ETH-Zukunftsblog

Demokratie 3.0

Uhr
von Roger Wattenhofer, ETH Zürich

Eine digitalisierte Demokratie brächte auch politisch ganz neue Möglichkeiten, über die es sich nachzudenken lohnt, meint Roger Wattenhofer.

Roger Wattenhofer. (Source: ETH Zürich/ethz.ch)
Roger Wattenhofer. (Source: ETH Zürich/ethz.ch)

Die Urform der schweizerischen Demokratie ist die Landsgemeinde. Heute jedoch praktizieren die allermeisten Schweizerinnen und Schweizer die Demokratie in der Version 2.0: Wir schreiben "Oui" oder "Nein" beziehungsweise eine Liste von Namen auf ein Blatt Papier. Eine Urne oder die Post nimmt dann unsere Entscheidungen entgegen. Und nun, als weitere Begleiterscheinung der Digitalisierung, debattiert man über e-Voting: Eine App soll das Papier ersetzen. Moderne e-Voting-Systeme können das Wahlgeheimnis wahren und gleichzeitig eine nachvollziehbare und unverfälschbare Wahl garantieren. Wenn wir ehrlich sind, hat die Landsgemeinde im Gegensatz dazu ein Problem mit dem Wahlgeheimnis, und die Papierwahl mit der Nachvollziehbarkeit.

Bessere Demokratie dank einer App?

Wie sicher e-Voting tatsächlich ist, ist eine ausgesprochen wichtige Diskussion, aber als Expertenstreit manchmal auch ein wenig langweilig. Viel spannender finde ich die Frage, ob die Digitalisierung unsere Demokratie weiterbringen kann. Bietet eine App einen Mehrwert gegenüber Papier? Eine Innovation ist vor allem dann interessant, wenn sich neue Möglichkeiten auftun. Kann eine App die Demokratie tatsächlich verbessern?

Ich muss dieser Diskussion vorausschicken, dass ich Schweizer bin, und als solcher (wie wahrscheinlich die Mehrheit aller Mitbürgerinnen und Mitbürger) Demokratie für eine tolle Sache halte, insbesondere die direkte Demokratie. Nicht-Schweizer sind da oft bedeutend skeptischer – man traut der Bevölkerung nicht zu, das Kreuz an der «richtigen» Stelle zu machen. Nun ja, so ganz unberechtigt ist diese Kritik nicht, wenn man bedenkt, dass manchmal bis zu 25 Prozent der abgegebenen Wahlzettel ungültig sind.

Etwas von der Sache verstehen, müssen wir immer

Demokratie ist aber keine Frage des Vertrauens in die Klugheit der Wähler, sondern eine Grundeinstellung: Jeder Mensch hat den gleichen Wert, unabhängig von zum Beispiel Einkommen oder Bildung. Sachfragen in einer direkten Demokratie müssen nicht komplizierter sein als Wahlen in einer repräsentativen Demokratie. Eine Wahl ist schliesslich eine Meta-Sachfrage: Wer Sachthemen nicht versteht, kann auch nicht wirklich abschätzen, welche Partei oder gar Lobby die Sachthemen am besten vertreten wird.

Falls Sie das nicht überzeugt, sollten Sie wohl besser nicht weiterlesen. Der Rest meines Textes richtet sich an Leute, die an eine möglichst direkte Demokratie glauben. Es soll darum gehen, was für ein Potential eine digitalisierte Demokratie hat. Einige Aspekte sind da schon anerkannt, zum Beispiel, dass wir ungültige Stimmen einfach vermeiden können. Unleserliche Handschriften sind kein Problem mehr, und die App kann uns sofort Feedback geben, wenn etwas nicht richtig ausgefüllt wird.

Wenn ich im Kanton Zürich wohne, muss ich zudem bei Nationalratswahlen 35 Namen auf eine Liste schreiben – angesichts der unüberschaubaren Schar von Kandidaten und Kandidatinnen und der Tatsache, dass ich keiner Partei so richtig über den Weg traue eine langwierige Aufgabe. Eine App könnte da unser Leben erheblich erleichtern. Schon heute liefern Plattformen wie beispielsweise Smartvote Wahlempfehlungen, indem sie eruieren, mit wem ich in Sachfragen die grösste Übereistimmung habe. Die App würde zudem noch meine persönlichen Präferenzen kennen («Keine Juristen oder Verwaltungsratsmandate») und mir so bei meiner Auswahl der passenden Kandidatinnen und Kandidaten helfen.

Lasst uns nuancierter abstimmen

Aber eine App würde noch viel mehr erlauben: Fragen müssten nicht mehr nur mit Ja oder Nein beantwortet werden, sondern liessen Nuancen zu. Zum Beispiel könnte man fragen, wie viel denn ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk pro Jahr kosten darf. Man sammelt alle Zahlen und legt den Betrag auf den Median der Antworten fest. Damit möchte genau die Hälfte der Bevölkerung lieber weniger, und die andere Hälfte lieber mehr ausgeben. Mehr Basisdemokratie geht nicht!

Oder alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger könnten zum Ausdruck bringen und auch priorisieren, welche der vorgeschlagenen Lösungen ihnen am liebsten sind, zum Beispiel: Lösung A ist der Favorit, am zweitliebsten B, aber auf keinen Fall C oder D. Dank der Digitalisierung wären solche komplexeren, aber auch differenzierteren Abstimmungen einfach möglich.

Und noch weitere Neuerungen wären in einer digitalisierten Demokratie denkbar: Elektronische Abstimmungen sind sehr billig. Dadurch hätten wir die Möglichkeit, über mehr Sachfragen abstimmen zu lassen. Und was, wenn jemand keine Lust hat abzustimmen? Warum nicht einfach die Stimme einer Person oder Organisation übertragen, der man vertraut? Oder je nach Thema verschiedenen Personen beziehungsweise Organisationen? Weil man selber jederzeit die Kontrolle über die delegierten digitalen Stimmen behält, könnte man immer noch einschreiten, wenn die Repräsentantin dann doch nicht so stimmt, wie man das möchte. Man kennt dieses Prinzip bereits als Delegated Voting oder Liquid Democracy – die Digitalisierung würde das aber vereinfachen.

Die Digitalisierung der Demokratie hat also das Potential, unsere Demokratie umfassend zu reformieren. E-Voting hat Vorteile, was die Nachvollziehbarkeit angeht, aber dies alleine ist nicht Grund genug, um es in der Schweiz einzuführen. E-Voting wird besonders dann interessant, wenn wir auch über echten Mehrwert und die Möglichkeiten dieser Demokratie 3.0 sprechen.

Dieser Beitrag erscheint ebenfalls in der "Schweiz am Wochenende". (Quelle: ETH Zukunftsblog)

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