Matthias Stürmer und Rika Koch im Interview

Was Nachhaltigkeit in der IT und im Beschaffungswesen bedeutet

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Nachhaltigkeit ist in der digitalen Welt zu einem Schlüsselbegriff geworden, der allerdings oft als Lippenbekenntnis herhalten muss. Wie Technologien tatsächlich zur nachhaltigen Entwicklung beitragen können und wie man echte Nachhaltigkeitsziele von Greenwashing unterscheiden kann, erklären Matthias Stürmer und Rika Koch von der Berner Fachhochschule.

Matthias Stürmer und Rika Koch von der Berner Fachhochschule. (Source: zVg)
Matthias Stürmer und Rika Koch von der Berner Fachhochschule. (Source: zVg)

Was unterscheidet das Konzept der digitalen Nachhaltigkeit von der Vorstellung einer nachhaltigen Digitalisierung?

Matthias Stürmer: Wichtige Frage, denn die zwei Prinzipien werden oft verwechselt! Die Perspektive der nachhaltigen Digitalisierung bezieht sich auf die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Digitalisierung. Es geht also darum, wie viel Nutzen und wie viel Schaden die digitale Transformation in Bezug auf das klassische Verständnis der Nachhaltigkeit verursacht. Beispielsweise nützt die Digitalisierung der Umwelt, wenn durch intelligente Verkehrsflusssteuerung (Smart Traffic) CO2 eingespart werden kann. Andererseits verbrauchen Rechenzentren für das Training von Modellen künstlicher Intelligenz viel Strom und andere Ressourcen, was wiederum klimaschädlich ist. Das sind wichtige Themen, die angegangen werden müssen. Digitale Nachhaltigkeit beschreibt dagegen noch einmal eine neue Perspektive: Bei der digitalen Nachhaltigkeit geht es darum, das digitale Wissen selbst als schützenswerte Ressource für unsere Gesellschaft zu betrachten. Diese Sichtweise erkennt digitale Güter wie Software und Daten als Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung, die daher für alle Menschen frei zugänglich sein sollten. So kann die Bevölkerung am besten von den Entwicklungen der digitalen Transformation profitieren. Die Vereinten Nationen haben deshalb auch den Begriff der "Digital Public Goods" eingeführt.

Was sind die wichtigsten Kriterien, die ein IT-Projekt für das ­Prädikat "digital nachhaltig" erfüllen muss?

Stürmer: Gemäss unserer Forschung gibt es derzeit zehn Voraussetzungen für die digitale Nachhaltigkeit von Software, Daten und Inhalten. Eine davon ist die Reife der digital nachhaltigen Güter. So muss eine Softwareanwendung funktional vollständig und sicher programmiert sein, wie beispielsweise im ISO-Standard 25010 zur Softwarequalität beschrieben, oder die Daten müssen eine hohe Genauigkeit, Vollständigkeit und Verfügbarkeit aufweisen. Ein weiteres Kriterium für digitale Nachhaltigkeit ist die offene Lizenz. So muss Software unter Open-Source-Lizenzen sowie Daten und Inhalte unter Creative-Commons-Lizenzen frei verfügbar sein. Wichtig ist auch, dass das Wissen auf verschiedene Organisationen und Personen verteilt ist, sodass beim Ausscheiden einzelner Unternehmen oder Mitwirkender nicht die gesamte Community zusammenbricht. Diese und weitere Kriterien müssen erfüllt sein, um von digital nachhaltigen Gütern sprechen zu können.

Digitalisierung und Umweltschutz klingt nach einem Widerspruch, zumal die Verbreitung von digitalen Technologien den Energieverbrauch steigert. Können Sie ein Beispiel nennen, wie die digitale Transformation einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leistet?

Stürmer: Es gibt viele sinnvolle Möglichkeiten für den nachhaltigen Einsatz von Digitaltechnologien. Beispielsweise werden unter dem Begriff "Smart Farming" Hardware, Software und Daten für die Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft genutzt. So ist es möglich, mittels Sensoren respektive des Internet of Things, Open Government Data wie etwa Wetterdaten und Data Science zum Beispiel den Düngemittelverbrauch zu reduzieren oder sparsamer zu bewässern. Des Weiteren ermöglichen "Smart Energy"-Technologien die Anpassung des Stromverbrauchs an die aktuellen Wetterbedingungen. Dadurch kann etwa das Auto in der Garage geladen werden, wenn gerade die Sonne scheint und Solarstrom auf dem eigenen Dach produziert wird. Insgesamt bieten die von den Vereinten Nationen definierten "Digital Public Goods" eine praktische Anleitung, wie Software, Daten, Modelle der künstlichen Intelligenz und weitere digitale Güter für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele eingesetzt werden können. Durch den "Digital Public Goods Standard" ist festgelegt, dass mindestens eines der Nachhaltigkeitsziele direkt adressiert werden muss. Im entsprechenden Online-Verzeichnis sind aktuell, also Stand Februar 2023, insgesamt 139 anerkannte Digital Public Goods erfasst.

Wie kann eine Organisation die Nachhaltigkeit ihrer IT fördern?

Stürmer: Bei der IT ist es einerseits wichtig, dass die Endbenutzergeräte möglichst lange in Betrieb sind, denn Laptops, Desktop-Computer oder Bildschirme verbrauchen den grössten Teil ihrer Energie bei der Herstellung, nicht im Gebrauch. So ist es auch wichtig, dass möglichst Software verwendet wird, die auch auf älterer Hardware performant läuft – so wie typischerweise Open-Source-Anwendungen. Andererseits lohnt es sich bei Server-Beschaffungen, sehr genau auf den Stromverbrauch zu achten. Energiesparende Komponenten lohnen sich da besonders, weil die Server oftmals viele Jahre in Betrieb sind und gleichzeitig Tag und Nacht ununterbrochen laufen.

Wie kann eine Behörde im Beschaffungsprozess ein echtes Nachhaltigkeitsversprechen von Greenwashing unterscheiden?

Stürmer: Bezüglich Stromverbrauch ist es beispielsweise sinnvoll, tatsächliche Verbrauchswerte zu messen statt bloss auf die Herstellerangaben zu vertrauen. Anbieter können dementsprechend von unabhängiger Seite Tests durchführen lassen. Praktisch sind natürlich auch Labels wie "Blauer Engel", Energy Star oder TCO, die Nachhaltigkeitskriterien vorgeben. Zahlreiche Leitfäden und Informationsquellen zeigen auf, wie IT nachhaltig beschafft werden kann. Die "IT-Beschaffungsstrategie für die zentralen IT-Beschaffungsstellen" erläutert detailliert die Möglichkeiten der nachhaltigen Beschaffung von Hardware. Und mit dem "Leitfaden zur umweltfreundlichen öffentlichen Beschaffung von Software" wird aufgezeigt, wie sogar Software-Anwendungen ressourcenschonend entwickelt und beschafft werden können. In der Schweiz gilt seit 2022 der "P025 - Ressourcen- und Umweltstandard für die Beschaffung der IKT-Infrastruktur", der ausführlich die Vorgaben für Hardware-Beschaffungen definiert.

2021 sind in der Schweiz ein neues Beschaffungsgesetz und das WTO-Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen in Kraft getreten. Inwiefern tragen diese Reglemente der Nachhaltigkeit Rechnung? Und warum waren diese Änderungen nötig?

Stürmer: Lange war umstritten, ob Nachhaltigkeitskriterien im öffentlichen Beschaffungswesen mit dem WTO-Recht vereinbar sind. Mit der Revision des WTO-Abkommens (GPA) wurden diese Zweifel 2012 aus dem Weg geräumt. Das ist erfreulich, weil das öffentliche Beschaffungswesen hier eine grosse Hebelwirkung entfalten kann. Auch in der Schweiz ist die Nachhaltigkeit als eines der Ziele der öffentlichen Beschaffung im neuen Submissionsgesetz verankert worden. Es geht somit nicht mehr darum, einfach die "wirtschaftlich günstigste" Offerte zu wählen. Heute gilt der Grundsatz, dass das "vorteilhafteste" Angebot den Zuschlag erhält. Die wirtschaftliche Nachhaltigkeit muss sich somit mit der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit die Waage halten, das heisst, der Anschaffungspreis verliert an Gewicht. Nachhaltigkeitskriterien wie Langlebigkeit der Geräte oder tiefer Stromverbrauch sind natürlich auch aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll für die Beschaffungsstellen. Wenn es jedoch um höherwertige Produkte geht, dann müssen oft auch höhere Kosten in Kauf genommen werden.

Welche Erfahrungen haben die Behörden mit den neuen Vorgaben gemacht? Sind IT-Grossprojekte bereits nachhaltiger geworden?

Rika Koch: Noch befinden wir uns in einer Umbruchphase: Viele Beschaffungsbehörden tasten sich momentan an das Thema nachhaltige Beschaffung heran. Guidelines gibt es einige, mehr im Hardware-, aber auch im Software-Bereich. Jetzt gilt es, damit Praxiserfahrungen zu sammeln. Ob IT-Projekte bereits nachhaltiger geworden sind, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwierig zu sagen. Auf unserer Plattform "Intelliprocure" werden Ausschreibungen statistisch erfasst und Ausschreibungsunterlagen können eingesehen werden. Wenn wir dort den Filter "Nachhaltigkeit" setzen, liesse sich bei IT-Ausschreibungen sicher bereits eine Zunahme von Nachhaltigkeitskriterien beobachten. Einige Behörden beginnen auch, den Preis weniger stark zu gewichten (unter 50 Prozent) und der Qualität – zu der eben auch Nachhaltigkeit gehört – mehr Gewicht zu geben. Genaue Analysen, welche die Beschaffungsstatistiken gezielt in Bezug auf Nachhaltigkeit auswerten, gibt es noch nicht – wir arbeiten dran!  

Wo besteht Ihrer Ansicht nach noch Verbesserungsbedarf? Und wer ist diesbezüglich gefordert?

Koch: Viele Beschaffungsbehörden sind noch nicht allzu vertraut mit dem neuen Beschaffungsgesetz, das übrigens auch noch nicht in allen Kantonen in Kraft getreten ist. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Nachhaltigkeitskriterien noch nicht zum Standardrepertoire gehören und dass der Preis immer noch oft das wichtigste Kriterium ist. Das wird sich hoffentlich bald ändern. Zudem macht sich bei einigen Anbietern Frust breit, dass Beschaffungsbehörden zu viel in ihre Ausschreibungen "reinpacken", beziehungsweise noch zu wenig lösungsorientiert und funktional ausschreiben. Das ist schade, denn durch funktionale Ausschreibungen könnte Innovationspotenzial genutzt werden.  

Wer hat in puncto Nachhaltigkeitsvorgaben die Nase vorn: die Schweiz oder die WTO?

Koch: Das lässt sich nicht eins zu eins vergleichen: Die WTO ist eine internationale Organisation, die für ihre Mitgliedstaaten freiwillige Spielregeln für das öffentliche Beschaffungswesen definiert. Diese Spielregeln bilden nur den Rahmen: Die einzelnen Länder müssen sie in ihren nationalen Gesetzen umsetzen und ergänzen. Die Schweiz hat aber den Impuls des 2012 revidierten WTO-Rechts genutzt und die Spielräume für Nachhaltigkeit in das Schweizer Beschaffungsrecht übernommen. Die Nase vorn hat diesbezüglich die EU, deren Mitglieder auch der WTO angehören. Die EU ist seit Langem Vorreiterin und hat die nachhaltige Beschaffung bereits 2004 im Unionsrecht verankert. Vereinzelte Länder gehen noch einen Schritt weiter: In Italien ist die nachhaltige Beschaffung in einigen Sektoren gar schon obligatorisch.

 

Über "Intelliprocure"

Mit Intelliprocure hat die Berner Fachhochschule eine Plattform entwickelt, auf der alle Ausschreibungen (inkl. Unterlagen) und Zuschläge eingesehen und nach verschiedenen Stichworten sortiert werden können (z.B. nach Beschaffungsbehörden wie "Bundesamt für Informatik und Telekommunikation BIT" oder nach Kriterien wie "Nachhaltigkeit"). Auch die Art der Ausschreibung wird dort ersichtlich. So konnte Stürmer aufzeigen, dass die Zahl der "IT-Freihänder" stetig zunimmt.

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