Wild Card

Digital Proficiency

Uhr
von Peter Hogenkamp

Ein digitales Grossprojekt geht live: E-Banking, E-Commerce, E-Government, E-Irgendwas. Gespannt und guten Willens ruft man die Startseite auf – und denkt sofort: Oh nein! Das hat doch sichtlich Millionen gekostet. Wie konnte das dabei herauskommen?!

Peter Hogenkamp ist CEO des Start-ups Newscron. (Quelle: Netzmedien)
Peter Hogenkamp ist CEO des Start-ups Newscron. (Quelle: Netzmedien)

Womöglich sind Web-Profis einfach arrogante Säcke und/oder notorische Besserwisser, die jede Arbeit anderer grundsätzlich schlecht finden. Doch spätestens, wenn das ambitionierte Projekt irgendwann still und leise begraben wird, lässt sich nicht leugnen, dass es schieflief. Natürlich gibt es dafür viele mögliche Gründe: Bedarf beim Endkunden überschätzt. Zu geringer interner Support. Management by Committee. Den falschen Dienstleister gewählt. Trotzdem: Die Komplexität von Digitalprojekten scheint nicht per se höher als in anderen Bereichen, aber es werden mehr unpassende digitale Angebote lanciert als, sagen wir, nicht funktionierende Häuser gebaut (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Die Entscheider beim Auftraggeber, insbesondere die Geschäftsleitung, aber auch Mitarbeitende aller Ebenen, scheinen immer noch zu wenig von dieser Welt zu verstehen – und das nach 20 Jahren Desktop, 15 Jahren Web, 10 Jahren Social Media, 8 Jahren Smartphone, die sie alle täglich nutzen. Ein Teil des Problems ist für mich hausgemacht: Viele Organisationen setzen veraltete Hard- und Software ein, die ihren Mitarbeitenden nicht erlaubt, die nötige "Digital Proficiency" zu entwickeln. Für die inzwischen überall präsente digitale Transformation wird oft die Digitalstrategie als entscheidend beschrieben. Natürlich ist sie wichtig – aber ohne Proficiency keine gelebte Strategie.

Wer in einem Konzern oder der öffentlichen Verwaltung arbeitet, befindet sich oft in der absurden Situation, privat bessere Hardware und Software zu nutzen, als der Arbeitgeber zur Verfügung stellt. Jeder kann sich am Wochenende ein schickes Tablet kaufen oder einen glänzenden iMac und darauf Gmail, Google Docs, Facebook, Spotify und Netflix nutzen – alle technisch State of the Art. Im Büro dagegen: ein alter Thinkpad mit Windows XP, Outlook, Word, Excel, Internet Explorer, Skype unter dem Radar. Ein bekannter Schweizer Konzern wirbt im Intranet damit, dass man demnächst vom Internet Explorer 9 (von 2011) auf den IE 11 (von 2013) migrieren werde. Mitarbeitende einer E-Commerce-Tochter, die wissen wollen, wie ihre Shopseiten da draussen aussehen, müssen mit privaten Geräten testen. In diesem Umfeld mag unterschwellig der Gedanke gären: "Toll ist unser Projekt wohl nicht, aber für uns hier gut genug."

Digitale Kompetenzen nennt man "E-Literacy": Kann jemand eine E-Mail verschicken und eine Überweisung online vornehmen? Diese Consumer-Seite beherrschen inzwischen die meisten. Doch sie reicht nicht, um zu beurteilen, ob der neue Onlineassistent wirklich der grandiose Schritt nach vorn ist, als den die Agentur ihn verkauft, oder eher eine Feigenblattlösung.

Was die Mitarbeiter brauchen, ist eine natürliche Vertrautheit mit Technologie, mit der sie ihre Organisation in der digitalen Transformation vorwärtsbringen. Der kanadische Social-Media-Experte Alan Lepofsky misst für die Digital Proficiency das Kompetenzniveau ("skill level") und das Komfortniveau ("comfort level"). Das sehe ich genauso: Aus­ser dem Wissen braucht es ein offenes Klima und eine neugierige Haltung gegenüber Innovationen aller Art. Selbstverständlich liegt dies nicht allein am Betriebssystem – aber der Blick in den PC mit altem Windows und Office kann wie eine tägliche Manifestation des Gegenteils wirken.

In meiner nächsten Wild Card möchte ich einige Ansätze von Firmen zeigen, die die Digital Proficiency mit guten Ideen gefördert haben.

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