Im Interview mit Marcelo Alé

"Wir beherrschen die Logistik. Nun ist es Zeit, das Nutzererlebnis anzugehen"

Uhr | Aktualisiert
von Rodolphe Koller

Die Geschäfte beim Online-Supermarkt LeShop.ch laufen gut. Marcelo Alé, Informatikleiter des Unternehmens erklärt, wie wichtig ein Logistiksystem für die Firma ist, welche Entwicklungsansätze er verfolgt und welchen Herausforderungen er beim Übergang zu mobilen Plattformen begegnet.

(Quelle: Leshop)
(Quelle: Leshop)

Herr Alé, Sie haben Ihre Karriere in Argentinien begonnen – wie kam es zum Abenteuer LeShop?

Die Geschichte ist gar nicht so geheimnisvoll, wie man denkt. Ende der 90-Jahre arbeitete ich für LeShop in Argentinien, wo ich der erste Angestellte war und mich um Logistik und Systeme kümmerte. Wir haben bei null angefangen, während das Unternehmen in der Schweiz bereits voll im Geschäft war mit mehreren dutzend Bestellungen am Tag. Das war die Zeit der New Economy, die Menschen waren ehrgeizig und die Finanzierungen grosszügig. Damals habe ich auch Christian Wanner, den Mitbegründer von LeShop, getroffen. Danach platzte die Internetblase und LeShop musste schliesslich seine Geschäftstätigkeiten im Ausland aufgeben. LeShop Argentinien hat neue Investoren gefunden und konnte so seinen Betrieb fortsetzen. Anfang 2002 fiel Argentinien in eine tiefe Wirtschaftskrise, die der aktuellen Krise in Griechenland sehr ähnlich ist. Es waren Investitionen vonnöten, um das Unternehmen lebensfähig zu halten. Ich entschied mich schliesslich, zu LeShop Schweiz zu gehen. Dort suchten sie gerade einen CIO und interessierten sich gleichzeitig auch für das Logistiksystem, das wir in Argentinien entwickelt hatten.

Welche Besonderheiten hatte dieses Logistiksystem?

Anfangs war LeShop in der Schweiz stark auf das Internet fixiert. Alles drehte sich lediglich um die Website – der Zeitgeist verlangte es damals so. Man war der Ansicht, der Profit käme mit personalisierten Preisen und massgeschneiderten Bestellungen für die einzelnen Kunden. Logistik spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Ausserdem nutzte LeShop damals die Plattform Broadvision, die eigentlich eher für Publikationen als für den E-Commerce gedacht war. Das System war also beschränkt. Es diente dazu, Picking Lists für die Verpacker auszudrucken, aber die Reihenfolge der Produkte richtete sich nach einem einfachen U-Kreislauf innerhalb des Lagers. Ein anderes Beispiel: Die Plattform bot keine Möglichkeit, die Lagerbestände nachzuverfolgen. Deshalb wurde in der Produktbeschreibung einfach eine Spalte hinzugefügt, in der die Bestände von Hand erfasst wurden. In Argentinien haben wir einen anderen Ansatz gewählt und uns auf die Optimierung der Logistik konzentriert, auch hinsichtlich der Informatik. Wir hatten nämlich nach einiger Zeit bemerkt, dass Logistik der eigentliche Kernpunkt unserer Tätigkeit war.

Die Vorstellung, uns auf physische Prozesse zu konzentrieren, war aber auf den ersten Blick nicht verlockend und schien aus einer überholten Zeit vor der Erfindung des Internets zu stammen. Schliesslich haben wir dann unser eigenes Logistiksystem von Grund auf entwickelt und dabei versucht, Fahrten und Wege im Lager so gering wie möglich zu halten. Wir haben zum Beispiel die weniger gefragten Produkte abseits des Hauptweges platzieren, den die Verpacker nutzten. Diese Entscheidungen haben sich als sehr vorteilhaft erwiesen. Als ich zu LeShop in die Schweiz kam, haben wir daher wieder ein Logistiksystem komplett in Java entwickelt, genau wie in unserem Webshop auch. Dabei haben wir auf den Erfahrungen aus Argentinien aufgebaut und die Verpacker zusätzlich mit Funk-Terminals ausgerüstet.

Warum haben Sie keine marktübliche ERP-Lösung verwendet?

Als wir unsere Plattform entwickelten, waren wir der Ansicht, dass die Standardlösungen zu viel Zeit für Anpassung und Parametrierung in Anspruch nehmen würden, wenn sie die Flexibilität und Beweglichkeit bieten sollten, die für uns wichtig war. Die Buchhaltung ist der einzige Bereich, in dem wir derzeit ein externes Softwarepaket einsetzen, nämlich Abacus. Hierfür haben wir eine entsprechende Schnittstelle geschaffen. Alle übrigen Bereiche – Lieferkette, Logistik – sind in unsere Eigenentwicklung integriert. Mit dem CRM verfügen wir über ein Satellitensystem, das wir ebenfalls selbst entwickelt haben. Die Entscheidung für eigene Entwicklungen hat sich für uns als günstig erwiesen. Zu Beginn einer Geschäftstätigkeit weiss man nicht genau, was man alles benötigt, und man muss flexibel sein. Aufgrund unserer gesammelten Erfahrungen würden wir uns heute sicher teilweise anders entscheiden. Für das Supply-Chain-Management beispielsweise würden wir eine Standardlösung wählen. Vielleicht werden wir sogar eines Tages die Möglichkeit in Erwägung ziehen, ein ERP einzusetzen.

Lässt Ihnen die Migros genug Handlungsspielraum?

Ja, wir sind weitgehend unabhängig und das wissen wir sehr zu schätzen. Wir profitieren von den Vorteilen der Migros, ohne uns an ihre Standards anpassen zu müssen. Man lässt uns unsere Techniken und Plattformen frei wählen. Wir sind in erster Linie Kunde der Migros, da sie uns 30 Prozent unseres Sortiments liefert. Was die Lieferkette angeht, läuft der gesamte Datenaustausch elektronisch über EDI.

Denken Sie daran, Cloud-Computing-Lösungen zu nutzen, um Ihre Lastspitzen in den Griff zu bekommen?

Wir haben erst kürzlich begonnen, uns mit diesem Gedanken zu befassen – nicht wegen der Lastspitzen, sondern eher wegen unserer verteilten Infrastruktur. Alle unsere Systeme, einschliesslich der Website, werden im Datenzentrum der Migros in Zürich lokal gehostet. Um eine hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten, betreiben wir gespiegelte Server in unseren Verteilerzentren in Ecublens und Bremgarten. Es wäre daher sehr verlockend, uns nicht mehr um die Geräte kümmern zu müssen und all diese Systeme in die Cloud zu verschieben. Aber dies würde uns komplett abhängig von den Kommunika¬tionsleitungen machen. Die Cloud-Anbieter versprechen zwar Verfügbarkeiten von mehr als 99 Prozent, aber für uns ist schon eine punktuelle Unterbrechung von vier Stunden äusserst schädlich. Ohne IT sind wir im Prinzip gelähmt. Eine hohe Verfügbarkeit ist in unserem Geschäft äusserst wichtig. Dies gilt nicht nur für die Website – dort gibt es im schlimmsten Fall Probleme beim Weiterleiten von Bildern und Bestellungen –, sondern vor allem auch in der Logistik. Wenn eine Bestellung aufgegeben wird, dann entsteht gegenüber der Kundschaft ein Vertrag, der uns verpflichtet, am darauffolgenden Tag zu liefern. Unsere Lieferfristen sind sehr kurz. Und wenn die Systeme nicht funktionieren oder wenn ihre Leistung eingeschränkt ist, riskieren wir, gegen den Vertrag zu verstossen.

Wie genau ist Ihr Bestellsystem in Ihre Lieferlogistik eingebettet?

Im Grossen und Ganzen kommen über die Website laufend Bestellungen herein, die diese an das Backoffice-System weiterleitet. Am Anfang des Tages, morgens früh um 3 Uhr in Bremgarten und um 4 Uhr hier in Ecublens, werden die Batches vom Logistiksystem berechnet, optimiert und erstellt. Die Picking Lists werden elektronisch an die mobilen Terminals der Verladearbeiter weitergeleitet, die die Produkte aus den einzelnen Bestellungen in Körben im Inneren einer Dispobox sammeln. Anschliessend werden diese Pakete nach ihren Bestimmungsorten gebündelt und an die verschiedenen Verteilzentren der Post weitergeleitet. Bis jetzt ist das Verfahren noch nicht vollständig papierlos, wodurch es immer wieder zu Unterbrechungen kommt – zum Beispiel, wenn die Etiketten gedruckt werden müssen, die auf die Körbe geklebt werden. Diese Unterbrechungen müssen in den Arbeitsablauf integriert werden, damit sie sich weniger negativ auswirken. In Zukunft kann das alles elektronisch über Scanning und Funkübertragung vonstattengehen. 

Zu Beginn des Jahres 2010 haben Sie eine iPhone-Applikation auf den Markt gebracht, die ein grosser Erfolg wurde. Warum haben Sie so lange gewartet?

Tatsächlich hat unsere Konkurrenz schon vor uns eine mobile Applikation herausgebracht. Wir hatten zwar schon lange eine ziemlich genaue Vorstellung von der Applikation für Smartphones, die wir entwickeln wollten. Wir wollten aber zunächst einmal das Potenzial ausloten. Gemäss unserer Firmenphilosophie sind wir keine Early Adopters. Bei uns steht vielmehr die Qualität im Vordergrund, weshalb wir gelegentlich zum First Follower werden. Wir hatten auch ganz spezifische Anforderungen formuliert. Vor allem sollte die Applikation auch offline funktionieren. Das hatte zwei Dinge zur Folge: Die Entwicklung wurde so noch teurer und zudem setzte sie nutzerseitig leistungsfähige Smartphones voraus. Schliesslich fanden wir in iEffects einen Partner, der die App basierend auf dessen Technik so entwickelte, dass sie eine schnelle und sozusagen transparente Synchronisierung für die Anwender ermöglicht. Das visuelle Design der Anwendung haben wir jedoch selbst entworfen – ich finde es sehr gelungen. Diese Arbeit darf nicht unterschätzt werden. Um die Applikation ansprechend zu gestalten, muss man sich auch um die Details kümmern, wie zum Beispiel die Icons auf dem Retina-Bildschirm. In dieser Hinsicht ist unser Ansatz komplett an dem von Apple ausgerichtet. Apple hat übrigens unsere Anwendung für einen Fernsehwerbespot benutzt. Eines Tages fragte uns die Werbeagentur von Apple in England an, ob sie sie verwenden dürfe – zunächst hielten wir das für einen Witz. Danach war die Anwendung LeShop zwei Monate lang in den Apple-Werbespots zu sehen: "Mit dem iPhone kann man online shoppen gehen." Darauf waren wir sehr stolz!

Welche Bedeutung hat die App heute für Ihr Geschäft?

Anfangs verzeichneten wir zigtausende Downloads. Heute wachsen die Downloads pa¬rallel zum Wachstum unserer Kundschaft. Die Anwendung ist sehr benutzerfreundlich und dank der lokalen Datenbank auch sehr schnell, zum Beispiel bei der Produktsuche.¬ Beinahe 10 Prozent aller Bestellungen werden bereits ganz oder teilweise über ein iPhone aufgegeben. Unsere Kunden nutzen das Gerät oft, um im Laufe des Tages eine über die Website ausgelöste Bestellung abzuschliessen. Das können sie tun, weil sie die Bestellung noch verändern können, solange sie noch nicht geschlossen ist. Wir denken nun über andere Plattformen wie beispielsweise Android nach, achten dabei aber auf die Kosten, die durch die Wartung mehrerer Applikationen entstehen können. Wir denken auch über Tablet-PCs nach, hier braucht es aber eine gründliche konzeptuelle Nutzenanalyse.

Sie sprachen von der Bedeutung der Logistik für Ihr Geschäftsmodell. Aus dem Erfolg Ihrer mobilen Anwendung könnte man schliessen, dass sich der kritische Pfad hin zur Kundenschnittstelle verschiebt.

In der Tat. Jetzt, da wir die Logistik beherrschen, ist es Zeit, das Nutzererlebnis anzugehen. Der Siegeszug des iPhone ist typisch für diese Entwicklung. Dies zwingt uns, unsere Denkweise zu überprüfen und eine neue Arbeitsmethode zu entwickeln, die sich an diese Plattformen anpasst. Es zeichnet sich schon ab, dass die künftige Methode anders sein wird als die, mit der wir uns so komfortabel eingerichtet haben. So kann man im Web beispielsweise ständig neue Funktionen hinzufügen, während man bei den mobilen Plattformen eine Wahl treffen und die Erfahrungen der Lambda-Anwender berücksichtigen muss. Dabei geht es letztlich um industrielles Design. Es ist übrigens schwierig, in diesem Bereich erfahrene Mitarbeiter zu finden. Aber das wird sich mit der Zeit geben, vielleicht mit Leuten, die aus der Welt der Videospiele kommen.

Welche anderen Initiativen sind wichtig für Ihre Informatik?

Wir haben die Vereinfachung unserer Infrastruktur abgeschlossen, indem wir sie weitreichend virtualisiert haben. Es geht nicht nur darum, VMware zu verwenden, sondern auch einfach zu verwaltende Lösungen einzusetzen. Die gesamten IT-Kosten sind ja sehr hoch. Wir müssen daher ständig bestrebt sein, die Infrastruktur und die Systeme zu optimieren. Zum Glück verfügen wir über ein kleines Informatikteam mit einem tollen Zusammenhalt. Wir kennen uns untereinander gut und wir sind schnell, wenn es darum geht, zu vereinfachen, Redundanzen zu beseitigen, mit unseren Geschäftspartnern zu verhandeln und nötige Kompromisse einzugehen. Wir arbeiten nach dem Pareto-Prinzip: 80 Prozent der Ergebnisse werden innerhalb von 20 Prozent des Aufwands erzielt. Den Rest vergessen wir. Das ist manchmal schwierig für die Informatikabsolventen, die frisch von der Uni kommen und alles entweder schwarz oder weiss sehen.

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