Interview

"Wichtiger als ein 'Big Bang' ist mir die schrittweise Weiterentwicklung"

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Seit mehr als 20 Jahren ist Gabriela Keller bei Ergon Informatik tätig. Anfang dieses Jahres stieg sie zur Geschäftsführerin auf. Im ­Interview erzählt sie, wie ihre ersten 100 Tage im neuen Amt verliefen, was sie für die Zukunft plant und warum sie eigentlich schon länger als 100 Tage im Sattel sitzt.

Gabriela Keller, CEO, Ergon
Gabriela Keller, CEO, Ergon

Wie fühlt es sich an, jetzt Ergon-Chefin zu sein?

Gabriela Keller: Es fühlt sich gut an, und es macht vor allem Spass. Wir sind ein super Team. Ich spüre viel Unterstützung auch von den Mitarbeitern. Ich muss aber auch viel Neues lernen, obwohl ich schon lange in der Geschäftsleitung tätig bin. Es ist spannend.

Wie ging der Generationenwechsel bei Ergon vonstatten?

Die GL fällte 2010 den Entscheid, eine bewusste Verjüngung beziehungsweise eine Nachfolge­lösung einzuleiten. Wir initiierten dann einen fünfjährigen Prozess, ohne am Anfang genau zu wissen, wohin er führt. Zuerst machten wir mit dem Management-Team eine Weiterbildung.

Wie sah diese Weiterbildung konkret aus?

Das Programm der Uni St. Gallen war spezifisch auf uns und unsere Firmenkultur zugeschnitten. Die Erkenntnisse der Ausbildung setzten wir in der Ergon um. Wir stiessen intern den Prozess gemeinsam mit denjenigen Mitarbeitern an, die mitmachen wollten, die neue Ergon-Strategie und das Leitbild für 2016 zu entwickeln.

Wie haben Sie dann den Wechsel umgesetzt?

Danach verlagerten wir den unternehmerischen Handlungskern stärker in die Abteilungen und bildeten Leitungsteams als Ergänzung zu den Abteilungsleitern. Zuletzt erarbeiteten wir im Sommer 2015, also ein Jahr vor der Umsetzung, auch den Vorschlag, wie wir die neue Geschäftsleitung zusammensetzen wollen. Im Herbst fingen wir an, gewisse Themen bereits im neuen Gremium zu bearbeiten. So führten wir die neuen Kollegen in ihre neue Rolle ein. Die Mitarbeiter informierten wir laufend.

Und die Mitarbeiter stimmten den Veränderungen zu?

Im Januar 2016 führten wir dann eine Befragung unter den Mitarbeitern durch und wollten wissen, ob sie mit den Veränderungen einverstanden sind. Sie konnten dabei auch kundtun, welche Chancen und Risiken sie sahen. Es gab eine breite Zustimmung.

Hat sich der Umgang der Mitarbeiter mit Ihnen verändert?

Nein. Er ist gleich geblieben. Ich spüre Anerkennung und Wertschätzung. Ich glaube, die Mitarbeiter freuen sich, dass ich die Aufgabe übernommen habe. Als Frau in einer Tech-Firma ist es immer noch etwas Besonderes.

Wo Sie es gerade ansprechen. Auf dem Foto der Geschäftsleitung von Ergon sind Sie die einzige Frau unter sieben Männern. Gerade in der Chefetage und bei den Entwicklern sind Frauen eher selten. Wie sieht es bei Ergon aus?

Wir sind eine Engineering-Firma und die Zusammensetzung unserer Firma entspricht dem Schnitt der Branche und dem der ETH-Studierenden. Wir liegen bei 15 Prozent Frauenanteil. Ich freue mich sicherlich, wenn der Frauenanteil steigt, kann dies jedoch nur bedingt beeinflussen.

Hat sich in den letzten zehn Jahren nur wenig getan?

Es geht nur sehr langsam vorwärts, aber es geht sicherlich in die richtige Richtung. Wir stellten dieses Jahr vier Ingenieurinnen ein, und aktuell sind zwei ETH-Studentinnen als Praktikantinnen bei uns. Es laufen gute Initiativen, die Attraktivität der IT-Berufe bekannter zu machen. Für die Branche ist wichtig, dass sowohl Männer wie auch Frauen angesprochen werden, in die Informatik zu gehen. Wir müssen zeigen, wie spannend unser Job ist und welche Möglichkeiten wir haben.

Wie unterstützen Sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie?

Was sicher hilft, sind Jahresarbeitszeit, Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten, und da sind viele IT-Unternehmen schon sehr weit. Wir haben selbst 38 Prozent Teilzeitstellen im Unternehmen. Darunter sind viele Männer, die für ihre Familien das Pensum reduzieren. Auch Möglichkeiten zum Homeoffice bieten Potenzial. Diese Massnahmen helfen generell und speziell den Frauen, im Beruf zu bleiben.

Macht es Sie stolz, dass die «NZZ» Ergon Informatik in einem Firmenporträt als «Zürichs Gegengewicht zu Google» bezeichnet hat?

Es ist schon schön, wenn man im gleichen Atemzug wie Google genannt wird. In diesem Sinne ehrt es mich auch ein bisschen. Aber es gibt eigentlich keine Fakten, mit denen man eine solche Aussage belegen könnte. Wir suchen auch nicht bewusst den Vergleich mit Google. Unsere Tätigkeiten sind recht unterschiedlich. Was wir wollen, ist als Arbeitgeber ähnlich attraktiv zu sein wie Google. Dass Google in Zürich ist, sehe ich sehr positiv. Denn es hilft dem Standort Zürich extrem, auch wenn das Unternehmen mit den lokalen Dienstleistern bei den Fachkräften im Wettbewerb steht.

Bei der Recherche habe ich festgestellt, dass die Firma genau so alt ist wie ich, Jahrgang 1984.

Ja, gerade eben war auch das 32-Jahr-Jubiläum des Vereins der Informatikstudenten (VIS) der ETH. 1984 war zudem das Jahr, in dem die ersten Macs in Schweiz kamen, es scheint ein gutes Jahr gewesen zu sein.

Was haben Sie in den bisher rund 100 Tagen als Chefin erreicht?

Wir sind als neues Geschäftsleitungsteam zusammengewachsen. Wir arbeiten zwar schon jahrelang zusammen, aber die meisten von uns haben jetzt eine neue Rolle. Es sind viele neue Ideen und es ist viel Energie vorhanden, die wir priorisieren müssen.

Die ganz grossen Veränderungen haben Sie also noch nicht ­angestossen?

Bei einer erfolgreichen Firma braucht es keine grossen Veränderungen. Ich möchte es mit Bedacht angehen und in Ruhe überlegen, mit welchen kleineren Schritten wir vo­rankommen. Die schrittweise Weiterentwicklung ist mir wichtiger als ein «Big Bang».

Ergon ist in den letzten Jahren immer sehr stark gewachsen. Von unter 100 Angestellten Anfang der 2000er-Jahre bis über 250 heute. Damit haben Sie sozusagen die KMU-Grenze überwunden. Welche Probleme bringt dieses Wachstum mit sich?

Die Mitarbeiterzahl ist in den letzten zwölf Jahren jährlich um 10 Prozent gewachsen. Dabei war das Wachstum nie unser eigentliches Ziel, sondern ist die Konsequenz unseres Erfolgs. Wir haben tolle Projekte mit bestehenden Kunden und gleichzeitig Chancen wahrgenommen, neue Kunden und Themen anzugehen. Bei uns ist es eher umgekehrt: Wir beschränken unser Wachstum nach oben, weil wir nur so viel wachsen wollen, dass wir die neuen Mitarbeiter gut integrieren können. Aber Wachstum ist schon eine permanente Herausforderung, der wir uns stellen müssen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

2014 ergänzten wir die Abteilungsleiter um ein Leitungs­team, um mehr Managementkapazitäten zu haben. Damit musste nicht mehr eine einzelne Person die ständig wachsende Abteilung betreuen. Nun können die Abteilungen auch wieder grösser werden.

Sie sehen also noch kein unmittelbares Ende des Wachstums?

Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das Wachstum irgendwann verlangsamt. Es gibt natürlich begrenzende Faktoren, wie etwa die Anzahl der Ingenieure, die ausgebildet werden. Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Im Zuge der Vorbereitung für das Jubiläum des Vereins der Informatikstudenten der ETH Zürich trug ich ein paar Fakten zusammen. Es gibt bis heute knapp 2700 ETH-Absolventen, also Master- oder vorher Diplom-Absolventen. Knapp 130 von ihnen sind heute für Ergon tätig, dies sind ungefähr 5 Prozent aller bisherigen ETH-Absolventen. Diesen Anteil möchten wir gern halten.

Was werden für Ergon in den nächsten Jahren die zentralen ­Bereiche sein?

Wir sind bewusst sehr breit aufgestellt. Damit wollen wir eine zu starke Abhängigkeit von einzelnen Branchen verhindern. Zudem macht es die Arbeit für uns auch spannender, denn unsere Mitarbeiter können verschiedene Bereiche kennenlernen. Daran wollen wir festhalten. Momentan machen wir mit unseren Sicherheitsprodukten rund ein Viertel unseres Umsatzes, und ich glaube, dass dies auch in etwa so beibehalten wird. Die vielen Digitalisierungsprojekte kommen uns insofern entgegen, da es häufig sehr komplexe Fragestellungen sind. Mit unserem breiten Portfolio und den Fähigkeiten können wir hier punkten und sehen gute Chancen.

Damit sind aber auch Reibungsverluste verbunden.

Wir nehmen es bewusst in Kauf, dass einmal mehr Energie gebraucht oder etwas zweimal gemacht wird. Wir glauben, dass der Gewinn an Gesamtexpertise stärker wiegt als das Vermeiden von kurzfristigen Doppelspurigkeiten.

Wie schlägt sich Ihre Firmenkultur in den Projekten nieder?

Wir haben vier Grundwerte. Wir setzen auf Gleichstellung im Sinne „gleiche Rechte und Pflichten für alle“. Hinzu kommen Transparenz, Mitbestimmung und Beteiligung als weitere Aspekte. Dies mit dem Ziel, dass unsere Mitarbeiter selbstbestimmt arbeiten und dass sich dieses Selbstverständnis auch im Umgang mit den Kunden wiederfindet. Die Mitarbeiter nehmen eine aktive Rolle ein und tragen dazu bei, Themen zu hinterfragen oder bestehende Prozesse aufzubrechen, um eine bessere Lösung zu finden. Dies führt zu mehr Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit, indem unsere Mitarbeiter bereit sind, mehr zu tun als nur das unbedingt Notwendige, und sich in ihren Projekten sehr stark engagieren.

Und im negativen Fall?

Den gibt es natürlich auch. Auch bei uns ist nicht jedes Projekt zu jedem Zeitpunkt rosig. Man verschätzt sich auch einmal. Dann muss man gegenüber dem Kunden dazu stehen und mit ihm gemeinsam Lösungen finden.

Sie haben also eine recht hohe Fehlertoleranz?

So lange niemand vorsätzlich handelt, ja. Wer keine Fehler macht, hat auch nichts ausprobiert. Die Erwartung ist aber schon, dass man den gleichen Fehler nicht zwei Mal macht.

Wie sehen Sie Ergon in der Schweiz verankert, gerade auch als ­grösseres Technik-Unternehmen?

Wir haben unsere eigene Positionierung, gerade da wir kein Near- oder Offshoring betreiben. Kunden, die uns wählen, suchen unsere Stärken. Projekte, die stark über den Preis entschieden werden, gehen vielleicht eher an Nearshoring-Anbieter. Was uns wettbewerbsfähig macht, ist die überdurchschnittliche Arbeitsleistung unserer Ingenieure und unser fundiertes Know-how von Branchen und lokalen Gegebenheiten. Mittelfristig ist ein Projekt mit uns für Kunden daher nicht selten günstiger, auch wenn es zu Beginn teurer erscheint. Man kann daher schon sagen, dass wir mit unserer Grösse und unserem Ansatz in der Schweiz relativ allein dastehen. Deutlich kleinere Unternehmen mit dem gleichen Ansatz gibt es natürlich viele.

Sind für Sie Zukäufe ein Thema?

Wir suchen es zumindest nicht aktiv. Das Produkt Airlock hatten wir seinerzeit als Spin-off entlassen und dann wieder zurückgekauft. Aber sonst sind wir immer aus eigener Kraft gewachsen. Was wir jedoch sehr aktiv pflegen, ist die Zusammenarbeit mit Partnern.

Wie kann eine vergleichsweise kleine Schweizer Firma wie Ergon langfristig gegen Branchengrössen wie Google oder ­Microsoft überleben?

Die grossen Firmen haben ein ganz anderes Geschäftsmodell, und wir kommen uns nicht in die Quere. Von den gros­sen internationalen Firmen kommen eher die Komponenten und Tools, die wir anwenden können.

Sie teilen also nicht die Befürchtung, dass es in Zukunft nur noch wenige grosse Softwarefirmen geben wird?

Die grossen Firmen schaffen primär an ihren Produkten und sind nicht Dienstleister wie wir. Ich gehe aber davon aus, dass auch in Zukunft nicht alle Probleme allein mit Produkten gelöst werden können. Gerade bei der Digitalisierung geht es ja darum, dass Software Wettbewerbsvorteile schafft. Hier sind wir dann gefragt, denn Wettbewerbsvorteile kann man nicht ab Stange kaufen.

Welche Techniktrends werden Sie in den nächsten Jahren ­beschäftigen?

Sicherheitsthemen sind sicherlich ganz zentral. Wenn man sich die vielen Datendiebstähle und Hacks anschaut, besteht erheblicher Handlungsbedarf. Dies kumuliert sich mit dem Bedürfnis der Unternehmen, immer mehr Dienste auch über das Web anbieten zu wollen. Sicherheit gilt immer noch als Kostenfaktor, doch das Bewusstsein für Sicherheit nimmt zu. Weiter sehe ich einen Trend weg von grossen monolithischen Systemen hin zu Micro-Services, also kleineren abgekapselten Komponenten, die flexibler sind. Agilität ist hier das Schlagwort.

Können Sie das näher erklären?

Es besteht ein grosser Druck, viel häufiger neue Funktionen auszurollen. Der Trend geht eindeutig weg von zum Beispiel drei Major-Releases im Jahr hin zu häufigeren kleineren, vielleicht monatlichen Releases. Dies hat einen direkten Einfluss auf die gesamte Zusammenarbeit zwischen Kunden und Auftraggeber. Auch der Betrieb muss darauf ausgelegt sein. Die ganzen Testfrequenzen müssen etwa in viel kleineren Intervallen durchgeführt werden. Dies wird noch zunehmen.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Technisch lässt sich das in den Griff bekommen, das zeigen uns Firmen wie Netflix und Facebook, die teilweise mehrmals täglich releasen. Wenn aber viele Personen im Prozess involviert sind, lassen sich nicht alle Meetings, Reviews und Entscheidungen beliebig skalieren. Wir sehen das auch bei eigenen Projekten. Dort arbeiten wir daran, von zwei bis drei Releases pro Jahr auf monatliche Releases umzusteigen. Bestehende Prozesse müssen dafür nicht nur beschleunigt, sondern teilweise auch angepasst werden.

Kann ein kleineres Unternehmen solche Prozesse überhaupt noch handhaben?

Ich sehe die Herausforderungen ehrlich gesagt nicht nur bei uns Anbietern, sondern mindestens so stark auch bei unseren Kunden. Sie müssen permanent auf den Markt reagieren und ihren Benutzern regelmässig neue Ideen und Verbesserungen präsentieren, um kompetitiv zu bleiben. Unser Beitrag besteht darin, auch kleine Erweiterungen speditiv umzusetzen und sichtbar zu machen. Dadurch erhalten unsere Kunden rasch Feedback und können weitere Schritte planen.

Wie machen Sie solche schnellen Resultate möglich?

Wir verwenden ein agiles Vorgehen und automatisierte Prozesse, um unsere Software zu testen und in einer realitätsnahen Umgebung zu starten. Dazu braucht es gutes Engineering, um solche verteilten Systeme kontrolliert wachsen zu lassen, ohne dass sie zu komplex werden.

Kann ein mittelgrosses KMU dies noch alles selbst ­handhaben?

Das ist sicher eine Herausforderung, und ein solches Unternehmen muss sich überlegen, gewisse Aufgaben in spezialisierte Hände zu geben. Cloud ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch ein Schlagwort. Heutzutage muss alles in der Cloud betrieben werden können. Man muss auch bei den Rechenzentren von den monolithischen Systemen wegkommen und mehr auf dezentrale Lösungen setzen. Auch hybride Umgebungen sehe ich im Kommen, etwa ein Dienst ist eingekauft, der andere wird über ein eigenes Rechenzentrum betrieben, und ein anderer Prozess läuft bei einem Rechenzentrum von einem Partner.

Also wird Ihnen in Zukunft die Arbeit nicht ausgehen?

Nein, diese Entwicklungen bedeuten viel Arbeit und weitere Projekte für uns. Wir freuen uns schon, unsere Kunden auf dem Weg unterstützen zu können.

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