Holacracy bei der Webagentur

Wie Liip ohne Chefs funktioniert

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Seit Anfang 2016 setzt Liip auf Holacracy und hat damit Rollen statt Chefs. Die Redaktion fragte bei der Webagentur nach, welche Erfahrungen sie mit dem neuen System macht und wo die Vor- und Nachteile liegen. Tonio Zemp gibt Antworten.

Tonio Zemp von Liip. (Source: Netzmedien)
Tonio Zemp von Liip. (Source: Netzmedien)

Liip hat in den vergangenen Monaten einige Erfolge vorweisen können. Im Oktober 2017 zeichnete der Kanton Zürich die Webagentur mit dem "Prix Balance" aus. Zum Jahresanfang landete Liip in einem Ranking der Schweizer Firmen beim Jobportal Kununu auf Platz drei und gewann den "German Design Award". Im April holte das Unternehmen mit "Tooyoo" Gold bei Best of Swiss Web. Grund genug, die Webagentur genauer unter die Lupe zu nehmen. Liip setzt für die Entscheidungsfindung nämlich auf ein System, das sich von den in anderen Firmen üblichen Hierarchien und Steuerungsmethoden unterscheidet.

Seit dem 1. Januar 2016 verwendet das Unternehmen "Holacracy". Das ist eine Organisationsform, bei der Mitsprache, klare Zuständigkeiten und Flexibilität im Vordergrund stehen. Klassische Managementstrukturen und Entscheidungswege gibt es mit Holacracy nicht mehr.

Mitarbeitende müssen selbst Entscheidungen treffen

Der Umstieg auf Holacracy habe das Verantwortungsbewusstsein bei jedem einzelnen Mitarbeitenden gestärkt und zu mehr Transparenz bei Organisation und Prozessen geführt, sagt Tonio Zemp. Zemp ist "ehemaliges Mitglied der ehemaligen Geschäftsleitung" von Liip, wie es auf seinem Linkedin-Profil heisst. Dadurch dass jeder Entscheidungen treffe und dafür Verantwortung übernehme, müsse auch jeder über die Tätigkeiten der Firma Bescheid wissen. Die Zeiten, in denen man bei Unsicherheiten einfach einen Chef fragen konnte, seien vorbei, sagt Zemp. So führe Holacracy zwar zu mehr Freiheit, aber auch zu dem Druck, Entscheidungen selbst zu fällen. Das habe anfangs verunsichert, später aber ein risikobewusstes Arbeiten nach sich gezogen. Der effektiv verdiente Ertrag pro Stunde sei jedenfalls seit gut zwei Jahren auf einem Allzeithoch.

Schon bald nach der Einführung von Holacracy habe sich ausserdem gezeigt, dass mit dem neuen System Entscheidungen effizienter zustande kämen. "Wir hatten früher eine sehr auf Konsens orientierte Kultur. Dinge wurden über Stunden, Tage und Wochen diskutiert, bis jeder an Bord war", berichtet Zemp. Mit der heutigen Rollenverteilung habe Liip massiv an Geschwindigkeit zugelegt. Eine Umwälzung der bestehenden Strukturen und Prozesse sei Holacracy aber nicht gewesen. Schon vorher hätten die Teams bei Liip relativ viel Autonomie gehabt. Die grösste Veränderung sei deshalb die Abschaffung der Geschäftsleitung gewesen.

Holacracy hat auch Grenzen

Der Einfluss von Holacracy auf die Webentwicklung bei Liip war nach Ansicht von Zemp begrenzt. Das Modell eigne sich zur Organisation einer Firma, wenn es um Verantwortung und Kommunikation gehe. Es könne aber keine Antworten auf Fragen der Produktion geben. Hier sei der Einsatz von Scrum als Projektmanagement-Methode seit 2009 wichtiger. Zemp sieht deshalb auch keinen direkten Zusammenhang zwischen Holacracy und den Erfolgen der letzten Zeit.

Holacracy ist zudem nicht frei von Problemen. "Am meisten tut es im sozialen Bereich weh", sagt Zemp. Holacracy passe nicht zum Urtrieb des Menschen, sich in Gruppen zu organisieren. Früher habe sich bei Liip alles um Teams gedreht, heute stünden die Rollen im Vordergrund. Das habe mit den bestehenden Strukturen konkurriert und teils zu Problemen geführt, die bis heute nicht ganz gelöst seien. Mitarbeitende befänden sich in der Schwebe, weil ihre Rolle nicht definiert gewesen und die Zugehörigkeit zum Team weggefallen sei. "Die hatten dann plötzlich keine Homebase mehr und waren auf sich allein gestellt", sagt Zemp. Trotzdem überwögen bei Liip unter dem Strich die Vorteile des neuen Systems. Die Entscheidung für Holacracy habe sich als richtig erwiesen. Das System biete Wege, interne Hindernisse zu überwinden und in einem umkämpften Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Zwar könne es manchmal auch von Vorteil sein, wenn ein Chef das letzte Wort habe. Das selbstorganisierte Arbeiten mit Fokus auf Eigenverantwortung werde sich auf längere Sicht aber durchsetzen, ist Zemp überzeugt – auch in anderen Branchen.

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