Nachgefragt

"Mobilität ist eine Grundvoraussetzung für die 'Smart Society'"

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von Interview: André Arrigoni und Peter Geissbühler, AWK Group

Das Bundesamt für Verkehr (BAV) befasst sich auch intensiv mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Mobilität. Im Gespräch mit BAV-Direktor Peter Füglistaler beleuchtet die AWK Group die aktuellen Herausforderungen des BAV und dessen künftige Rolle in einer "Smart Society". Das Interview wurde von André Arrigoni und Peter Geissbühler, AWK Group, geführt und erscheint in der Fachpublikation "AWK Fokus".

André Arrigoni (l.), Partner bei AWK, und Peter Geissbühler (r.), Bereichsleiter bei AWK, im Gespräch mit Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr.
André Arrigoni (l.), Partner bei AWK, und Peter Geissbühler (r.), Bereichsleiter bei AWK, im Gespräch mit Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr.

Mit welchen Herausforderungen setzt sich das BAV aktuell auseinander?

Peter Füglistaler: Die grösste Herausforderung ist das Verkehrswachstum. Wir prognostizieren, dass der öffentliche Verkehr bis 2040 verglichen mit 2010 um 50 Prozent wächst und sich das Verkehrsaufkommen auf gewissen Linien verdoppelt. Um diesen Verkehr zu bewältigen, müssen wir weiter massiv ausbauen und in Infrastruktur, Rollmaterial und Arbeitsplätze investieren. Das führt in unserem hochausgelasteten Netz zwischenzeitlich zu operativen Problemen und zu Einschränkungen für die Kundinnen und Kunden. Eine zweite grosse Herausforderung ist die Digitalisierung. Den Qualitätsstandard unserer Systeme beizubehalten und gleichzeitig erheblich mehr Personen zu befördern, wird uns intensiv beschäftigen. Darüber hinaus soll der ÖV je länger desto mehr bedarfsorientiert statt fahrplangetrieben sein und wir sehen uns mit immer neuen Ideen und Mitbewerbern konfrontiert.

Wie sehen Sie die Rolle des BAV?

Das BAV plant den gesamten Ausbau im ÖV und muss als Regulator einen gesetzlichen Rahmen setzen, der Entwicklung ermöglicht. Zurzeit passen etwa Kleinbusse und Rufangebote noch nicht in unsere Gesetzgebung, denn ÖV wird im geltenden Gesetz als Transport ab acht Personen definiert. Gleichermas­sen ist es unsere Aufgabe, innovationshemmende Strukturen innerhalb der Branche zu hinterfragen und Möglichkeiten aufzuzeigen, sie zu öffnen. Letztlich müssen wir dafür sorgen, dass das Pflänzchen der Digitalisierung wachsen kann und nicht ausgerissen wird.

Welche Chancen bringt und welche Risiken birgt die Digitalisierung für den ÖV?

Mit der Digitalisierung lässt sich die Kundenschnittstelle stark verbessern. Wir können eine ganz andere Informationsqualität, etwa im Störungsfall, und viel mehr Möglichkeiten bieten – von der Suche, über den Kauf bis zur Nutzung des ÖV und anderer Verkehrsmittel. Das Ganze ist im Aufbau und muss rasch vo­rangetrieben werden, denn die Kundinnen und Kunden wollen schon heute alles über ihr Mobiltelefon erledigen können. Aus­serdem lässt sich die Effizienz in den Transportunternehmen steigern, sei es bei der Steuerung von Zügen, Analysen oder dem Betrieb und Unterhalt. Da diese Bereiche aber primär evolutionär weiterentwickelt werden, sind keine grossen Effizienzsprünge zu erwarten. Mit der Digitalisierung beleben aber auch neue Mitbewerber einen immer dynamischeren Markt und gewachsene Strukturen werden infrage gestellt. Plötzlich lanciert ein kleiner Privater eine umfassende Fahrplan-App, oder PubliBike, das Bike-Sharing-System von Postauto, konkurriert mit einem chinesischen System.

Was würden Sie morgen an der Mobilitätslandschaft der Schweiz verändern?

Für die beste ÖV-Landschaft reicht die beste schweizerische Lösung nicht mehr aus. Ich würde darum die sehr engen Grenzen unseres hochreglementierten ÖV mit seinen geschlossenen Vertriebssystemen für andere Anbieter öffnen. Unser System ist sehr stabil; wir können uns daher eine gewisse Risikobereitschaft und Offenheit durchaus leisten, etwa auch gegenüber Fernbussen, die einem Bedürfnis junger Kundinnen und Kunden entsprechen.

Welche Rolle spielt die Mobilität in einer "Smart Society"? Mit welchem Stellenwert?

Mobilität ist eine Grundvoraussetzung für die "Smart Society". Man muss sich jederzeit von A nach B bewegen, jemanden besuchen oder kontaktieren können. Man muss physisch ebenso mobil sein wie elektronisch. Mit den technologischen Möglichkeiten steigen aber auch die Ansprüche: Eine Reise soll sich noch einfacher, vielfältiger und schneller planen lassen und die jeweilige Transportkette soll innerhalb von Minuten organisiert sein.

Wo werden die verschiedenen Smart-Themen die Mobilität am stärksten beeinflussen und ver­ändern?

Am stärksten verändern wird sich die Kundenschnittstelle. Die Kundenbeziehung wird vorwiegend über das Mobiltelefon laufen, folglich müssen alle Dienstleistungen auf einer App verfügbar sein. Das führt zu einer enormen Bündelung und zu einem grossen Veränderungsdruck auf die Branche. Ausserdem wird das Eigentum an Verkehrsmitteln abnehmen: Statt ein Fahrrad oder Auto zu besitzen, möchte man es einfach nutzen. Die jeweils beste Lösung soll rasch und unkompliziert genutzt werden können.

Der Begriff "smart" ist omnipräsent. Wie schätzen Sie diesen Hype ein?

Digitalisiert wird bereits seit den 1970er-Jahren, doch die Entwicklung und Dynamik der letzten Jahre – die unendlich vielen Möglichkeiten der mobilen Geräte, die Qualität der Datenverarbeitung, die Datenmengen, die übermittelt werden können – übersteigen das bisher Dagewesene. Solche extremen Entwicklungen unter Sammelbegriffe wie Digitalisierung oder "Smart Society" zu fassen, ist nachvollziehbar. Trotzdem sollte nicht gleich jeder Release-Wechsel als "smart" bezeichnet werden. Vor allem auf Projektebene wünschte ich mir herkömmliche Begriffe. Vieles aus dem Smart-Hype würde wieder als normale Technologieentwicklung, als Ablösung und Release-Management verstanden werden.

Welche drei Wünsche hegen Sie persönlich für eine "smarte" Zukunft der Schweiz?

Erstens wünsche ich mir im in- und ausländischen ÖV eine Lösung, durch die der vorgängige Ticketkauf entfällt und eine Reise nachträglich und nach tatsächlich befahrenen Strecken beziehungsweise Zonen berechnet wird. Zweitens wäre eine noch multimodalere und vollständig behindertengerechte Transportkette wünschenswert, die insofern durchgängig ist, als dass eine kombinierte Reise – zum Beispiel mit Taxi und Zug – mit einem Billett, einer App beziehungsweise einem Zahlungsvorgang bezahlt werden kann. Drittens würde ich es begrüssen, als Kunde wieder mehr wertgeschätzt und betreut zu werden und wie früher einen Kaffee am Platz serviert zu bekommen.

Sind "Mobility as a Service", "Tür-zu-Tür"-Mobilität und intermodale Reiseketten ein echtes Kundenbedürfnis?

Wir wissen es nicht genau. Der Markt wird entscheiden, ob etwas ein Bedürfnis vieler oder nur ein Nischenangebot für wenige ist. Gegenüber Infrastrukturinvestitionen bringt die Digitalisierung den Vorteil, dass es nicht sehr viel kostet, eine Idee auszuprobieren, ein Start-up zu gründen oder eine App zu entwickeln. Das Marktrisiko lässt sich zudem reduzieren, indem bestehende, weitverbreitete Apps kontinuierlich erweitert werden und die gesamte Entwicklung Schritt für Schritt erfolgt.

Welche Rolle hat das BAV bei der Konzeption und Umsetzung einer nationalen Mobilitätsdatenplattform?

Gemäss Bundesratsbeschluss ist ein Grundstock an Daten bereitzustellen. Das BAV wirkt dabei als "Enabler": Wir helfen, diesen Grundstock zur Verfügung zu stellen und die spätere Datennutzung zu ermöglichen. Zuerst erfassen wir die geografischen Daten aller Bahnhöfe und Haltestellen; Parkhäuser und andere Anlagen werden von Gemeinden und Kantonen verzeichnet. Dann müssen Betriebsinformationen wie der Realtime-Fahrplan oder die Parkplatzbelegung bereitgestellt und schliesslich die Preise für die Leistungen ergänzt werden. Diese Daten werden frei zugänglich zur Verfügung gestellt. Auf dieser Basis können Dritte neue Produkte und Geschäftsmodelle wie zum Beispiel neue Buchungsplattformen und Apps entwickeln. Obwohl es keine gesetzliche Pflicht gibt, sind wir auf dem eingeschlagenen Weg bereits weit vorangekommen. Wir konnten Gemeinden, Kantone und weitere Beteiligte motivieren, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Damit tragen sie entscheidend zur modernen Schweiz bei und stellen gleichzeitig sicher, in Angeboten und Tools berücksichtigt zu werden und davon zu profitieren.

Was versprechen Sie sich von der Öffnung des Vertriebs für Dritte? Welche Voraussetzungen müssen noch geschaffen werden?

Wenn Dritte auf ihren Plattformen sowohl Flüge als auch Bahnreisen samt Hotels anbieten können, führt das zu einem breiteren Angebot und damit zu mehr Kundschaft. Vor Konkurrenz und Preisdruck durch Plattformen wie Booking.com brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn wir haben im ÖV, anders als in der Hotellerie, nur ein "Hotel": Der Vorteil unserer geschlossenen Branche besteht darin, dass ein Tarif festgelegt ist und den Transportunternehmen bei einer Öffnung des Vertriebs auch von Dritten bezahlt werden muss. Die Öffnung der Vertriebssysteme muss aber transparent und reguliert erfolgen. Einnahmen und Qualität müssen gesichert sein. Da der Gesetzgebungsprozess zwei bis drei Jahre dauert, wäre es mir wichtig, wenn die Branche den Zugang zum Vertrieb selbst öffnete und Dritte nach bestimmten Bedingungen teilhaben liesse.

Zum Schluss: Was wünscht sich das BAV von ­etablierten und neuen Playern der Mobilitäts­branche?

Ich wünsche mir, dass das Wir-Gefühl im ÖV erhalten bleibt und weiterhin die Grundeinstellung vorherrscht, unseren Kundinnen und Kunden die beste Lösung anzubieten.

Die vollständige Ausgabe zum Thema "Smart Society" kann auf der AWK-Website heruntergeladen werden.

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