Wie Migros Online auf KI setzen will, ohne das Rad neu zu erfinden

Welche Aufgaben werden Sie als neue Technologiechefin bei Migros Online anpacken?

Isabel Steiner: Migros Online ist technologisch bereits sehr stark aufgestellt. Ich werde zuerst mal alle Eindrücke sammeln und herausfinden, wie ich mein neues Team bestmöglich unterstützen kann. Daher ist meine erste Aufgabe: zuhören und lernen.

Sie waren seit der Gründung im Sommer 2023 Lead Engineer bei AlpineAI und haben das Unternehmen damit quasi mit aufgebaut. Warum kam es nun zum Jobwechsel?

Dies war immer ein Ad-interim-Arrangement. Ich habe Marcel Blattner, einen guten Freund und CTO von AlpineAI, sehr gerne beim Recruiting und bei der Erstellung von ersten Prototypen unterstützt. Diese Zusammenarbeit hat mir sehr viel Spass gemacht.

Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse aus der Zeit bei AlpineAI und der Arbeit an SwissGPT?

Mir wurde wieder einmal bewusst, wie wichtig es ist, ein funktionierendes Team von engagierten und motivierten Leuten um sich zu haben. Dann sind auch technologische Hürden kein Problem.

Mit welchen technologischen Hürden hatten Sie zu kämpfen?

Wie für jedes AI-Start-up, welches selbst die Infrastruktur für KI-Dienste hosten möchte, sind die grössten Challenges, dies so zu machen, dass es höchst sicher ist und trotzdem nicht ein Vermögen kostet. Wie wir aus den Medien und unserer eigenen Erfahrung wissen, ist die Infrastruktur im Rahmen von künstlicher Intelligenz teuer und schwierig zu beschaffen. Ebenfalls muss man die besten Leute anlocken, die man auf dem Markt bekommen kann. Der CTO von AlpineAI und ich haben zum Glück schon einmal in diesem Bereich zusammengearbeitet und konnten auf unser Netzwerk zurückgreifen.

Werden Sie Ihre Erfahrungen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz auch bei Migros Online einfliessen lassen?

Bei Migros Online gibt es schon einige Bestrebungen in diese Richtung, die ich sehr gerne unterstützen und begleiten werde. Es gibt ebenfalls sehr fähige Data Scientists und Data Engineers, welche sich auf die vielen potenziellen Handlungsfelder freuen. Wir müssen aber auch schauen, dass wir das Rad nicht neu erfinden. Unsere Suppliers (unter anderem Microsoft und Google) sind bereits mit sehr viel Power daran, KI-Fähigkeiten in unsere Services und Tools einzubauen. Davon können wir schnell und einfach profitieren.

Wie?

Wir werden die vielen sinnvollen Initiativen, welche es bereits gibt, in einen strategischen Kontext stellen und abwägen, wo es sich lohnt, Ressourcen einzusetzen. Hier sind natürlich Projekte im Fokus, welche unser Kerngeschäft unterstützen und unsere Organisation noch effektiver machen. Was mir noch fehlt, ist ein persönlicher AI Assistent, der meine administrativen Anliegen für mich erledigt (Meetings buchen und umbuchen, etc.)

Können Sie genauer auf die geplanten Projekte eingehen?

Zu diesem Zeitpunkt nicht. Zuerst werden wir die bestehende Roadmap weiterverfolgen. Erst später dieses Jahr werden wir weitere Vorhaben genauer definieren und in Angriff nehmen.

Anders gefragt: Welche Rolle spielt die KI in Zukunft bei Migros Online?

KI spielt in jedem Unternehmen eine sehr grosse Rolle in Zukunft, so auch im E-Commerce. Wir haben bisher nur die Spitze des Eisbergs der Möglichkeiten gesehen. Sprechen wir in zwei Jahren nochmals darüber, werden wohl alle Online-Unternehmen mitten in einer KI-Transformation sein. Warum das nicht schneller geht: Es braucht auch Prozesse zur Sicherstellung der Governance, Privacy, etc. Und darauf legen wir sehr viel Wert.

Auf dem Event "GoHack" von GoBugfree im Dezember 2023 haben Sie einen Vortrag zum Thema KI und AGI (Artificial General Intelligence) gehalten. Darin sprachen Sie unter anderem von einer fiktiven "Retail AGI", die es in Zukunft geben könnte - also einer KI, die selbstständig ein Geschäft im Fachhandel betreibt, Einkauf, Webshop und Logistik ohne den Menschen regelt. Das ist natürlich eine Vision für die fernere Zukunft, doch welchen Einfluss kann KI im Handel kurz- und mittelfristig haben? Welche Möglichkeiten ergeben sich dadurch?

Wir haben spätestens mit dem Launch von ChatGPT mitbekommen, wie mächtig LLMs sein können im Umgang mit Sprache. Im E-Commerce gibt es sehr viele Produktdaten, Produktbeschreibungen, Blogs und Content zu verschiedenen Themen. NLP ist mittlerweile commodity und wird in unsere Suchmaschine einziehen. Eine weitere, eher ältere Domäne in der KI sind Prediction- und Forecasting-Algorithmen, die immer günstiger und genauer werden, sowie bessere Algorithmen zur Lösung von Optimierungsproblemen. Diese können einerseits in der Personalisierung aber auch in der Planung eingesetzt werden. Da kochen wir aber alle mit demselben Wasser und müssen auch hier das Rad nicht neu erfinden.

Arbeiten Sie langfristig gar tatsächlich auf eine Verselbstständigung von Migros Online hin, die mit der "Retail AGI" vergleichbar wäre?

Ich glaube sehr stark daran, dass in Zukunft Komponenten von Artificial General Intelligence einen Grossteil aller Aufgaben erledigen werden, die in einem Retail- oder E-Commerce-Unternehmen anfallen. Dass ich darauf hinarbeiten muss, glaube ich nicht, da dies ein Prozess sein wird, der in allen Firmen mit ähnlicher Pace stattfinden wird, getrieben von den Weiterentwicklungen und Möglichkeiten. Ich denke nicht, dass es dazu nötig ist, dass wir unsere eigene AGI entwickeln.

Wie beurteilen Sie die Investitionen auf dem Gebiet der KI, die derzeit in der Schweiz getätigt werden, etwa den Deal der Swisscom mit Nvidia?

Wenn man sich das leisten kann wie Swisscom, ist das ein smarter Move, aber auch eine Wette. Es gibt viele Beispiele dafür, wie ein Markt bei der Konsolidierung Gewinner ausspuckt, die vorher nicht in einer Pole-Position waren (ich denke dabei an Netscape vs. Google oder an Blackberry vs. Apple). Die Schweiz (wie auch ganz Europa) ist noch immer zurückhaltend verglichen mit der KI-Euphorie (vor allem bei Investoren) in anderen Ländern. Ich stütze mich hier auf meine Erfahrungen aber auch auf die derzeit kursierenden Grafiken diesbezüglich. Gegebenenfalls liegt das an den fehlenden Grundlagen zu ethischen und legalen Bedenken.

Zur Person

Isabel Steiner hält gemäss ihrem Linkedin-Profil einen Master in Computer Science von der Universität Bern. Von 2004 bis 2008 war sie als Engineer bei der Swisscom tätig. 2009 wurde sie Engineering Director und später Senior Project Manager bei der Buchungsplattform local.ch, ehe es sie 2011 wieder für einige Jahre zur Swisscom zog. Migros Online ist nicht Steiners erste Station im E-Commerce: Zwischen 2015 und 2017 war sie als CTO der Swisscom- und Coop-Tochter Siroop tätig. Die Plattform ging 2018 in Microspot auf.  2018 bis 2020 agierte Steiner als CTO der Autohandelsplattform Car for you. Im Sommer 2023 startete sie als Lead Engineer beim Schweizer Start-up AlpineAI durch und war an der Entwicklung des Sprachmodells SwissGPT beteiligt. Seit Februar 2024 ist Isabel Steiner Chief Technology Officer bei Migros Online. Ausserdem ist sie als Dozentin für Digital Marketing an der HWZ tätig.