Interview mit Tino Senoner, Dynaskills

Warum Kündigungswellen und der Fachkräftemangel kein Widerspruch sind

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Auch in Zeiten des Fachkräftemangels bauen viele Firmen massiv Stellen ab. Arbeitsmarktexperte Tino Senoner erklärt, wie das zusammenpasst und warum die Kündigungswelle 2024 weitergeht.

Tino Senoner, Geschäftsführer, Dynaskills. (Source: zVg)
Tino Senoner, Geschäftsführer, Dynaskills. (Source: zVg)

In den vergangenen Wochen und Monaten haben zahlreiche Firmen in der Schweiz massenhaft Angestellte entlassen, auch IT-Firmen – allen voran Google. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Tino Senoner: Die aktuelle Entlassungswelle in der Schweiz ist trotz ihrer Medienpräsenz nicht ungewöhnlich. Gemäss Schweizer Recht muss ein grösserer Stellenabbau öffentlich gemacht werden; dieser geschieht oft zwischen September und November. Dieses Jahr meldeten 18 Unternehmen insgesamt 8339 Stellenkürzungen, was im Vergleich zum Aufbau von 114 000 Arbeitsplätzen im selben Zeitraum gering ist. Die Ankündigung von Google fällt in eine ähnliche Kategorie wie die vorherigen von grossen US-Unternehmen wie Microsoft, Amazon oder Facebook und wurde vor allem wegen des bedeutenden Standorts Zürich in der Schweiz hervorgehoben.

In welchen Abteilungen werden derzeit die meisten Stellen abgebaut?

Die meisten Stellenkürzungen finden derzeit in administrativen Bereichen statt, beeinflusst durch den technologischen Fortschritt. Zudem ersetzen Onlinedienste zunehmend Frontoffice-Aktivitäten, etwa Schalterdienste bei Banken oder der Post. Im Gegensatz dazu sind ICT-Fachkräfte weitgehend vom Stellenabbau ausgenommen. Sie tragen zur Lösung bei, indem sie durch die digitale Transformation von Prozessen, wie etwa der Reduzierung unproduktiver Tätigkeiten im Pflegebereich, eine effizientere Arbeitsweise ermöglichen.

Müssen die Entlassungen jeweils isoliert betrachtet werden oder lässt sich daraus ein Trend ableiten?

Diese Entwicklungen sind branchen- und technologieabhängig und sollten für jedes Unternehmen individuell betrachtet werden. Die Flexibilität und Proaktivität des Unternehmens spielen dabei eine wichtige Rolle. Der 2023 angekündigte Stellenabbau betrifft weniger als 10 Prozent der jeweiligen Belegschaften, was normalerweise durch die natürliche Fluktuation ausgeglichen werden kann. Notwendige Entlassungen deuten möglicherweise darauf hin, dass das Unternehmen von der Entwicklung überrascht wurde. Stellenabbau ist nicht gleichzusetzen mit Entlassungen. Studien zeigen, dass 97 Prozent von geplanten Stellenabbau betroffenen Personen oft durch Upskilling, neue Stellen finden, häufig im selben Unternehmen.

Glauben Sie, dass sich die Kündigungswelle 2024 fortsetzen wird?

Die Beschleunigung des Arbeitsmarktwandels und die noch nicht ausreichend angepasste digitale Transformation der Mitarbeiterentwicklung könnten in der Tat zu einer Fortsetzung der Kündigungswelle 2024 führen. Es ist wahrscheinlich, dass dies zu einem zunehmenden Stellenabbau und möglicherweise auch zu vermehrten Entlassungen führen wird. Trotzdem ist mit einem weiteren Anstieg des Fachkräftemangels zu rechnen.

Wenn es an qualifizierten Arbeitskräften fehlt, warum werden dann so viele Personen entlassen?

Der Fachkräftemangel betrifft spezifische Qualifikationen, die nicht notwendigerweise mit den vom Stellenabbau betroffenen Mitarbeitenden übereinstimmen. Qualifizierte Fachkräfte verlassen oft freiwillig ihre Positionen. Der aktuelle Arbeitsmarktumbruch bedeutet, dass die Fähigkeiten von Mitarbeitenden, die vom Stellenabbau betroffen sind, nicht unbedingt mit den gefragten Qualifikationen übereinstimmen. Unternehmen müssen innovative Ansätze entwickeln, um ihre Belegschaft weiterzubilden und in neue, passendere Rollen zu integrieren. Dies ist entscheidend, um den Wert der bestehenden Belegschaft zu maximieren und den Herausforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden.

Im September haben Sie prognostiziert, dass sich die Lage am Jobmarkt Anfang 2024 zuspitzen und die Nachfrage nach Personal zunehmen wird. Bleiben Sie bei dieser Vorhersage?

Ja, ich bleibe bei meiner Vorhersage. Trotz Diskussionen über Stellenabbau im vierten Quartal 2023 zeigt sich, dass die Zahl der Arbeitsplätze und der Fachkräftemangel weiter ansteigen. Dieser Trend dürfte sich auch 2024 fortsetzen. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften in verschiedenen Branchen nimmt zu, was die Situation auf dem Jobmarkt weiter verschärfen wird. Daher ist zu erwarten, dass die Nachfrage nach Personal Anfang 2024 weiter ansteigen und die bereits angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich intensivieren wird.

Was können Firmen tun, um 2024 aus dem Fachkräftemangel herauszukommen?

Um 2024 aus dem Fachkräftemangel herauszukommen, sollten Firmen den Fokus von reinen Stellenab- und -aufbauten auf eine nachhaltige Kompetenzentwicklung legen, beispielsweise durch Upskilling. Langfristige Massnahmen sind entscheidend, insbesondere für mittlere bis grosse Unternehmen, wie die Einrichtung einer '2030 Taskforce', die sich ernsthaft mit dem Fachkräftemangel auseinandersetzt. Es ist wichtig, dass der Verwaltungsrat durch entscheidungsunterstützende Fakten geleitet wird, um sofortiges und wirksames Handeln gegen den Fachkräftemangel zu ermöglichen.

Welche Massnahmen können dafür bereits jetzt getroffen werden?

In der Schweiz könnten etwa 600'000 Menschen durch geeignete Integrationsmassnahmen effektiver im Kampf gegen den Fachkräftemangel eingesetzt werden. Unternehmen können profitieren, wenn sie ihre Prozesse und Stellen an die verfügbaren Arbeitskräfte anpassen, wobei erfolgreiche Modelle aus dem Ausland als Vorlage dienen können. Es wird empfohlen, Führungskräfte in diesen neuen Methoden zu schulen, um sie effektiv umzusetzen.

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