Zu viele Schnittstellen und Formate

Daran kranken klinische Informationssysteme

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Klinische Informationssysteme sind aus dem Arbeitsalltag an den Schweizer Spitälern nicht mehr wegzudenken. Eine Vielzahl von Herstellern und Lösungen tummelt sich auf dem Schweizer Markt. Ebenso gross wie ihre Versprechungen sind die Herausforderungen.

(Source: Reenya / iStock.com)
(Source: Reenya / iStock.com)

Wo in Spitälern Daten anfallen, kommen Klinische Informationssysteme (KIS) zum Einsatz. Von der Leistungserfassung über die Dokumentation von Medizin und Pflege bis hin zur Einsatzplanung bilden immer mehr Spitäler ihre Arbeitsprozesse digital ab. Doch was auf den ersten Blick nach einem grossen Digitalisierungsschub klingt, offenbart bei genauerer Betrachtung einige Baustellen. Viele KIS seien nicht ausgereift, die Bedürfnisse von Ärzteschaft und Pflege würden bei der Einführung zu wenig berücksichtigt und die Software könne die Prozesse einer Klinik nur schlecht abbilden, lautet die Meinung von Experten und Nutzern. Zudem liessen sich die Systeme nicht über Spital-, Kantons- oder Sprachgrenzen hinweg vernetzen.

Die Folge: KIS würden häufig ausgewechselt, die Unzufriedenheit sei hoch. Dies zeige sich vor allem in der grossen Zahl von Ausschreibungen in dem Bereich, schrieb die Beratungsfirma PWC jüngst in einer Analyse. Auch bei der Zukunftssicherheit der KIS sehe es düster aus. «Die meisten aktuell im Einsatz stehenden Systeme sind technologisch veraltet und bieten wenig bis keine Möglichkeiten, moderne Technologien sinnvoll und gewinnbringend einzubinden», geben die Autoren zu bedenken. Gleichzeitig wachse der Druck auf die Spitalinformatik durch die Digitalisierung stark. Damit steigen auch die Anforderungen an die KIS und ihre Anwender. PWC sieht besonders bei Benutzerfreundlichkeit, Mobilität, Standardisierung, Vernetzung und Automatisierung Nachholbedarf. Denn obwohl heute kein Krankenhaus mehr ohne KIS auskommt, kommen nach wie vor unterschiedliche Systeme parallel zum Einsatz – von spezieller Software für bestimmte Fachgebiete bis hin zu Stift und Papier. Das eine KIS, das alle Daten im Spital digital versammelt, gibt es also noch nicht. PWC empfiehlt Krankenhäusern auf der Suche nach einem neuen System deshalb, ihren konkreten Bedarf genau zu bestimmen, die strategische Ausrichtung zu definieren und sich bei der Wahl zu entscheiden: Will man ein modulares Produkt, das sich am Prinzip «Best-of-Breed» orientiert, oder eine monolithische Gesamtlösung?

Qual der Systemwahl

Schweizer Spitäler können heute aus einer Vielzahl von in- und ausländischen Anbietern auswählen. Hierzulande bieten etwa die Softwarehersteller Cistec, Noser Engineering, Erne Consulting oder Ines KIS-Lösungen als Module oder Gesamtpaket an. Besonders «KISIM» des Zürcher Entwicklers Cistec kommt verbreitet zum Einsatz, wie eine Umfrage unter Spitälern in der Deutschschweiz ergab. KISIM wird etwa am Spital Bülach, am Spital Thurgau sowie am Universitätsspital Zürich (USZ) verwendet. Das Spital Uster will im Sommer 2019 auf das Produkt aus dem Hause Cistec umsteigen.

In welchen Bereichen die Software zum Einsatz kommt, unterscheidet sich von Spital zu Spital. So gibt das Kantonsspital Baselland an, sein KIS «Polypoint» bislang bei Personaleinsatzplanung, Ressourcen- und Aktivitätsplanung, Disposition sowie in der klinischen Dokumentation zu nutzen. Geplant sei zudem die Einführung in der Pflegeprozessdokumentation, der Patientenkurve und im Medikationsprozess. Beim USZ, das KISIM ab 1995 entwickelte und einführte, lag der Schwerpunkt anfangs auf dem klinischen Berichtswesen, auf der patientenbezogenen Verlaufsdokumentation sowie auf der Übermittlung der Labor-Verordnungen und dem Empfang der Analysenresultate. Seither seien viele Funktionen dazugekommen, schreibt Guido Bucklar, Abteilungsleiter Medizininformatiksysteme am USZ. Unter anderem die medizinische Dokumentation, die Auftragserteilung an Untersuchungssysteme, die Disposition (stationär, ambulant, OP), die Leistungserfassung, Warnsysteme sowie der Physiotherapie- und Ergotherapieprozess.

Gleichzeitig drängen Anbieter aus dem Ausland auf den Schweizer KIS-Markt, wie aus der Analyse von PWC hervorgeht. KISIM & Co. bekommen Konkurrenz von grossen Herstellern wie T-Systems, Philips und 3M. Weitere IT-Firmen mit Hunger auf den E-Health-Markt und hoher Investitionsbereitschaft wie Google und Apple stünden schon in den Startlöchern, um das Gesundheitswesen aufzumischen. Augenfällig wurde dieser Wandel im Dezember 2015, als sich das Luzerner Kantonsspital für ein KIS der US-amerikanischen Firma Epic entschied. Der Zuschlag mit einem Preisschild von fast 66 Millionen Franken sorgte für viel Unmut und landete sogar vor Gericht, wie die «Luzerner Zeitung» berichtete. Im Interview mit «IT for Health» rechtfertigte Stefan Hunziker, IT-Leiter des Luzerner Kantonsspitals, den Entscheid mit den Unzulänglichkeiten des bisherigen Systems: «Unser jetziges Klinikinformationssystem genügt den zukünftigen Anforderungen nicht mehr. Es fehlen wesentliche Funktionen eines integrierten Systems, und eine substanzielle Weiterentwicklung war nicht absehbar», sagte Hunziker.

Was sich Schweizer Spitäler vom KIS wünschen

Die gewachsenen Anforderungen der Kliniken an ihre IT-Systeme machen auch andere Spitäler deutlich. Ihre Antworten decken sich zu einem grossen Teil mit den Punkten der PWC-Studie. Die Kantonsspitäler Baselland und Graubünden sowie das USZ sahen auf Anfrage etwa bei der Benutzeroberfläche Verbesserungspotenzial. Die Datenerfassung verlange dem Benutzer momentan sehr viele Bedienschritte ab. Hier wäre eine «kleine Revolution» nach dem Vorbild des ersten iPhones wünschenswert, schreibt das Kantonsspital Baselland. Ein weiteres Thema ist die Vielzahl von Schnittstellen und Formaten in der Krankenhaus-IT. Das Spital Simmental-Thun-Saanenland (STS) geht davon aus, dass auch in Zukunft spezialisierte Programme mit dem KIS sowie untereinander kommunizieren müssen. Standards für den Datenaustausch und die Speicherung könnten die Arbeit mit den einzelnen Programmen vereinfachen und Redundanzen vermeiden. Eine Forderung, der sich das USZ, das Spital Bülach und das Spital Uster anschliessen. Voraussetzung sei allerdings, dass sich die Hersteller von KIS und Applikationen auf einen universalen Standard für die Kommunikation einigten.

Laut PWC steht dem Gesundheitswesen mit «Mobile Health» eine der grössten Umwälzungen der letzten Zeit ins Haus. Der Einbezug der Smartphones, Tablets, Wearables oder Diagnosegeräte von Ärzten und Patienten ins KIS birgt laut der Beratungsfirma grosses Verbesserungspotenzial für das Gesundheitswesen. Ebenso gross seien allerdings die Anforderungen der mobilen Vernetzung an Infrastruktur und Technologie. Es ist nicht überraschend, dass Mobile Health auch bei den Schweizer Spitälern ein Thema ist. Guido Bucklar vom USZ schreibt, dass KIS-Funktionen künftig auf mobile Geräte verlegt werden sollten, wenn dies sinnvoll ist. «Ein mobiles, intuitiv und einfach bedienbares KIS, das gut skaliert und die medizinisch-pflegerischen Prozesse bestmöglich unterstützt», wünscht sich auch Martin Pfund, Bereichsleiter ICT am Kantonsspital Graubünden. «Es sollte ein offenes System sein, das die Interoperabilität der Systeme und Geräte unterstützt. Zudem muss es gut skalierbar sein und auch dann noch performant arbeiten, wenn sich die Zahl der User, Prozesse, Funktionen und Jobs erhöht.»

KIS – ein Digitalisierungsmotor für die Spitäler

Aus den zahlreichen Verbesserungswünschen der Spitäler auf eine generelle Unzufriedenheit mit den aktuell eingesetzten KIS zu schliessen, wäre allerdings verfrüht. Die Mehrheit der befragten Krankenhäuser gab an, dass sie mit ihren Systemen durchaus zufrieden sei. Das Spital STS schreibt etwa, dass es durch das KIS viele klinische Arbeiten automatisieren und flexibel abbilden konnte. Dies habe zu «erheblichem Einsparpotenzial und zu einer deutlichen Entlastung des klinischen Personals» geführt. Am USZ sei durch die Einführung von KISIM in allen Kliniken die Kommunikation zwischen den verschiedenen Berufsgruppen einfacher geworden. So könne das Spital vernetzter arbeiten und verbrauche weniger Papier als früher. Als «Meilenstein» in der Digitalisierung des Unternehmens bezeichnet das Spital Bülach sein KIS. Vor dessen Einführung fanden viele Prozesse noch auf Papier statt, wie das Spital schreibt. Das KIS habe es möglich gemacht, die Anzahl der verwendeten Formulare zu senken, den Zugriff auf Daten zu erleichtern sowie Medienbrüche und Doppelspurigkeiten zu verringern. Dies habe sich auf die Arbeitsbelastung positiv ausgewirkt: «Nutzer im ärztlichen und pflegerischen Bereich haben mehr Zeit für den Patienten und benötigen weniger Aufwand für Suche, Koordination und mehrfache Absprachen, da sie die Informationen jetzt in einem System finden», schreibt das Spital Bülach.

Zeit und Kosten sparen; Ärzte, Personal und Patienten entlasten – mit diesen Versprechen präsentieren sich viele Hersteller von KIS auf dem Markt. Die Antworten der Spitäler zeigen: Oftmals kann der Einsatz eines KIS tatsächlich Erleichterungen im Tagesgeschäft bieten. Es gibt jedoch auch abweichende Stimmen in der schönen neuen KIS-Welt. Das Kantonsspital Baselland etwa gibt zu bedenken, dass der Zeitbedarf durch die Erfassung strukturierter Daten eher gestiegen sei. Das Spital zieht denn auch ein nüchternes Fazit: «Durch die Einführung des KIS konnte aus Sicht der Anwender nicht wirklich eine Optimierung erreicht werden.» Beim Thema Effizienzsteigerung offenbaren viele Systeme zwei Seiten der Medaille. Auf der einen Seite bringe die Digitalisierung viel Sparpotenzial mit sich, auf der anderen nehmen die KIS aber auch Zeit in Anspruch. «Die medizinischen Mitarbeitenden verbringen immer mehr Arbeitszeit mit dem elektronischen System», schreibt etwa Karmen Kusic, Leiterin Klinische Informationssysteme am Spital Uster. Mehrere Spitäler stellen ausserdem fest, dass sie vom KIS mittlerweile in hohem Masse abhängig sind. Das könne zum Problem werden, wenn das System einmal ausfallen sollte. Oder wie es Marc Kohler, CEO des Spitals Thurgau, formuliert: «Ohne KISIM geht nichts mehr bei uns.»

PWC sieht auf die Schweizer Spitäler mit dem demografischen und technologischen Wandel in den kommenden Jahren viele Herausforderungen zukommen. Diesen müssten auch die KIS in Zukunft gewachsen sein. Dabei geht es nicht nur um die erwähnten mobilen Services, sondern auch um die Einbindung neuer Technologien und Dienstleistungen. Womöglich braucht es gar eine neue Generation – ein «KIS 4.0» – um die Systeme für die E-Health von morgen fit zu machen. Zwei Referate zum Thema KIS am Swiss E-Health-Forum widmen sich diesem Thema. Die Integration von neuen Funktionen und Schnittstellen in die bestehende Spital-IT stelle allerdings oft ein Problem dar, schreibt PWC. Ein unter Umständen seit Jahren laufendes KIS komplett zu ersetzen, sei in den wenigsten Fällen sinnvoll. Mehr Erfolg verspreche eine teilweise Modernisierung, in der «Legacy»-Systeme und neue Module nebeneinander koexistieren. Nur ein solches «KIS der Zukunft» könne den Anforderungen von heute und morgen gerecht werden..

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