Umstrittene Algorithmen

Neue Werbeformate, steigende Nutzerzahlen und der Edge Rank

Uhr | Aktualisiert
von Simon Zaugg

Fazit des Facebook-Jahres 2012: Die Nutzer bleiben der Plattform trotz umstrittener Neuerungen wie dem geänderten Filteralgorithmus Edge Rank treu. Den Werbern stehen viele neue Formate zur Verfügung, doch eine Mehrheit der Schweizer Unternehmen hält sich weiterhin vorsichtig zurück.

Es wird wieder einmal laut über Facebook gejammert. Der Grund: Betreiber von Facebook-Seiten fühlten sich übertölpelt von den Filtermechanismen der Social-Media-Plattform. Konkret geht es um Änderungen im Filteralgorithmus Edge Rank. Dieser bestimmt, welche Inhalte an der Pinnwand des Nutzers angezeigt werden. Unternehmen beklagen, dass nun von ihren tausenden Fans nur noch ein Bruchteil ihre Beiträge zu sehen bekommen. Blogs wie Dangerousminds.net sprechen dabei gar von Reichweitendrosselung um bis zu 85 Prozent und unterstellen Facebook, damit ihr Werbeangebot "Promoted Posts" besser verkaufen zu wollen.

Der Schweizer Facebook-Experte Thomas Hutter hält die Empörung über den Edge Rank für übertrieben. Er verweist in seinem Blogbeitrag vom 8. November auf einen Artikel von Techcrunch, der das Gerücht widerlegen soll. Demnach ginge Dangerousminds.net fälschlicherweise davon aus, dass früher 100 Prozent der geposteten Beiträge angezeigt worden seien. Facebook habe jedoch bereits im Februar dieses Jahres 16 Prozent als durchschnittliche Reichweite eines Seitenbeitrags angegeben. Zudem sei das Anlegen von Facebook-Fanseiten gratis und freiwillig, wie Hutter gegenüber der Netzwoche sagt. Er begrüsst, dass Facebook den Algorithmus regelmässig anpasst: "Je mehr Unternehmen die Plattform nutzen und je mehr Inhalte sie posten, desto besser müssen die gefiltert werden. Sonst würde Facebook an Qualität einbüssen."

Die Faktoren des Edge Rank

Beim Edge Rank kommt es im Wesentlichen auf drei Faktoren an. Erstens geht es um die Beziehung zwischen dem einzelnen Nutzer und der Seite oder des Freundes, der den Inhalt erstellt hat. Hat beispielsweise jemand mehrere Freunde, die ebenfalls Fan einer bestimmten Seite sind und häufig mit dieser interagieren, dann steigt die Affinität des Nutzers zu dieser Seite. Zweitens werden die Aktivitäten unterschiedlich gewichtet: Ein Kommentar ist "sozialer" und hat mehr Wert als ein "Gefällt mir". Rich-Media-Inhalte sollen in der Regel stärker gewichtet sein. Drittens muss das Timing stimmen. Das heisst, ein Beitrag am frühen Morgen, am späten Nachmittag oder am späten Abend soll besonders viel Gewicht haben, erklärt etwa Ben Adkins in seinem Youtube-Video "Facebook Edge Rank". Die Zeiten, in denen es gereicht hat, möglichst viele Fans zu gewinnen und diese beliebig mit Marketing-Botschaften zu berieseln, gehören damit immer mehr der Vergangenheit an.

Gewisse Parallelen zur Entwicklung von Googles Werbetool Adwords sind unverkennbar. Zu Anfangszeiten von Adwords bekam derjenige den besten Werbeplatz, der am meisten bezahlte. Dann realisierte Google das Problem dieses Ansatzes. Irrelevante Werbung an prominenter Stelle bringt nichts – und vor allem nicht die gewünschten Umsätze. Daraufhin führte Google die sogenannte Click-Through-Rate ein. Diese Kennzahl stellt die Anzahl der Klicks auf Werbebanner oder Sponsorenlinks im Verhältnis zu den gesamten Impressionen dar. Im Laufe der Jahre verfeinerte Google die Relevanzkriterien ständig weiter. Jetzt will auch Facebook mit verfeinerten Algorithmen die Relevanz der angezeigten Beiträge erhöhen.

Die Nutzer bleiben trotz Veränderungen

Veränderung gehört bei Facebook zum Konzept. Änderungen des Designs, der Nutzungsbedingungen oder der Datenschutzrichtlinien stehen auf der Tagesordnung. Proteste hat es immer wieder gegeben. So etwa auch gegen die Timeline, die Anfang des Jahres schrittweise eingeführt wurde und heute für alle "Pflicht" ist. Die grosse Mehrheit der Nutzer hält Facebook trotzdem die Stange. Mehr noch: Vor wenigen Wochen wurde laut Angaben von Facebook gar die Schallgrenze von einer Milliarde Nutzer durchbrochen. Auch die Schweiz ist gut dabei, wie Anfang Oktober publizierte Zahlen von Bernet PR und Serranetga zeigen. Demnach zählte Facebook in der Schweiz per Ende Juni 2,84 Millionen aktive Nutzer. Das sind 0,8 Prozent mehr als Ende März.

Spätestens seit dem Börsengang ist die Social-Media-Plattform nebst den Nutzern auch seinen Aktionären Rechenschaft schuldig. "Die Werbebranche hat das gespürt", sagt Birte Rinas, Social-Media-Expertin beim Onlinevermarkter Webrepublic. Das Unternehmen brachte nicht nur neue mobile Werbeformate auf den Markt, sondern brach auch das Tabu, keine Werbung im Newsfeed der Nutzer zu schalten. Dabei handelt es sich um die eingangs erwähnten "Promoted Ads". Zudem wird derzeit ein Werbenetzwerk ähnlich jenem von Google Display getestet. Damit würde auf Websites und in Apps, auf denen sich Nutzer mit Facebook-Connect einloggten, von Facebook vermittelte Werbung angezeigt.

So schnell die Möglichkeiten für die Werbetreibenden wachsen – der Kundensupport ist laut Rinas auf der Strecke geblieben: "Einzelne Kunden werden ziemlich alleine gelassen. Es sei denn, der Kunde, den man betreut, bucht Werbung für mindestens 10 000 Franken pro Monat." Dann habe man direkten Zugang zu einem Kundenbetreuer bei Facebook. Rinas vermisst ein Einsteigerprogramm wie Google Jumpstart. Obwohl es zwar auch bei Google eine Weile gedauert habe, bis der Supportapparat aufgebaut war, habe man dort früh Wert darauf gelegt, kleine Kunden gross machen zu wollen. Rinas sieht diesbezüglich Potenzial bei Facebook: "Nur wenige Kunden investieren gleich zu Beginn tausende Franken."

Unbegründete Panik vor Shitstorms

Trotz der Tatsache, dass schon fast drei Millionen Schweizer Facebook nutzen, haben Social-Media-Aktivitäten bei den meisten Schweizer Unternehmen nach wie vor wenig Priorität. Dies zeigt eine im Juni publizierte Studie der ZHAW School of Managament and Law. So sagten knapp zwei Drittel der befragten Unternehmen, dass Social Media im Marketing keine Rolle spiele. Befragt wurden 453 vorwiegend mittelgrosse und grosse Unternehmen in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz. Als Hauptgrund für die Zurückhaltung wird die mangelnde Relevanz für das Unternehmen oder die Branche genannt. Von jener Minderheit, die Social-Media-Aktivitäten im Marketing Relevanz einräumen, ist Facebook klar der Kanal Nummer eins. Gut 85 Prozent dieser Unternehmen setzen auf eine Präsenz beim "blauen Riesen". Zudem pflegt etwas mehr als zwei Drittel der dort aktiven Firmen ihre Präsenz regelmässig.

Ein Grund für die Zurückhaltung seien die Diskussionen über Shitstorms, sagt Rinas. "Vor allem die grossen Unternehmen haben Angst vor schlechter PR, weil ihnen oftmals die Flexibilität fehlt, um schnell zu antworten." Shitstorms seien jedoch oft Panikmache, wofür es bisher in der Schweiz keinen Grund gegeben habe. Ein Beispiel einer passenden Reaktion auf eine Beschwerde lieferte Anfang Oktober die Migros: Eine Kundin beschwerte sich auf der Facebook-Seite über das frühe Angebot von Weihnachtsgebäck. Sie erzielte mit ihrem Beitrag innerhalb kürzester Zeit mehr als 10 000 "Gefällt mir". Noch am selben Abend reagierte die Migros mit einem Beitrag: Der Detailhändler schrieb, dass man verstehe, dass Weihnachtsguetzlis im Oktober ein streitbares Thema seien. Dies sei jedoch seit Jahren ein Bedürfnis der Kunden. Zudem spendete die Migros pro "Gefällt mir" 100 Gramm Weihnachtsguetzlis an Schweizer Kinderheime.

Der Mix macht’s aus

Wer professionell auf Facebook aktiv ist, scheint denn auch weniger Mühe mit den Anpassungen des Edge Rank oder Angst vor Shitstorms zu haben. Dies bestätigt Erwin Bucheli vom PC-Assemblierer Steg. Das Unternehmen kommuniziert seit April 2009 auf seiner Fanseite. Heute zählt Steg über 25 000 Fans im Vergleich zu 17 000 Anfang 2012. Doch die Anzahl Fans ist für Bucheli nur einer von vielen Indikatoren. "Viel wichtiger ist das Engagement der Fans und die Interaktion. Diese Messgrössen sind zwar wichtig, um den Erfolg einer Fanpage bewerten zu können. Letzten Endes hat aber jeder Beitrag auch eine Wirkung bei den Fans, die sich nicht mit Kennzahlen messen lässt", so Bucheli.

Er postet pro Woche in der Regel zwei bis vier Beiträge. Er setzt auf eine Mischung zwischen Produktvorstellungen, Einblicke in das Unternehmen oder auch Neuigkeiten aus der Branche. 2011 initiierte Steg unter anderem das "Super-PC-Projekt", bei dem die Fans einen Computer im Wert von 10 000 Franken zusammenstellen konnten. Die Steg-Fans konnten Komponenten vorschlagen und untereinander darüber fachsimpeln, was nun am besten eingebaut werden sollte. Über die vorgeschlagenen Komponenten wurde dann abgestimmt. Am Ende hat Steg den High-End-PC assembliert und unter allen Teilnehmern verlost.

Ein kontinuierlicher Prozess

Dass Bucheli mit den Social-Media-Aktivitäten auf einem guten Weg ist, bestätigte kürzlich eine Untersuchung der Internetagentur Firegroup. Diese hat die Social-Media-Auftritte von 50 Schweizer Detailhändlern untersucht. Steg belegte dort hinter Migros, Ikea und Digitec den vierten Platz. Insgesamt zeigte sich jedoch auch in dieser Untersuchung, dass viele Unternehmen noch unbeholfen mit Social Media umgehen. Durchschnittlich erreichten die Detailhändler 55 von 100 möglichen Punkten. Wie erwartet ist Facebook der wichtigste Social-Media-Kanal für Detailhändler. 44 der 50 untersuchten Detailhändler verfügen über ein eigenes Facebook-Profil.

Was sollten nun also Unternehmen tun, die trotz aller Bedenken auf Facebook aktiv werden wollen? Bucheli empfiehlt, das vorhandene Social-Media-Wissen in den jeweiligen Unternehmen zu identifizieren und Know-how-Träger kontinuierlich aufzubauen und auszubilden. "Weiter ist es zentral, eine aussagekräftige Social-Media-Strategie zu erarbeiten." Man müsse dabei immer wieder neu prüfen, ob man auf dem richtigen Weg sei, sagt Bucheli: "Das ist ein kontinuierlicher Prozess." Dann dürften auch künftige Anpassungen des Edge Rank keine allzu grossen Ärgernisse mehr verursachen. "Es ist letztlich wichtig, dass man gute Inhalte produziert und Mehrwert bietet, authentisch kommuniziert und auch ein gutes Timing bei den Beiträgen hat. Das erzeugt mehr Fan-Engagement und verbessert schliesslich auch den Edge Rank. Einen guten Edge Rank muss man sich erarbeiten", fasst Bucheli zusammen.