiges Produkt auf Open-Source-Basis haben könnten. Denn sie können durchaus auf die Unterstützung von kommerziellen Anbietern zählen, die Support und entsprechende SLAs für Open-Source-Software anbieten.

Problem: Vendor Lock-In

Doch der Wille allein, Open-Source-Software einzusetzen, reicht nicht immer, denn die Umsetzung kann ein Problem darstellen. Nutzt man SAP als ERP, Oracle-Datenbanken und Microsofts Betriebssystem Windows für Desktop-Computer, dürfte es schwierig werden, wieder davon wegzukommen. Diese Situation nennt sich Vendor Lock-In. "Oracle kann die Daumenschrauben bei seinen Kunden anziehen. Kaum ein Oracle-Kunde würde das Risiko eingehen, seine Oracle-Datenbank zu migrieren, wenn täglich Millionen von Transaktionen darüber laufen", sagt Stürmer. Bei SAP sieht es ähnlich aus. Der Aufwand, das ERP-System zu ersetzen, wäre schlichtweg zu gross, das Risiko auch: Viele Schnittstellen müssten ersetzt werden und die Kosten würden vermutlich ins Uferlose laufen. Hinzu kommt die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. "Wenn ein CIO als ERP-System SAP einführt und es schiefläuft, muss er sich irgendwie erklären können." Da aber SAP als State-of-the-Art gilt und es fast keine andere Alternative gibt, ist er argumentativ auf der sicheren Seite. Wenn er aber ein Open-Source-ERP einführe und es schiefliefe, könnte er in Erklärungsnot kommen. "Offene ERP-Software ist eine grosse Lücke in der verfügbaren Open-Source-Software", gibt Stürmer denn auch unumwunden zu. Allerdings müsse man sich aber auch immer darüber im Klaren sein, wozu man ein ERP nutzen wolle. Wenn man nur die einfachen Standards brauche, wie Finanzbuchhaltung, Logistik oder HR, könne man sicher eine Open-Source-ERP-Lösung einsetzen.

Ähnlich riskant wäre die Migration des Desktop-Betriebssystems Windows auf Linux. So geschehen beim Kanton Solothurn vor ein paar Jahren. Was genau passiert ist, wurde nie klar kommuniziert. Ein grosses Problem bei der Umstellung verursachten offenbar die bereits bestehenden Anwendungen, die nicht Linux-kompatibel waren und ersetzt werden mussten. Vielleicht wollte der damalige Leiter des mit der Migration beauftragten Amtes für Informatik und Organisation (AIO) zu schnell zu viel auf einmal. Die Nutzer beklagten sich über das neue Betriebssystem, fühlten sich vermutlich überrannt, der Leiter des AIO musste daraufhin seinen Platz räumen und der Kanton migrierte auf Windows 7.

Open Source im kleinen Rahmen

Solche Beispiele mögen abschreckend wirken, doch man muss gar nicht so grosse Sprünge machen, um von den Vorteilen von Open Source profitieren zu können. Es gibt verhältnismässig einfache Migrationsprojekte wie der Wechsel von Microsoft Office auf Open oder Libre Office, beides Open-Source-Projekte, die dem Microsoft-Produkt sehr nahe kommen. Auch bei Server-Betriebssystemen setzen viele Unternehmen auf Linux statt auf Windows und sparen damit Lizenzkosten.

Das Bundesgericht Lausanne ist bei Open Source gewissermassen ein Vorreiter in der Schweiz. Bis 2002 hatte das Bundesgericht mit dem Produkt "All-in-1" der ehemaligen Firma Digital Equipment gearbeitet, seither nutzt es Open Office. Die Akzeptanz sei von Beginn an vorhanden gewesen, sagt Sabina Motta, Medienbeauftragte des Schweizerischen Bundesgerichts. Dazu beigetragen hätte einerseits die ausführliche Information der Benutzer über die Gründe des Entscheids. Andererseits sei den Benutzern die Umstellung unter anderem mit Schulungen sowie einem entsprechenden Benutzersupport erleichtert worden. Das Bundesgericht sei mit Open Office zufrieden. "Das offene System erlaubt, mehrere Versionen parallel betreiben zu können und auf einfache Art und Weise komplexe Zusatzprogrammierungen für unsere Bedürfnisse einzubauen", so Motta. Auch die Gerichtssoftware Openjustitia, die das Bundesgericht intern entwickelt hat, stellt es anderen Interessierten kostenlos unter einer Open-Source-Lizenz zur Verfügung, was allerdings Anbietern proprietärer Gerichtssoftware sauer aufstösst, wie kürzlich in den Medien bekannt wurde. Dies tut dem Markt scheinbar keinen Abbruch: Der Kanton Waadt hat die Implementierung von Openjustitia als Gerichtssoftware in die strategische Planung aufgenommen. Und der IT-Dienstleister Deltalogic hat Openjustitia für die Webpublikation der Urteile des Kantons Bern weiterentwickelt.

Neue OSS-Anbieterdatenbank

Wenn ein Unternehmen Open-Source-Software einsetzen will, stellt sich eine weitere Frage: Welche Produkte gibt es überhaupt auf dem Markt? Und welche sind gut? "Eines der Haupthindernisse ist, dass die bestehenden Open-Source-Dienstleister zu wenig bekannt sind", ist Stürmer überzeugt. Hier setzt CH Open den Hebel an. Ende Oktober hat die Nutzergruppe ein neues Open-Source-Directory online gestellt. Dort sollen sich alle Schweizer Open-Source-Dienstleister registrieren und ihre Angebote deklarieren. Wer sich für den Einsatz von Open-Source-Software interessiert, so die Idee, sollte in der Open-Source-Software-Datenbank Referenzen zu aktuellen Projekten sowie Anbieter und ihre Dienstleistungen finden.

Stürmer war es auch, der eine Open-Source-Studie lancierte, um herauszufinden, woran es liegt, dass Open-Source-Software in Schweizer Unternehmen noch nicht so verbreitet ist. 202 Unternehmen und Behörden haben die Fragen über Einsatz, Nutzen und Hinderungsgründe von Open-Source-Software beantwortet. 77 Prozent der Studienteilnehmer sind CEOs, CIOs oder CTOs. Als Vorteile von Open Source nannten sie unter anderem die Unabhängigkeit von Lieferanten, die Einsparungen von Lizenzkosten, die Unterstützung von offenen Standards und Schnittstellen sowie eine breite Community für den Wissensaustausch. Demgegenüber stehen ihre Ängste: Keine oder eine unklare Lieferantenhaftung, mangelnder kommerzieller Support, mangelnde Akzeptanz der Nutzer und fehlende Schnittstellen zu anderen Systemen wurden am häufigsten genannt.

Open Source in der Praxis

Dass das Open-Source-Prinzip in der Praxis durchaus funktionieren kann, sieht man am Beispiel von Swisscom IT Services SITS. "Wir betreiben erfolgreich über 3000 Server unter Linux, setzen PosgreSQL, MySQL, Apache und Tomcat in geschäftskritischen Bereichen ein, bei unseren Kunden sowie bei uns", sagt Alexander Finger, Account Consultant bei Swisscom IT Services. Das sei für SITS eine relevante Grösse, auch wenn die proprietären Systeme in der Mehrheit seien.

Finger plädiert aber primär nicht für Open-Source-Software an und für sich: "Ich würde einem Unternehmen an erster Stelle offene Standards ans Herz legen, was als Strategie mehr Sinn ergibt als die Festlegung auf ein Lizenzmodell. Dass man danach in den meisten Fällen bei Open-Source-Software landet, ist wahrscheinlich, aber nicht zwingend", so Finger.

Auch Swisscom Hospitality Services in Genf arbeiten mit Open-Source-Software. Die Tochtergesellschaft von Swisscom erbringt Informatikdienstleistungen für die Hotelbranche. "Das Team, das die Hospitality Services aufgebaut hat, war von Open Source überzeugt, hatte die richtigen Skills und die notwendige Erfahrung aus dem Aufbau von Internet-Service-Providern in Frankreich und Deutschland", sagt Finger. Die Kosten hätten sicher auch eine Rolle gespielt, aber da es keine "kommerzielle" Lösung gab, habe man diese auch nicht vergleichen können. Später, als es kommerzielle Lösungen gab, habe man den Markt analysiert, um einen funktionalen Vergleich zu haben. "Gelandet sind wir dann wieder bei Open Source, nämlich bei OpenNMS." Ohne Open-Source-Software würde es die Firma nicht geben, so Finger, das Businessmodell wäre nie aufgegangen und die Mitarbeiter wären nie in der Lage gewesen, auf die sich ändernden Marktanforderungen so schnell zu reagieren wie Hospitality Services das heute noch kann. "Durch die offenen Standards fiel uns auch die Integration in ‹Closed Source›-Systeme viel leichter."

Nicht doppelt entwickeln

Finger sieht vor allem beim Bund, den Kantonen und den Gemeinden ein grösseres Potenzial für offene Gemeinschaftsprojekte. Heute werde noch deutlich zu viel doppelt entwickelt, findet er. Open-Source-Software sei im Infrastrukturbereich und bei businesskritischen Anwendungen in der Schweiz bereits sehr stark verbreitet. "Stellen Sie sich all die Apache Web Server vor, die Linux-basierten IT-Infrastrukturen, Middleware, Virtualisierung, Java-Grossprojekte. Die Schweiz würde ohne Open Source nicht mehr funktionieren. Züge würden nicht fahren, Bankautomaten würden kein Geld ausspucken und die Steckdose hätte keinen Strom." Nicht zu vergessen sei die jetzt anstehende Cloud-Computing-Revolution. Open-Source-Software sei dort, was die Infrastruktur betreffe, ganz klar der Innovationstreiber. "Die ganz Grossen der Welt wie Google und Amazon bauen darauf."

Ebenfalls gute Erfahrungen mit Open Source im Unternehmenseinsatz macht Puzzle ITC, ein Berner Softwareunternehmen. "Bei uns arbeiten alle unsere 52 Mitarbeitenden mit Linux als Desktop-Betriebssystem", sagt Mark Waber, Geschäftsführer von Puzzle ITC. Zudem setzt das Unternehmen unter anderem Libre Office für die Textverarbeitung, Thunderbird für den E-Mail-Verkehr und Radiant als CMS ein. "Wir haben die Freiheit, für die Softwareentwicklung verschiedene Frameworks und Softwarebibliotheken miteinander zu vermengen und sind nicht nur auf die Vorgabe eines einzigen Herstellers angewiesen", so Waber. Durch den offenen Ansatz sei Puzzle ITC überhaupt erst in der Lage, eigene Gemeinschaftsprojekte zu lancieren und aufzubauen. Zudem könne das Unternehmen auch zum Mitentwickler von bestehenden und teilweise international anerkannten und etablierten Produkten werden, was ihm klare Vorteile am Markt verschaffe. "Würden Sie eher auf eine Lösung zur Systemautomation setzen, die proprietär von nur einem Hersteller erstellt wird? Oder auf eine offene Lösung, die von vielen verschiedenen Softwarelieferanten mit- und weiterentwickelt wird und bei der Sie bei Bedarf sogar selbst den Quellcode verändern können?", fragt Waber.

Unter dem Strich ist das Open-Source-Prinzip auch eine Philosophie, davon ist Waber überzeugt. Er ist der Meinung, dass Kooperieren und Teilen sinnvollere Ansätze für unsere Welt sind als Abschotten, Geheimniskrämerei und starre Linzenzverträge, die dem Kunden kaum Rechte gewähren. Man kann es aber auch anders sehen, wie es ein Besucher einer Open-Source-Veranstaltung kürzlich sagte: "Mir ist es egal, ob ich mit Open-Source-Software oder mit proprietärer Software arbeite. Hauptsache, sie läuft."