Gastbeitrag

Paradigmenwechsel an der IPv6 Business Konferenz 2016

Uhr | Aktualisiert
von Silvia Hagen, Präsidentin des Swiss IPv6 Councils

Viele Firmen planen noch ihren IPv6-Adressraum, andere lancieren bereits Apps für ihre IPv6-only- oder Dual-Stack-Infrastrukturen. Die IPv6 Business Konferenz widmete diesen Apps am 16. Juni in der Arena Sihlcity in Zürich erstmals einen eigenen Track.

Silvia Hagen, Präsidentin des Swiss IPv6 Council und Inhaberin des IT-Beratungsunternehmens Sunny Connection (Quelle: Netzmedien)
Silvia Hagen, Präsidentin des Swiss IPv6 Council und Inhaberin des IT-Beratungsunternehmens Sunny Connection (Quelle: Netzmedien)

Tahar Schaa, Senior Consultant bei Cassini, berät das deutsche Bundesministerium des Innern beim Deployment von IPv6 in der öffentlichen Verwaltung. Die Internetwelt wächst ständig und die Nutzerwelt verändert sich. Ausser herkömmlichen ISPs sind auch Bürger mit immer mehr Smarthome-Lösungen, Unternehmen mit Industrie-4.0-Lösungen, weltweit agierende Unternehmen und öffentliche Verwaltungen Akteure im Internet. Die Einführung von IPv6 ist dabei ein wesentlicher Ansatz.

Der Magic Moment

Das deutsche Netzwerk-Vorhaben unterscheidet sich zwar in der Grösse und in der Komplexität von Transitionsprojekten in privaten Unternehmen, nicht aber im Wesen. Ein IPv6-Projekt sollte jeden Stein umdrehen, darunter hervor kommen häufig Legacy-Applikationen, Redundanzen, undokumentierte Middleware und klapprige Schnittstellen. Eine IPv6-Einführung scheitert häufig nicht an der Technik, sondern daran, dass wir uns zu wenig mit der Historie unserer Infrastrukturen und unseren eigenen Organisationsprozessen auseinandersetzen. 50 Jahre wuchsen die Netze praktisch unkontrolliert, mit IPv6 haben wir die Chance, alles zu neu zu machen. "Wir müssen die IPv6-Einführung als Magic Moment, als Once-in-a-Lifetime-Chance begreifen lernen", so Tahar Schaa im Interview mit dem Swiss IPv6 Council.

Ganz ähnlich beschreibt Stephanie Schuller, Infrastructure Implementation Manager bei Linkedin, den grössten, positiven Output ihrer bislang drei IPv6-Einführungen: "Das Auditieren unserer Datenflüsse brachte uns bei weitem den grössten und erwarteten Nutzen. Die IPv6-Einführung zwang uns, Altlasten aufzuräumen und Doppelspurigkeiten zu beseitigen. Nun sind unsere Systeme optimiert, dokumentiert und laufen viel effizienter als zuvor – nicht nur hauptsächlich weil sie über IPv6 funktionieren, sondern weil wir aufgeräumt haben."

Interdisziplinär und teamübergreifend

Angesprochen auf Erfolgsfaktoren ist ihre Meinung dezidiert: "Wir müssen die Teams zusammenbringen. Die IPv6-Einführung beeinflusst die Applikationen, die Interaktion mit dem Kunden und damit direkt unser umsatzrelevantes Geschäft. Als Erstes bringe ich die richtigen Leute aus allen Businessabteilungen an einen Tisch, wir beschreiben das Problem, dann wenden wir uns an den passenden Sponsor aus dem Executive Management, der das Budget freigibt. Im interdisziplinären Team entwickeln wir danach Designs für die Lösung."

Das Gute daran sei, dass die Personen in den Arbeitsgruppen beginnen, sich zu vernetzen, die Perspektive der anderen zu verstehen und ihre Arbeitsweise zu koordinieren. Viele Labs aus den Testzeiten der IPv6-Piloten bestünden heute noch, neue teamübergreifende Szenarien würden nun laufend auf diesen Übungssystemen getestet und in den Betrieb übernommen. Bei Linkedin wird konsequent mit agilen Methoden wie Scrum und Kanban gearbeitet.

Paradigmenwechsel

Das Internet der Dinge (IoT) ist in aller Munde und wird immer günstiger. Ein Sensor nach ITF-Standard kostet nur noch 3 Euro. Diese kleinen Melder werden nun massenweise überall verbaut, in allen möglichen Industriezweigen. Diese neue Art der Maschinensteuerung muss jedoch auch kontrolliert und gesichert werden. Neue Formen von Attacken sind möglich. Dies ist der Paradigmenwechsel. IPv6 bietet uns die Grundlage und die Technologie, neue Wege zu gehen und neue Paradigmen in der Beurteilung und Lösung von Problemen zu erproben.

IT-Infrastruktur auf Knopfdruck

Wenn eine IT-Infrastruktur mit schier unendlich vielen Zugangspunkten via IPv6 die Grundlage für die Lösung unserer zukünftigen Probleme sein soll, stellt sich die Frage, wer diese Infrastruktur bereitstellt. Solange der Zugang kontrolliert und nur mit extrem hohem Aufwand von ressourcenstarken Marktteilnehmern erstellt werden kann, kommen Fragezeichen in der Leistungsstärke dieses Ansatzes auf. Manuel Schweizer, CEO der Cloudscale.ch AG, hat deshalb pünktlich zur Konferenz das neue Angebot "IPv6-Server in 10 Sekunden" lanciert.

Auf der Plattform cloudscale.ch klickt sich ein KMU seinen virtuellen Server mit der Beantwortung von fünf bis sechs Fragen zusammen, wählt den Haken "Enable IPv6" an und ist damit nach wenigen Sekunden mit einer IPv6-Adresse publik im Internet – und dies für einen Franken pro Tag im günstigsten Modell. Bislang wird das Angebot vor allem von Dienstleistern im Developer- und DevOps-Bereich genutzt, die Applikationen für ihre Endkunden entwickeln und betreuen. "Private Netzwerke, Back-ups, eine einfache API und Reverse DNS stehen als Nächstes auf unserer Roadmap. Damit kann theoretisch jeder sein eigenes IPv6-Netzwerk, bestehend aus Mail- und Webserver, Cloud Storage, Wiki oder Telefonanlage mit wenigen Mausklicks aufsetzen", sagt Schweizer über die Vision seines Unternehmens.

The African Lion grows

Da der angesprochene Paradigmenwechsel ein globales Phänomen ist, oder – anders ausgedrückt – er so beschaffen sein sollte, dass alle zur Lösung der globalen Herausforderungen beitragen sollten, lohnt sich ein Blick auf den afrikanischen Kontinent. Obwohl Afrika als einzige Kontinental-Zone noch über IPv4-Adressen verfügt, führt auch dort kein Weg an IPv6 vorbei. Während in den USA 5 IPv4-Adressen pro Einwohner zur Verfügung stehen, sind es in Afrika gerade mal 0,2 pro Person. "Wenn man bedenkt, dass sich die Mobile-Penetration seit 2010 ungefähr verfünffacht hat, ist klar, dass die IPv4-Adressen schnell den limitierenden Faktor darstellen werden", meint Mukom Tamon, Head Capacity Development, AFRINIC.

Die Anbindung ans Internet ist heute vor allem in Küstengegenden vorhanden, während die Backbones ins Innere des riesigen Kontinents erst allmählich von privaten Firmen und einzelnen Regierungen vorangetrieben werden. In Ländern wie Nigeria oder Uganda explodiert der mobile Traffic des wachsenden Mittelstandes, die sich nun Smartphones leisten können. Ein grosser Vorteil der afrikanischen Internetentwicklung ist, dass sie von vornherein auf neueste Technologie ohne komplexe Software-Legacy bauen können. "Der Zugang ins Internet passiert auch im Residential-Bereich oft via 4G/LTE. Die Telkos verkaufen CPEs, mit denen wir uns einwählen. Der Business Case für eine physische Leitung stimmt nie und nimmer. Diesen Schnelligkeitsvorteil sollten wir ausnutzen", führt Tamon aus.

Obwohl in Afrika immer noch viele Handys im Umlauf sind, die im besten Fall 3G-Voice-tauglich sind, boomen Mobile-Micro-Payment-Dienste und E-Commerce-Anbieter. Das afrikanische Pendant zu Amazon heisst Jumia und operiert in zwölf Ländern. Auf Smartphones wird Skype und Whatsapp für Anrufe genutzt, was die VoIP-Datenmenge massiv zunehmen lässt. "Der afrikanische Löwe ist geweckt, die Wachstumszahlen sind enorm. Wir bei AFRINIC sehen uns als Evangelisten für IPv6 und eine stabile Internetinfrastruktur. Mein Job ist es, kostenlose Trainings für Techniker, aber auch für ISP- und Telko-Manager zu halten, in denen ich den Business Case und die Policies von und für IPv6 aufzeige."

IPv6 for a better future?

IPv6 als Protokoll oder Infrastrukturkomponente ist wertfrei. Es legt die Grundlage für ein Netzwerk mit Zugang zu Informationen, die allen Bürgern offenstehen soll. Basisdemokratie neu gedacht, mit allen positiven und negativen Erscheinungen. Plattform für Gutes und für Schlechtes, das muss so sein, denn die Infrastruktur darf eben nicht Einfluss auf die Wertentscheidungen nehmen.

Eine bessere Zukunft auch für Firmen, die IPv6 einführen. Die an dieser Konferenz aufgezeigten Case Studies haben Erstaunliches hervorgebracht: Nicht die neue Infrastruktur ist der Business Case, die muss einfach weiterhin auf einem aktuellen Stand gehalten werden, der heute bezüglich Transportprotokoll IPv6 heisst. Der Weg dorthin ist der Business Case, die Reflektion der eigenen Prozesse und Datenflüsse, das Aufbrechen alter, gewachsener Blockaden und das Entwickeln von neuen Architekturen. IPv6 greift in einem Unternehmen auf einer tiefen Ebene ein, im Fundament sozusagen. Es bleibt kein Stein auf dem anderen, wenn er nicht passt. Darin liegt die Chance. Auf einem brüchigen Fundament ein neues Haus zu bauen, empfiehlt sich nicht.

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