IT-Skandale in der öffentlichen Verwaltung

"Ein Projektleiter wird jede Ausschreibung umgehen, die er umgehen kann"

Uhr | Aktualisiert
von Kaspar Wolfensberger und Marcel Maurice Urech

Die Schweiz ist von Skandalen um inkorrekte IT-Vergaben durch die öffentliche Hand erschüttert worden. Ein Experte, der sich mit dieser Thematik auskennt, ist Matthias Günter. Im Gespräch mit der Netzwoche sucht er nach Gründen.

Matthias Günter war zehn Jahre Informatikleiter beim Institut für Geistiges Eigentum und ist heute Inhaber der IT-Firma Gnostx
Matthias Günter war zehn Jahre Informatikleiter beim Institut für Geistiges Eigentum und ist heute Inhaber der IT-Firma Gnostx

Die Netzwoche hat den promovierten Informatiker Matthias Günter zum Thema "Korruption bei IT-Vergaben" interviewt. Günter ist seit mehr als zwanzig Jahren in der ICT-Branche tätig. Mehrheitlich ist er als Inhaber der Firma GnostX GmbH in den Bereichen IT-Management, strategische Beratung, Projektleitung, Strategieentwicklung, Businessanalyse und Organisationsentwicklung aktiv. Mehr als zehn Jahre leitete er zudem als CIO eine grössere Informatikabteilung mit eigener Softwareentwicklung und eigenem Rechenzentrum. Vor kurzem hat Günter ausserdem ein Buch publiziert. Es trägt den Titel „Die Kundenrolle in IT-Projekten“ und ist für 42,90 Schweizer Franken (auch als Ebook) erhältlich (ISBN-13: 978-3732205677).

Herr Günter, in den letzten Jahren hat der Bund immer wieder IT-Projekte freihändig vergeben, zuletzt im Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. Der Fall wurde erst nach etlichen Jahren publik. Warum dauerte es so lange, bis die inkorrekten Vergaben jemandem aufgefallen sind?

Freihändige Vergaben waren früher häufiger und tolerierter. Die Transparenz wird erst in den letzten Jahren gefordert und gelebt. Es gibt daher noch "Leichen im Keller". Es war früher gängige Praxis, dass nach der Initialbeschaffung die Pflege und Wartung weiter an die gleiche Firma ging. Das ergibt in vielen Fällen auch Sinn, auch wenn es schon damals nicht strikt konform war. Es gibt zudem Ausnahmebedingungen für Beschaffungen. Diese werden heute strikter ausgelegt als früher.

Gibt es Gründe warum der Bund IT-Projekte nicht ausschreiben sollte?

Ausschreibungen führen nicht zwingend zu einer besseren Lösung. Für die Abwicklung komplexer IT-Projekte braucht man Partner und nicht einfach Lieferanten. Findet man diese und baut sie auf, will man sie nicht einfach wieder wechseln. In der Privatwirtschaft käme auch niemand auf eine solche Idee. Der Partner hat auch viel spezifisches Wissen, das ein neuer Lieferant aufbauen müsste, was Kosten verursacht. Für komplexe Anwendungen ist daher ein Wechsel nur beim Lebensende eines Produktes sinnvoll möglich. Ausserdem wollen die Benutzer, die sich an ein bestimmtes Produkt gewöhnt haben, auch meist nicht wechseln. Ein weiteres Problem ist, dass die Leitungen der Ämter - aber auch die Politik – sich zum Teil zu wenig mit der Informatik, den Prozessanpassungen und den notwendigen Vorlaufzeiten für Projekte beschäftigen. Eine Ausschreibung verschlingt rund sechs bis zwölf Monate. Eine freihändige Vergabe stellt bei grossen Beträgen einen Fehler dar, ist aber für sich  noch keine Korruption.

Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass der Bund das öffentliche Vergaberecht zu wenig Ernst nimmt.

Er hat sich zu wenig darum gekümmert. Fehlerhafte Beschaffungen waren ein Kavaliersdelikt ohne Folgen oder sogar eine taktische Entscheidung, um ein Projekt schneller abzuwickeln. Jetzt müssen Ausschreibungen viel strategischer behandelt und die Vorläufe eingeplant werden. Das kann auch heissen, dass Projekte erst Jahre später eingeführt werden. Es dauert also länger bis Informatiksysteme nach einer korrekten Ausschreibung auch bereit sind. Die Chance des "end of life" zur Evaluation von Fachanwendungen muss vermehrt strategisch für Neuorientierungen genutzt werden.

Sie haben erwähnt, dass Ausschreibungen nicht automatisch zu einer besseren Lösung führen. Lassen Sie uns nochmals nachhaken. Sollten Projekte immer ausgeschrieben werden oder ist das zu aufwendig?

Der Aufwand ist bei Werkverträgen zu hoch und zum Teil unsinnig. Wenn 15 Anbieter ein Konzept erarbeiten müssen, hätte es mit dem Aufwand bereits durchgeführt werden können. Ausschreibungen sollen grundsätzlich zwei Ziele erreichen: das wirtschaftlich günstigste Angebot für die Verwaltung und die Herstellung eines Marktes. Beides erreicht das heutige Vorgehen nur bedingt. Es gibt immer Möglichkeiten, nur gewisse "Hoflieferanten" zu berücksichtigen. Anforderungen wie "Kennt die folgenden Prozesse unseres Amtes sehr gut" sind ein Hinweis darauf. Die Einarbeitung eines neuen Lieferanten kostet zudem auch Steuergeld.

Was sind mögliche Folgen hiervon?

Der Aufwand der Ausschreibungen hat inzwischen dazu geführt, dass Ausschreibungen immer grössere Volumina annehmen. Dies kann einen Markt nachhaltig zerstören, weil es bei der nächsten Runde nur noch einen Anbieter gibt, da die anderen wegen fehlender Kunden die Nische verlassen haben. Der Bund unterschätzt häufig seine Nachfragemacht und damit die Wirkung auf die Wirtschaft. Er müsste in solchen Fällen systematisch einen zweiten Anbieter aufgebaut halten, damit der Preis des Hauptanbieters gedrückt werden kann. Die Drohung eines Wechsels muss glaubwürdig sein, wenn sie funktionieren soll.

Wenn wir ihre Prämisse akzeptieren, dass Ausschreibungen nicht immer zielführend sind: Wann genau sind freihändige Vergaben denn gerechtfertigt?

Gerechtfertigt sind die freihändigen Vergaben gemäss aktueller Rechtslage bei einem der Ausnahmegründe gemäss Artikel 13 der Verordnung über das öffentliche Beschaffungswesen (VöB). Das heisst, es gibt zum Beispiel nur einen Anbieter oder der Preis liegt unterhalb der "WTO-Schwelle", wobei der Preis inklusive 48 Monate Betrieb zu rechnen ist. Konkret besagt der WTO-Schwellenwert übrigens, dass der Bund einen Auftrag ab einem Betrag von 230'000 Franken für Waren sowie Dienstleistungen und ab 8,7 Millionen Franken für Bauten öffentlich ausschreiben muss. Das ist die juristische Seite.

Nebst juristischen Aspekten, wie wichtig ist für Sie die Wirtschaftlichkeit?

Eine gute freihändige Vergabe sollte natürlich auch wirtschaftlich sinnvoll erfolgt sein. Dies lässt sich nach aussen aber natürlich nicht so gut belegen wie mit einer ausgefüllten Bewertungstabelle bei einer Ausschreibung. Ich persönlich finde freihändige Vergaben auch dann gerechtfertigt, wenn sowieso kein Wille vorhanden ist, einen Markt zu schaffen, den Lieferanten zu wechseln oder den Preis systematisch zu drücken. Dann könnte man sich das Feigenblatt auch schenken und dazu stehen. Das betrifft in der heutigen Situation zum Beispiel Betriebssystem, Office, ERP. Ausschreibungen in diesem Bereich wären einfach verschwendete Energie.

Würden Sie auch sagen, dass ein Vorteil freihändiger Vergaben ist, dass Sie unkomplizierter sind?

Richtig. Sie sind einfach und unbürokratisch. In den meisten Verwaltungen gibt es drei Stufen. Effektiv freihändig geht es nur bis zu einem Betrag von 50'000 Franken. Im Bereich bis zur WTO-Schwelle gilt dann gemäss den Einkaufshandbüchern meist ein Einladungsverfahren. Drei Firmen werden angefragt eine Offerte zu stellen. Auf diese Weise kann ebenso ein Markt und Preisdruck erzeugt werden.

Oft hört man, dass Kosten bei IT-Projekten schwierig abzuschätzen sind. Warum ist das so?

Es gibt verschiedene Aspekte, die IT-Projekte schwer abschätzbar machen. Erstens sind die Vorhaben komplex und die beteiligten Akteure sehen das Problem zum ersten Mal. Zweitens sind die Governance- und Management-Aufsicht tendenziell ungenügend. Das ist gravierend, da IT-Projekte immer die Geschäftsprozesse umbauen. Änderungen von Prozessen gehören zu den schwierigeren Punkten in jedem Projekt. Drittens sind Prozesse in der öffentlichen Verwaltung mit politischen Prozessen verzahnt. Das heisst, dass es sehr viele Akteure mit unterschiedlichen Vorstellungen über Ziele und Wege gibt. Im Vergleich zu den Gesetzgebungsvorhaben könnte man diesbezüglich die "reinen" IT-Projekte als geradlinig und effizient bezeichnen. Zu diesem Problemfeld gehört auch, dass oft versucht wird, Dauer und Kosten eines Projekts dem politisch Machbaren statt den effektiven Gegebenheiten anzupassen. Ausserdem haben die externen Lieferanten nicht dieselben Ziele wie die Verwaltung. Ein Lieferant kann einen tiefen Preis offerieren und dann jede kleine Änderung in Rechnung stellen. Falls also die verwaltungsinterne Berechnung der Kosten auf dem tiefen Preis basierte, stimmt sie nicht. Der Auftraggeber muss daher selber ein Bild der Gesamtkosten haben. Die Risikoplanung muss sorgfältig gemacht werden. Der Erwartungswert der Risiken muss als zusätzliche Kosten ebenfalls eingeplant sein.

Sie verfügen selbst über Berufserfahrung in der öffentlichen Verwaltung. Welche Lehren müssten aus den aktuellen Ereignissen gezogen werden, damit inkorrekte Vergaben in Zukunft unterbunden werden können?

Einerseits müsste das Beschaffungswesen vereinfacht und die WTO-Schwelle für IT-Projekte angehoben werden. Ein Register aller vergebenen Aufträge könnte hier die notwendige Transparenz schaffen. Von Seiten der Verwaltung wird zwar befürchtet, dass einige Firmen dies nicht wollen. Zumindest die Exekutive und die Finanzkontrolle sollten ein solches Register zur Durchsicht aber konsultieren können. Im Bereich Kommunikation und Architektur müssten zudem die Konzepte der Finalisten vom Bund bezahlt werden. Das führt dazu, dass man sich vorher überlegt, wie in einer ersten Runde möglichst stark eingeschränkt werden kann und die zweite Runde schliesslich nur mit drei Lieferanten fortgesetzt wird. Dies finde ich auch für die Informatik sehr sinnvoll.

Was gibt es weiter zu beachten?

Die Verwaltung ist ein strategisch wichtiger Markt für die Informatik und umgekehrt. Es kann nicht sein, dass behauptet wird, in der Schweiz gebe es keine IT-Skills, darum müsse man mit NSA-Zulieferern zusammenarbeiten. Die Verwaltung kann mit Forschungsaufträgen und Zusammenarbeit mit Fachhochschulen und Hochschulen die notwendigen Spezialisten für sich ausbilden. Die Verwaltung  sollte ein Art "Ökosystem von Firmen" aufbauen, die sie beliefern können, gerade auch für sensible Bereiche. Dies bedingt natürlich, dass nicht mehr jedes Amt für sich an Lösungen basteln kann. Die strategische Planung von IT-Vorhaben muss von Verwaltung, Exekutive und Parlament daher besser berücksichtigt werden. Dies ist auch eines der Ziele der parlamentarischen Gruppe "digitale Nachhaltigkeit". Vorlaufzeiten sind zu berücksichtigen. Auch die Beschaffungen müssen in einer Gesamtsicht durchgeführt werden. Mit strategischen Partnerschaften hat die Verwaltung damit angefangen und ist grundsätzlich auf gutem Weg. Der Bund hat übrigens für das Controlling grosser Projekte bei der Eidgenössischen Finanzkontrolle eine Stelle geschaffen. Diese muss aktiv werden und sich auch gegenüber der Öffentlichkeit klar positionieren.

Fehlt es bei Beschaffungen auch an Erfahrungen im Projektmanagement?

Tendenziell ist das so, aber der Projektleiter ist die falsche Stelle für diese Kompetenz. Ein Projektleiter wird jede Ausschreibung umgehen, die er umgehen kann. Er will schliesslich Zeit sparen, von der man ihm tendenziell zu wenig gegeben hat. Beschaffungen sind daher Aufgabe der Geschäftsleitung und des Auftraggebers. Die eigentliche Arbeit kann dann  an den CIO delegiert werden. Generell sind strategische Überlegungen dem Projektleiter als Leitlinien mitzugeben. Daher muss auch das Projekt- und Prozessmanagementwissen in den Chefetagen aufgebaut werden.

Welche weiteren Massnahmen sehen Sie um inkorrekte Vergaben zu vermeiden? Wer könnte diese durchführen?

Wie erwähnt, tut sich bereits einiges. Von der Seite der Politik sollten vor allem die Rahmenbedingungen verbessert werden. Wenn das öffentliche System effizienter wäre als das der Privatwirtschaft, würde diese auch damit arbeiten. Bei den aktuellen Vorgaben ist so etwas unvorstellbar. Das sollte zu denken geben. Eine wichtige Rolle übernimmt sicherlich die jährliche Beschaffungskonferenz des Vereins CH Open zusammen mit ISB und BBL, die einen Beitrag zum besseren Verständnis liefern kann. Ein anderer wichtiger Akteur ist der Verband SwissICT. Er arbeitet an einem Leitfaden, der Beschaffungen im Bereich von unter drei Millionen möglichst einfach gestalten helfen soll.

Und wer soll das Controlling übernehmen?

Die Geschäftsleitungen der Ämter und die Politik müssen Grossprojekte und Beschaffungen ernst nehmen und  die strategische Informatikplanung stärken. Als Element dazu können sie entweder selber ein Controlling aufbauen oder sie überlassen diese Aufgabe der Finanzkontrolle. Es ist auch möglich, eine externe Firma zu beauftragen, das Controlling durchzuführen. Der Knackpunkt bei der externen Vergabe ist der konkrete Auftrag: Kontrolle, nicht Einmischung. Aufdecken von Missständen, nicht Offerieren von eigenen Lösungen. Coaching des Auftraggebers bezüglich des Beschaffungsprozesses, nicht Akquisition von Beratermandaten.

Herr Günter, vielen Dank für dieses Interview.

 

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