Gast-Interview

Sara Stalder: "Chancen der Digitalisierung werden in den Vordergrund gestellt, Risiken bagatellisiert"

Uhr
von Interview: Fridel Rickenbacher, Mitglied Redaktion swissICT, MCo-Gründer und CIO MIT-Group

Die Herausforderungen des Persönlichkeits- und Datenschutzes von Konsumentinnen und Konsumenten werden durch die Monetarisierung von Daten und die Risiken von Data Breaches immer umfassender. Wie weit dürfen Händler und Anbieter gehen? Wie viel Sensibilisierung braucht es? Antworten darauf gibt Konsumentenschützerin Sara Stalder.

Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz. (Source: zVg)
Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz. (Source: zVg)

Wie gehen Konsumenten mit der Digitalisierung um? Welche Auswirkungen sehen Sie diesbezüglich in der Schweizer Detailhandels-Landschaft mit all den Online-Einkaufsmöglichkeiten?

Sara Stalder: Bei unspezifischen Alltagsgegenständen wie Putzmittel oder WC-Papier orientiert sich der Konsument immer mehr auch online, aber auch für Lebensmittel-Einkäufe auf Vorrat inklusive Heimlieferung. Je nach künftiger Ausgestaltung dieser Lieferkette auf der letzten Meile wird es hier weitere Herausforderungen geben beim stationären Handel, denn möglichst schnell nach eingegangener Online-Bestellung nach Hause zu liefern, wird mit Hochdruck vorangetrieben. Beim Anprobieren und Ausprobieren wird der physische Handel, die Offline-Angebote mit der persönlichen Beratung, immer einen unverändert grossen Vorteil haben; dieser kann genutzt werden – oder auch nicht, wie ich manchmal selbst erstaunt feststellen muss. Enttäuschte Kunden oder Vollzeit-Berufstätige kaufen eher online ein.

 

Wo liegen die grössten Herausforderungen?

Durch das Einkaufserlebnis, Beratung und Erlebnisse des Produktes oder Dienstleistung ist der physische Handel mit Verkaufsstellen gut positioniert, aber auch sehr stark herausgefordert. Denn an einer guten und nachhaltigen Kundenbeziehung muss ständig gearbeitet werden. Beide Bereiche müssen weiterentwickelt werden. Ich bin überzeugt, dass es Läden und Verkaufsstellen immer geben und brauchen wird, da persönliche Beratung und Kontaktaspekte unerlässlich bleiben. Stetige Weiterentwicklung und Kooperationen von gleichgesinnten kleineren Läden oder Verkaufsstellen für einen Onlineshop zur Bewirtschaftung von beiden Channels kann matchentscheidend werden. Grosse Handelsunternehmen können beide Einkaufsarten parallel stemmen.

 

Der Konsumentenschutz und vor allem auch dessen Sensibilisierung nimmt im Zeitalter der Digitalisierung an Wichtigkeit zu. Wer und was schützt den Konsumenten überhaupt noch ernsthaft und aufrichtig auf der "von Konzernen beherrschten freien Wildbahn"? Hat künftig der Konsument "David" gegen den Anbieter "Goliath" eine faire Chance?

Die Analogie "David und Goliath" ist in diesem Bereich eine ganz wichtige Thematik – Algorithmen oder Logiken für die Auswertung und Verwertung von personenbezogenen Daten sind für den Konsumenten unmöglich zu erfassen, zu verstehen oder gar zu kontrollieren und lenken. Hier braucht es nebst starken gesetzlichen Rahmenbedingungen eine verstärkte, ernsthaftere Auseinandersetzung und Transparenz zwischen Anbietern und Konsumenten. Das jetzige Machtverhältnis ist maximal einseitig. Dass damit eine gewisse Willkür und der Kontrollverlust bezüglich der Datenverwendung einhergeht, ist nicht von der Hand zu weisen. Stärkere Gesetzesregulationen sind unumgänglich, aber nur nützlich, wenn diese auch wirklich anwendbar und verkraftbar sind für alle Akteure. Es ist wichtig, dass die schweizerische Datenschutzregulation möglichst stark angelehnt und ausgerichtet wird an die europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO), denn dies wird für die Mehrheit der Unternehmen eine grosse Erleichterung sein. Ansonsten sind sie gezwungen, zwei Regulationen gerecht zu werden.

 

Die Sensibilisierung und Vertrauensförderung der verstärkt angegriffenen und manipulierbaren "Schwachstelle" Mensch ist ein wichtiger Faktor beim Erreichen eines möglichst hohen Vertrauens-Niveaus seitens des Handels und der Anbieter. Wird hier genug gemacht?

Unabhängige Auskunftsstellen sind sehr wichtig und werden immer wichtiger mit dem ernsthaften, neutralen Fokus auf den Konsumenten im undurchsichtigen Dschungel des Angebots und im Speziellen des Online-Handels. Internet und Online-Angebote waren schon bisher nie neutral. Im Zeitalter der steigenden Undurchsichtigkeit und des Überangebots von Produkten und Informationen, zunehmender "Fake News" oder "Fake Shops" mit entsprechenden Manipulationen der Leser oder Konsumenten hat die Skepsis gegenüber einer solchen Systemgläubigkeit weiter zugenommen.

 

Die personenbezogenen Konsumenten-Daten werden teilweise und auch unbewusst, unfreiwillig komplett offengelegt - bis hin zum "gläsernen Menschen". Sensoren liefern zusätzlich über IoT, digitale Geräte, Wearables, Trackers, Internetnutzung und Apps rund um die Uhr weitergehende Informationen über das Verhalten der Nutzer. Wie soll man dieser Entwicklung begegnen?

Die Digitalisierung hat sehr viel Positives und auch Vereinfachendes, die Chancen werden – wie bei einem Hochglanzprospekt - in den Vordergrund gestellt, Risiken werden jedoch bagatellisiert. Das Umdenken wird kommen – auch bei jungen Menschen ist das schon spürbar, besonders in der Auseinandersetzung mit oder gegen den gläsernen Menschen und entsprechenden Verhaltensweisen im Umgang mit der Digitalisierung. Es gibt eigentlich keine echte 100-prozentige Privatsphäre mehr – sei es freiwillig oder unfreiwillig mitgestaltet. Verknüpfte, selbst anonymisierte Datensätze – auch bei vermeintlich maximierten Datenschutzeinstellungen – werden immer Spuren und letztlich Profiling-Möglichkeiten zurücklassen, wovon die Online-Anbieter profitieren.

 

Wie kann man dem entgegen wirken?

Es ist wichtig, dass offengelegt wird, wie ein Online-Suchergebnis oder Angebot zustande kommt, es braucht mehr Transparenz und Vertrauenswürdigkeit. Dies ist wichtig bei personifizierten Angeboten in Webshops, Werbungen und speziell bei Finanzdienstleistungen wie Versicherungspolicen. Der Konsument hat vermeintlich immer die Möglichkeit, sich vom Tracking abzumelden, vielfach geschieht dies mit einem "Opt out" bei den Datenschutzeinstellungen oder es wird zuerst seine explizite Zustimmung verlangt. Doch es ist leider "by design" derzeit so, dass eine Abmeldung kaum zu 100 Prozent durchgeführt werden kann, zudem sehr zeitaufwändig und kompliziert ist. Wir testeten seitens Konsumentenschutz solche "Opt-out"-Möglichkeiten auch aus, beispielsweise kürzlich, als die Swisscom die Kundendaten einfach an Admeira übermitteln wollte. Doch das Abmelden war ein zeitaufwändiges Versteckspiel mit zurückbleibenden Unsicherheiten, ob alle offenen Schieber gefunden und geschlossen werden konnten.

 

Wie ist aus Ihrer Sicht der Spagat der zunehmenden Datenverarbeitung in der digitalisierten Industrie einerseits und dem Konsumentenschutz andererseits zu schaffen? Sind Regulationen wie die EU Datenschutzgrundverordnung oder das Schweizer Datenschutzgesetz aus Ihrer Sicht passend?

Die Schweizer Wirtschaft macht sich im Bereich der Datenschutzregulation speziell einen Bärendienst bei einem zu stark fokussierten, abgeschwächten Swiss Finish. Wir plädieren hier für eine möglichst adaptierbare Anlehnung an die europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO). Die Schweizer Firmen müssen sensibilisiert und vorbereitet sein, damit sie diese präventiven Basismassnahmen verstehen, vorbereiten und anwenden können in ihren Organisationen und Strategien. Themen wie "Privacy by Design", "Privacy by Default", Datensparsamkeit, Datenportabilität, Recht auf Löschung und Auskunft sollten keine Fremdwörter bleiben bei Konsumenten, Unternehmen und beim Gesetzgeber. Die Konsumenten wissen bestens, dass personenbezogene Daten das vielbeschworene Öl der Zukunft sind. Es ist ihnen aber zurzeit nicht bewusst, wie stark das Ausmass und die Auswirkungen der Datennutzung sind und wie gross die Bevormundungs- und Manipulationsgefahr werden kann, beispielsweise durch Profiling von Personendaten oder gar Verschleierung des Gesamtangebotes.

 

Bedrohungen rund um Cyber Security fordern zunehmend ihren Tribut. Sehen Sie einen Trend in Richtung einer Wiederbelebung von Informationsethik?

Es ist wichtig, dass nebst starken gesetzlichen Regeln die Informationsethik neu und nachhaltig thematisiert wird – auf Seite der Anbieter, Arbeitgeber aber auch auf Seite der Konsumenten mit deren teilweise mitzuverantwortenden Datenschutzdefiziten. Eine Willkür nach Gutdünken und teilweise hemmungsloser Missbrauch bei der Auswertung aller personenbezogenen Daten, Interaktionen und Onlineverhaltens muss unter allen Akteuren aktiv verhindert werden. Riesengrosse Datenverluste, wie beispielsweise bei Yahoo, bei Facebook oder auch Schweizer Unternehmen wie Swisscom, prägten sich bisher leider meist nur im Kurzzeitgedächtnis der Menschen und auch Medien ein. Es braucht mehr als nur verkraftbare Geldstrafen oder Medien-Bashings. Vielmehr ist es nötig, dass solche Datenverluste und die Strafen Auswirkungen auf unternehmensinterne Compliance-Regeln oder Ethik-Richtlinien haben.

 

Ist der Staat eigentlich genügend interessiert an "mündigen" Konsumenten?

Den Konsumenten müssen effektive, einfache und verständliche Instrumente in die Hände gegeben werden welche sie transparent managen und so die Datenhoheit wiedererlangen können. Der Staat muss mit der entsprechenden Regulierung dafür sorgen, dass dies umgesetzt wird und helfen mit entsprechenden, international angelehnten Regulationen wie zum Beispiel "Privacy by Design" oder "Privacy by Default" Datenminimierung zum Schutz oder Zurückerlangen einer maximalen Datenhoheit.

 

Wie sieht es auf Seiten der Wirtschaft aus?

Die Informationsethik und Ethik generell ist letztlich eine Unternehmeraufgabe. Ich bin überzeugt, dass die Informationsethik ein wichtiger Aspekt wird in den nächsten Jahren. Je nach Mass der Anwendung und der Datenverwendung wird die Glaubwürdigkeit und Attraktivität der Unternehmen in den nächsten Jahren daran mitgemessen. Die Schweiz könnte sich hier ganz bewusst strategisch positiv positionieren und weiterentwickeln als Vorzeigeland mit hohem Ansehen und Vertrauenswürdigkeit bezüglich Datenspeicherung, -verwendung und -sicherheit. Die Dimension der Datenverarbeitung und dem entsprechend Kleingedruckten wird seitens der meisten Konsumenten nicht erkannt, geschweige denn gar erahnt. Im Vergleich zum klassischen Eisberg mit rund einem Zehntel herausragendem, erkennbarem Teil scheint es sich derzeit beim "Daten-Eisberg" nur rund um zu eine Hundertstel erkennbaren Teil zu handeln.

 

Wie sollen wir mit dem Daten-Eisberg umgehen?

Um gegen dieses "Unterwasser-Monster" bestehen zu können, müssen wir alles was möglich ist tun. Ansonsten ist dieses Datenuniversum mit zunehmenden Algorithmen-Nutzung und künstlicher Intelligenz einfach schlicht nicht mehr zu steuern. Es wird neue Chancen geben für daten-transparente Unternehmen mit nachvollziehbaren Fokus auf Informations-Ethik und Transparenz zugunsten der Konsumenten. Als sensibilisierter Konsument sollte man sich automatisch Fragen stellen wie. "Wird mein Problem bei der Chat-Beratung oder mein Personal-Dossier bei der Bewerbung "nur künstlich" berechnet? Beantwortet mir ein Algorithmus oder Bot oder ist es mit "echtem" feinsensorischem Menschenverstand bewertet, beraten und auf verschieden Weise angeschaut?!

 

Persönlich

Sara Stalder ist seit April 2008 Geschäftsleiterin des Konsumentenschutzes. Seit Juni 2010 ist sie im Vorstand der Allianz der Konsumentenschutz-Organisation und für die operative Führung der Dachorganisation zuständig. Sie ist Mitglied in diversen eidgenössischen Kommissionen. Zwischen 1987 bis 2001 unterrichtete sie an verschiedenen Klassen der Primarstufe im Kanton Bern. Bis 2008 leitete sie eine Primarschule. Sara Stalder ist verheiratet und hat 3 Kinder.

Webcode
DPF8_112863