Editorial

Vom Korrektiv zur Marktmacht

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Joël Orizet, stellvertretender Chefredaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)
Joël Orizet, stellvertretender Chefredaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)

Elon Musk ist verwirrt – das teilte er zumindest auf Twitter mit. Und bei dieser Frage ist die Verwirrung nachvollziehbar: "Wie ist aus einer Non-Profit-Organisation, der ich rund 100 Millionen US-Dollar gespendet habe, ein gewinnorientiertes Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 30 Milliarden Dollar geworden?", twitterte Musk am 15. März. "Wenn das legal ist, warum machen es dann nicht alle?"

Das fragliche Unternehmen heisst OpenAI und hat tatsächlich eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht: vom offenen, gemeinnützigen Forschungslabor, das als Alternative zu den reichen Technologiekonzernen auftrat und KI-Projekte zum Nutzen der Menschheit stemmen wollte – bis zum heutigen Milliarden-Start-up, das die Tech-Giganten im Rennen um die KI-Vorherrschaft vor sich hertreibt.

Verblüffend ist jedoch nur, wie schnell die 2015 gegründete Organisation ihre Charta von "Non-Profit" zu "Capped-Profit" änderte. Letzteres gilt seit 2019 und bedeutet für OpenAI, dass die Investitionen in das Unternehmen höchstens das 100-fache an Rendite einbringen dürfen. Dass die Firma diese Veränderung durchmachte, also mit angeblich hohen moralischen Ansprüchen an den Start ging und sich später möglichst unauffällig davon abkehrte, ist für ein kalifornisches Unternehmen allerdings nichts Besonderes. Im Gegenteil.  

Das haben die Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley gemeinsam: Sie alle behaupten, sie wollten die Welt verbessern. Amazon Web Services wirbt beispielsweise heute noch mit dem Spruch: "Making the world a better place with the AWS Cloud." Facebook bezeichnete es als seine Mission, die Welt offener und vernetzter zu machen. Und in Googles Verhaltenskodex stand jahrelang der lapidare Leitsatz: "Don’t be evil."

Es ist kein Zufall, dass die Unternehmenskultur der Tech-Giganten einer bestimmten Überzeugung entspringt: dem Glauben daran, dass es auf jedes soziale Problem eine technologische Antwort gibt. Dieser Glaube gipfelt in der Tendenz, die der Digitaltheoretiker Evgeny Morozov als Solutionismus bezeichnet. Er beschreibt damit eine Ideologie, die Menschen dazu bringt, Lösungen präsentieren zu wollen, ohne zu hinterfragen, welches Problem diese Lösungen denn adressieren sollen, worin das Problem überhaupt besteht und wen es betrifft.

Warum es kein Zufall ist, dass sich die Entrepreneurs und selbsternannten Evangelists der Technologiebranche einen solchen moralischen Überbau zurechtlegen? Die solutionistische Ethik, so argumentiert der Soziologe Oliver Nachtwey unter Bezugnahme auf den Fachklassiker Max Weber, erfüllt eine ähnliche Funktion wie seinerzeit die protestantische Ethik für die Entwicklung des modernen Kapitalismus: Sie verschafft den Menschen eine Motivation und eine Rechtfertigung für ökonomisches Handeln. Wenn das oberste Gebot vordergründig darin besteht, Lösungen für alle möglichen Menschheitsprobleme zu entwickeln, kann man den Wachstumstrieb, das Profitstreben und die Steuervermeidungstricks der Konzerne als notwendige Mittel zum Zweck abtun.

Diese quasireligiöse Überzeugung ist jedoch nicht bloss Heuchelei. Anhand von Inhaltsanalysen und Experteninterviews konnte Nachtwey empirisch aufzeigen, dass es die Solutionisten durchaus ernst meinen mit ihren Verheissungen. Das spielt allerdings keine Rolle. Denn ab einem bestimmten Punkt, an dem ein Unternehmen gross genug ist und von sich behaupten kann, einen Markt oder ganze Lebensbereiche disruptiert zu haben, verblasst dieses Motiv der Weltverbesserung. Der Markterfolg wird zum Selbstzweck. Und wer ab diesem Moment weiterhin ans Allgemeinwohl appelliert oder an Gerechtigkeit und Freiheit, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel.

OpenAI hat diesen Wendepunkt antizipiert. Elon Musk hat ihn verpasst. Die Anhänger des vermeintlichen Retters der Redefreiheit mögen ihm verzeihen – die Angestellten bei Twitter wohl eher nicht.

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