Nicht barrierefrei

Websites mit Handicap

Uhr | Aktualisiert
von Janine Aegerter

Für seh- oder hörbehinderte Menschen ist das Internet oft die einzige Möglichkeit, um möglichst unabhängig leben zu können. Doch das Interesse der Wirtschaft an der Entwicklung sogenannter "barrierefreier Websites" ist nach wie vor gering.

Daniele Corciulo sitzt an seinem Rechner. Unter seiner Tastatur ist eine Braillezeile angebracht. Er surft über eine Website, mit der gleichen Geschwindigkeit wie jeder andere Nutzer dies tun würde. Einziger Unterschied: Daniele Corciulo ist in seiner Sicht stark eingeschränkt. Der 26-Jährige, der bei der Stiftung "Zugang für alle" als Accessibility Consultant arbeitet, sieht laut den Aussagen von Augenärzten noch etwa 1,5 Prozent. Dank Brailleschrift und seinem Screenreader "JAWS" ist dies aber für ihn kein Hinderungsgrund, sich im Internet zu bewegen. Die Texte kann er entweder auf der Braillezeile ertasten oder er kann sie sich vorlesen lassen. Navigieren kann er mittels seiner Tastatur. Der einzige Haken an der Sache: Damit sich Corciulo mühelos auf einer Website bewegen kann, muss sie barrierefrei, sprich für Menschen mit einem Handicap zugänglich sein. Ansonsten verwandelt sie sich schnell in ein verwirrendes Labyrinth aus Texten und Zahlen, wirren Aufzählungen und scheinbar sinnlosen Inhalten.

Der zweite Haken an der Sache: Das Internet hat zwar enorme Dimensionen, doch die kleine Anzahl an barrierefreien Seiten lässt es für einen Menschen mit einem Handicap quasi auf ein Nichts zusammenschrumpfen. "98 Prozent aller Websites in der Schweiz und in Europa sind nicht barrierefrei", schätzt Edith Pausewang, Geschäftsleiterin der Stiftung "Zugang für alle", die sich für eine behindertengerechte Technologienutzung einsetzt. Sie bezieht sich damit auf die Erfahrungen, die sie aus ihrer Tätigkeit gewinnt. Sie hat auch eine Erklärung für diese doch recht ernüchternde Zahl: "Für die Wirtschaft ergibt sich kein Nutzen, wenn sie ihre Website barrierefrei gestaltet." Oder, um es mit den Worten eines Gemeindeangestellten auszudrücken, der sich laut Pausewang zum Thema Barrierefreiheit geäussert hat: "Wir haben nicht einmal genügend Geld für einen Kindergarten. Warum sollten wir dann unsere Website barrierefrei gestalten?"

Klare, saubere Strukturen

Dabei wäre die Bewirtschaftung einer barrierefreien Website normalerweise sogar kostengünstiger als die einer normalen Site, wie Pausewang erklärt. Sie begründet dies damit, dass eine barrierefreie Website sauber aufgebaut ist und über einen klar strukturierten Code verfügt. Überschriften beispielsweise sind klar definiert, Links sauber gekennzeichnet, Bilder sinnvoll mit einem Alt-Text beschriftet. Sprich: Webprogrammierer, die den Code einer ihnen unbekannten, barrierefreien Website ändern müssen, treffen nicht auf unleserlichen Spaghetticode.

Problematischer wird es erst, wenn man eine Seite, die nicht barrierefrei ist, anpassen muss. Dieses Problem spricht Christoph Zech an. Er ist Leiter E-Government der Stadt Winterthur, der ersten Gemeinde der Schweiz, die über einen weitgehend barrierefreien Webauftritt verfügte. "Es ist schwierig, Menschen zu finden, die eine Ahnung von der Programmierung barrierefreier Webauftritte haben", gibt Zech zu bedenken. Auch spricht er von einem "beträchtlichen Mehraufwand", wenn man eine bestehende, nicht zugängliche Website barrierefrei gestalten wolle. "Kann man hingegen auf einer grünen Wiese anfangen, sollte es meiner Meinung nach kein grosser Mehraufwand sein." Neben dem Arbeitsaufwand spricht Zech auch den finanziellen Aspekt an. "Will man eine Website als offiziell barrierefrei deklarieren und mit einem entsprechenden Label versehen, muss man sie von "Zugang für alle" zertifizieren lassen." Laut Pausewang ist eine Zertifizierung ab 3650 Franken möglich, darin enthalten sind auch die Kosten, die für die Zugänglichkeitstests durch Mitarbeiter von "Zugang für alle" anfallen.

Pausewang ist sich dieser finanziellen Problematik durchaus bewusst. "Die Kosten für die Anpassung einer Website variieren natürlich sehr stark", erklärt sie. Jedoch sei es auch möglich, eine Seite durch "Zugang für alle" testen zu lassen, ohne sie zertifizieren zu lassen. In diesem Fall belaufen sich die Kosten "für eine einfache Website" auf mindestens 900 Franken, jedoch werde der Kunde dann nicht durch "Zugang für alle" begleitet, wie dies bei einer Zertifizierung der Fall sei. Aktiv umsetzen müsse der Anbieter die Änderungen aber in jedem Fall selbst.

Barrierefreiheit erhalten

Auf den Lorbeeren ausruhen kann man sich aber selbst nach einer Zertifizierung nicht. "Ist eine Website einmal weitgehend barrierefrei, muss man sie auch zugänglich erhalten", betont Zech. Dies sei noch fast schwieriger als die Umgestaltung und Zertifizierung. "Wir sensibilisieren unsere Website-Redaktoren auf das Thema der Barrierefreiheit und führen interne Schulungen durch." Zwar könne das CMS-System auf technischer Seite viel helfen, doch das beste System könne nichts ausrichten, wenn die Redaktoren beim Einfügen von Inhalten nicht sorgfältig arbeiten. Dieser Meinung ist auch Markus Riesch, der bei "Zugang für alle" für den
Bereich "Accessibility" zuständig ist: "Bei neuen, technischen Errungenschaften wie beispielsweise Cloud Computing fängt man bezüglich Barrierefreiheit quasi immer wieder von vorne an." Deshalb macht sich Riesch über die Zukunft der Barrierefreiheit keine Illusionen: "Die Situation wird sich nicht verbessern. Die Anforderungen der Anwender, insbesondere von Menschen mit Behinderungen und Senioren, werden bei neuen Technologien kaum berücksichtigt."

Soweit ist nun klar: Wer eine barrierefreie Website sein eigen nennen und zertifizieren lassen will, muss Zeit und Geld investieren. Dies und die Frage "Was nützt es mir?" sind wohl die Hauptgründe, warum viele private Websites nicht barrierefrei sind. Untersucht man hingegen die Anzahl barrierefreier Websites auf Bundesebene, zeigt sich ein anderes Bild: Laut der Schweizer Accessibility-Studie 2011, herausgegeben von "Zugang für alle", sind immer mehr Websites von Bund und Kantonen "barrierearm". Dies ist die Konsequenz aus der "Richtlinie des Bundes für die Gestaltung von barrierefreien Internetangeboten" (bundesinterne Bezeichnung P028). Diese Richtlinie steht im Zusammenhang mit der Behindertengleichstellungsverordnung (BehiV), die seit 1. Januar 2004 in Kraft ist. "Nach Art. 10 BehiV müssen Internetangebote des Bundes explizit so gestaltet sein, dass Menschen mit Behinderungen diese barrierefrei nutzen können", steht in den Richtlinien P028. Die BehiV steht im engen Zusammenhang mit dem Behindertengleichstellungsgesetz, das ebenfalls seit 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist.

Die Richtlinien des Bundes orientieren sich aus technischer Sicht an den Accessibility- Leitlinien "Web Content Accessibility Guidelines 2.0" (WCAG) des World Wide Web Consortium W3C, einer internationalen Gemeinschaft, die sich für Webstandards einsetzt. Dabei wird zwischen den drei Konformitätsstufen A ( Priority 1), AA (Priority 2) und AAA (Priority 3) unterschieden. Die Konformitätsstufe A gilt dabei als unterste Stufe, die eine Website für Menschen mit einem Handicap zumindest teilweise zugänglich macht. Laut der Richtlinie P028 müssen alle Websites des Bundes die Konformitätsbedingungen gemäss WCAG 2.0 und der deutlich höheren Konformitätsstufe AA erreichen.

Laut André do Canto, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundeskanzlei, "erfüllen die überprüften Websites der Bundesverwaltung zu etwa 85 Prozent die Richtlinien". Die Websites seien von "Zugang für alle" durch Menschen mit einem Handicap getestet worden, "deshalb können wir sicher sein, dass die Tests auch wirklich valide sind." Was bei einem Test mittels automatischer Tools nicht gegeben ist.

Die Problematik der PDF-Dokumente

"Wir haben in der Bundesverwaltung noch viele PDF-Dokumente, die besonders für blinde Menschen nicht zugänglich sind", fährt do Canto fort. Sollten all diese Dokumente zugänglich gemacht werden, käme eine Menge Arbeit auf die Bundesverwaltung zu. Innerhalb der Bundesverwaltung habe man deshalb eine gute Lösung für alle Betroffenen ausgearbeitet. Besonders PDF-Dokumente, die die Wahrnehmung von politischen Rechten betreffen, sollen demnach zugänglich gemacht werden. "Dort muss Barrierefreiheit herrschen. Menschen mit einem Handicap sollen ihre Rechte wahrnehmen können wie jeder andere auch." So ist beispielsweise die PDF-Broschüre "Der Bund kurz erklärt" in einer barrierefreien Version auf der Website der Bundeskanzlei erhältlich. Do Canto weist noch auf ein weiteres Problem hin. "Wir vergessen oft, dass Gehörlose nicht immer lesen können." Deshalb habe der Bund für die National- und Ständeratswahlen Videos in Gebärdensprache zur Verfügung gestellt.

Der Art. 10 des BehiV und Art. 14 des BehiG, die sich beide mit Dienstleistungen im Internet befassen, richten sich direkt an den Bund, nicht aber an die Gemeinden oder Kantone. Der gesamtschweizerische "eCH-Standard 0059" will hier Abhilfe schaffen: Er soll, laut dem Text des Standards, primär bei allen Internetangeboten des Gemeinwesens Anwendung finden, beispielsweise in den Bereichen E-Government und E-Voting. Laut der Schweizer Accessibility-Studie 2011 besteht bei Kantonen und Gemeinden noch einiges an Handlungsbedarf. Ob sich daran in den nächsten Jahren etwas ändern wird, werden wir sehen. Fest steht, dass sich darüber nicht nur Menschen wie Daniele Corciulo freuen würden. Sondern auch wir selbst, sollte sich einmal unser Augenlicht verschlechtern und wir dennoch zu den "Silver Surfern" gehören möchten.