Editorial

Der KI-Hammer

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René Jaun, Redaktor. (Source: Netzmedien)
René Jaun, Redaktor. (Source: Netzmedien)

«Irgendwann kommt bei jedem Gerät der Zeitpunkt, an dem man ­einfach sehen will, was es alles kann.» Diesen Satz schrieb Bill Bryson in einer 1996 veröffentlichten Kolumne mit dem Titel «Wie man zuhause Spass haben kann». Im Text berichtet – oder schwärmt – der US-amerikanische Autor von einem Gerät namens Garbage Disposal, also dem Müllzerkleinerer, dessen Fähigkeiten er mittels der Trial-and-Error-Methode erkundete. Von Essstäbchen («erzielen die wohl lebhafteste Wirkung») bis zu Kaffeesatz («Vesuv-Effekt – aber bitte Wischlappen und Trittleiter bereithalten») steckte er alles in die Maschine.

Diese Phase des euphorischen Ausreizens einer neuen Anschaffung kenne ich nur zu gut – auch wenn ich selbst keinen Müllzerkleinerer mein Eigen nenne. Meine letzten derartigen Abenteuer erlebte ich vor ein paar Monaten, als ich stolzer Besitzer einer Nagelpistole wurde. In den darauffolgenden Wochen liess ich das Teil auf alles Mögliche los. Ich machte gewissermassen meine praktischen Erfahrungen mit dem Gesetz des Instruments. Dieses ist allgemein bekannt unter dem Spruch: «Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.» Mein Learning aus dieser Zeit (ohne ins Detail gehen zu wollen): Mit einer Nagelpistole lassen sich erstaunlich viele Probleme lösen, aber auch enttäuschend viele schaffen.

Autor Bryson beschreibt den Müllzerkleinerer übrigens als «laut, witzig, extrem gefährlich und so überwältigend funktionstüchtig, dass man sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie man je ohne ihn ausgekommen ist.» Bemerkenswert, dass sich mit fast denselben Worten auch jener ganz besondere Hammer beschreiben lässt, den seit Anfang des Jahres nicht nur die IT-Branche, sondern gefühlt die ganze Gesellschaft in den Händen hält: die künstliche Intelligenz (KI). Kostproben davon, wo man sie gerade überall einsetzt, lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der «Netzwoche». So erfahren Sie im Themenschwerpunkt, wie KI etwa die Versicherungsbranche oder die Industrie voranbringt; im Hintergrundbericht lernen Sie Schweizer Unternehmen kennen, die mit Alternativen zu ChatGPT den Arbeitsalltag erleichtern wollen; und Sie erfahren von einem Westschweizer Start-up, das mit seinem KI-bestückten Hilfsmittel blinden Menschen dabei helfen will, sich schneller an unbekannten Orten zurechtzufinden.

Den dringenden Bedarf zur Regulierung ruft Urs Bucher in der «Wild Card» in Erinnerung. Und dass künstliche Intelligenz bei allem Optimismus nicht unfehlbar ist, erfahren Sie schliesslich in der Rubrik «Curiosities».

Neues zu entdecken und Grenzen zu erkunden, tut gut. Ich hoffe, Sie tun dies nicht nur beim Lesen der aktuellen «Netzwoche», sondern auch während der Sommerferien. Und sollte es Ihnen dabei nicht gelingen, ein Problem mit dem Hammer zu lösen, lohnt sich möglicherweise der Griff zur Zange.
 

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