Jens Eckstein und Garif Yalak im Interview

Wie die Digitalisierung die Bedeutung der ärztlichen Tätigkeit verstärkt

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von Marc Landis und Interview: Bruno Habegger

Strategisch eingesetzt, fördert geeignete Technologie im Gesundheitswesen Qualität, Effizienz, Transparenz und damit die Gesundheit von Patientinnen und Patienten. Chief Medical Information Officer Jens Eckstein vom Unispital Basel wirkt an der Schnittstelle zwischen IT und Medizin; ebenso Bioinformatiker und Biomediziner Garif Yalak von Cisco. Ein Gespräch über IT im Gesundheitswesen.

Garif Yalak (l.), Bioinformatiker und Biomediziner Cisco (Source: Andreas Eggenberger, ETH Zürich); Jens Eckstein, Chief Medical Information Officer Unispital Basel. (Source: zVg)
Garif Yalak (l.), Bioinformatiker und Biomediziner Cisco (Source: Andreas Eggenberger, ETH Zürich); Jens Eckstein, Chief Medical Information Officer Unispital Basel. (Source: zVg)

Sie beide beschäftigen sich mit Medizin und ­Informationstechnologie jedoch aus verschiedenen Perspektiven. Worin unterscheiden sie sich?

Jens Eckstein: Als Chief Medical Information Officer sehe ich mich als eine Art Dolmetscher zwischen Klinik und Informatik. Als klinisch tätiger Arzt sehe ich tagtäglich die Verbesserungsmöglichkeiten oder bekomme sie kommuniziert; so kann ich den Kollegen in der Informatik präzise erklären, welche Lösungen wie und warum zu einem Mehrwert im Spital beitragen können. Gemeinsam mit meinem Team kümmere ich mich etwa um Innovationsmanagement, aber auch um die "Hausaufgaben" im Zusammenhang mit der Digitalisierung des ­Spitals.

Garif Yalak: Die Digitalisierung der Medizin und des gesamten Gesundheitswesens wird die nächsten Jahrzehnte definieren. Das Potenzial ist riesig und wir stehen erst am Anfang. Ärztinnen und Ärzte können mithilfe von Technologie bessere Entscheidungen in kürzerer Zeit treffen und Patientinnen und Patienten noch stärker ins Zentrum stellen.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Eckstein: Wir sind aktuell dabei, die sehr unterschiedlichen Systeme am Spital zu konsolidieren und führen ein einheit­liches Klinikinformationssystem im stationären und ambulanten Bereich ein. Unserem Ziel, end-to-end-digital und damit papierfrei zu arbeiten, sind wir einen grossen Schritt nähergekommen. Mittelfristig steigern wir so die Effizienz in allen Belangen und stärken die Patientensicherheit. Das gehört heutzutage zur Pflicht von IT-Verantwortlichen in Spitälern. Zur Kür zähle ich die Projekte unseres Innovationsmanagements. Die Kür ist aber ohne die Pflicht nicht möglich. Auf veralteten Infrastrukturen und Lösungen kann es keine Innovation ­geben.

Was für Projekte sind das konkret?

Eckstein: Es entstehen aktuell zukunftsweisende Leuchtturmprojekte, etwa das smarte Self-Check-in-Terminal, mit dem Patienten selbstständig einchecken, indem sie ihre Krankenkassenkarte einlesen, Angaben zum Gesundheitszustand machen und gleichzeitig von einer speziellen Kamera verschiedene Vitalparameter wie Herz- und Atemfrequenz oder Temperatur messen lassen. Eine weitere Innovation ist das "Basler Band", das wir entwickelt haben und derzeit klinisch testen. Es handelt sich dabei um ein simples Armband, das die kontinuierliche Überwachung der Vitalwerte unserer Patientinnen und Patienten im Spital und zukünftig auch zuhause ermöglicht.

Wie sicher ist die IT im Gesundheitssektor?

Eckstein: Ich glaube, die IT-Systeme im Gesundheitswesen sind aus zwei Gründen derzeit verhältnismässig gut geschützt. Zum einen, weil in den vergangenen Jahren zunehmend in IT-Sicherheitssysteme und in die entsprechenden Skills in­vestiert wurde. Viele Daten sind zudem auf unterschiedlichen Servern gelagert und nur sehr schwer zusammenführbar. Das wollen wir allerdings ändern, womit Cybersecurity nur noch wichtiger wird. Bekanntlich sind erpresserische Attacken auf Spitalsysteme bereits ein hochrelevantes Problem, das immer wieder zu massiven Behinderungen in Kliniken weltweit führt.

Yalak: Wir sehen in der Tat weltweit einen massiven Anstieg an Cyberangriffen auf das Gesundheitssystem, auch und vor allem während der Coronakrise. Die Schweiz ist dabei nicht verschont geblieben. Im Vergleich etwa zur Finanzbranche hinkt das Gesundheitswesen beim Thema Cybersecurity aber um Jahre hinterher. Gleichzeitig werden die IT-Systeme immer komplexer und durchdringen den kompletten Klinikalltag. Umso mehr sind die Sensibilisierung und Fortbildung des Klinikpersonals ausschlaggebend für den Erfolg. So ist etwa immer noch der menschliche Faktor verantwortlich für die Mehrzahl der erfolgreichen Cyberangriffe. Kurz gesagt braucht es die richtige technische Infrastruktur, Sicherheitslösungen und die nötige Ausbildung, um sicher zu bleiben.

Wie schätzen Sie aktuell den Digitalisierungsgrad des Gesundheitswesens ein? Welche Akteure haben noch Aufholbedarf?

Eckstein: Den Digitalisierungszustand des Gesundheits­wesens finde ich in hohem Masse inhomogen. Es gibt Bereiche, die schon immer sehr techniklastig waren, die eine Vorreiterrolle einnehmen, beispielsweise die Radiologie. Andere, die mehr auf Interaktion und Gespräche ausgelegt sind, suchen noch nach geeigneten Digitalisierungsmöglichkeiten. Es braucht mehr Kraftanstrengungen, um die Datenverfügbarkeit und Verwertbarkeit im Gesundheitswesen zu erhöhen. Es hängt oft weniger mit technischen als mit politischen Problemen oder falscher Führung zusammen. Trotz allem: Wir sehen uns in der Schweiz in einer schlechteren Position als wir tatsächlich sind. Die Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens hat noch eine lange Wegstrecke vor sich, aber sie ist ganz gut unterwegs und hat schon einige Hürden genommen.

Yalak: Aus technologischer Sicht kann ich das bestätigen. Die Realität hinkt jedoch der technologischen Entwicklung noch etwas hinterher. Wir könnten viel mehr in kürzerer Zeit erreichen. Ein stärker vernetztes Gesundheitssystem liefert ­grosse Potenziale, um effektiver und effizienter zu agieren. Nicht alle Herausforderungen sind technologischer Natur. Auch regulatorische Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle, um neue Lösungen zu etablieren und erfolgreich in den Klinikalltag zu integrieren. Telemedizin mithilfe von ­Videokonferenzen ist ein gutes Beispiel: Die Technologie ist bereit und wird erfolgreich in vielen Ländern eingesetzt. Die Anreize sind allerdings nicht für alle Stakeholder gleichwertig umgesetzt.

Big Data ist seit einigen Jahren ein wichtiges ­Thema in der Medizin. Inwiefern wird die Medizin objektiver durch die Auswertung von grossen Datenmengen?

Eckstein: Ich würde nicht sagen, dass sie objektiver wird. Mehr und genauere Daten ermöglichen vor allem die präzisere Behandlung des individuellen Patienten. Eine präzisere und frühere Diagnosestellung kann dazu beitragen, dass im ­Idealfall weniger Nebenwirkungen und Komplikationen behandelt werden müssen. Dafür müssen jedoch die Daten ausreichend zugänglich und auswertbar sein. Hier kommen wir noch zu oft an unsere Grenzen.

Yalak: Ich glaube, dass die Medizin vor allem individueller wird, wenn Behandlungen auf mehr und intelligenter ausgewerteten Daten beruhen. Die personalisierte Medizin verspricht eine effektivere Behandlung.

Sie sprechen die Personalisierung der Medizin an ...

Eckstein: Ja. Technologisch sind wir bald so weit, dass wir mit der sogenannten "digitalen Pille" jeden Patienten individuell behandeln und damit Erkrankungen früher, gezielter und erfolgreicher bekämpfen, unter Vermeidung von Sekundärkomplikationen. Grundlage ist jedoch die Verfügbarkeit von Daten und Algorithmen. Noch nicht ganz absehbar ist, wem dieses Wissen "gehört" und wie der Wert dieser Daten und der damit verbundenen Möglichkeiten bemessen werden wird. Persönlich würde ich ein vergleichbares Modell wie aktuell bei medizinischem Wissen präferieren, bei dem neue Erkenntnisse zeitnah weltweit geteilt werden und verfügbar sind. Theoretisch ist es aber auch denkbar, dass sich die Landschaft der Player im Gesundheitswesen zugunsten von Technologiekonzernen verschieben wird und es am Ende des Tages ausschlaggebend sein wird, bei welcher Firma Sie Ihr Gesundheitsabo haben, ob die Qualität der Vorschläge Ihrer Behandlung und die Nachhaltigkeit der Speicherung Ihrer Gesundheitsdaten entsprechend gut sind.

Yalak: Die Datenhoheit sollte ganz klar bei den Patienten liegen. Was sie mit ihren Daten machen, ist dann ihnen überlassen. So gibt es zum Beispiel viele nicht-kommerzielle Lösungen, die diese Strategie verfolgen. Technologiekonzerne können ihre Lösungen anbieten, um den Patienten einen Mehrwert zu liefern. Auch dabei sollte nur der Service, wie etwa die Auswertung der Daten, angeboten werden. Die Einsichten und Daten sollten immer beim Patienten bleiben. Dieser kann sie zum Beispiel für die Forschung zur Verfügung stellen, wenn er oder sie es möchte.

Werden die Menschen dank Big Data, Personalisierung und IT länger leben?

Eckstein: Das weiss ich noch nicht. In meiner Vorstellung beinhaltet der menschliche Organismus eine gewisse Altersgrenze. Sehr wahrscheinlich führt das angesprochene Trio zu einem gesünderen und qualitativ besseren Leben. Man erreicht ein hohes Alter in einem vergleichsweise gesunden und vitalen Zustand. Die Lebenserwartung wird aber sicherlich im Durchschnitt steigen, da mehr Menschen Zugang zu einer derart modernen Medizin erhalten werden.

Wie beurteilen Sie den bisherigen IT-Einsatz seit Ausbruch des Corona-Virus?

Eckstein: Leider sind einige Chancen verpasst worden, IT-Lösungen noch effektiver einzusetzen. Zu häufig waren wir vermutlich in unseren regionalen Lösungsansätzen verfangen und verhinderten etwa, europaweite Internetplattformen und Meldesysteme zu etablieren. Dies hätte zum einen zu wesentlich vollständigeren epidemiologischen Realtime-Daten geführt und zum anderen dazu beigetragen, die regionalen Ressourcenknappheiten zu kompensieren und so vielleicht mehr Menschenleben zu retten.

Yalak: Die Coronakrise hat klar aufgezeigt wie wichtig Technologie, vor allem in der Krise sein kann. Zum Beispiel wurde die Swisscovid-App für das Contact Tracing innerhalb kurzer Zeit umgesetzt. Das vergangene Jahr hat auch gezeigt, wie wichtig eine breite Digitalisierungsstrategie für das Schweizer Gesundheitssystem ist, um noch besser für die Zukunft gerüstet zu sein.

Der Virologe Marcel Salathé hat die Covid-19-Taskforce des Bundes verlassen mit den ­Worten, die Schweiz sei "in zentralen Bereichen zwei Jahrzehnte im Rückstand". Was muss jetzt passieren?

Eckstein: Man muss wissen, dass Marcel Salathé seinerseits auch zirka zehn Jahre voraus ist, womit wir arithmetisch gesehen nur zehn Jahre im Rückstand sind (lacht). Tatsächlich werden manche sinnvollen Entwicklungen wie etwa ein elek­tronisches Patientendossier oder Strukturen für einen barrierefreien Datenaustausch im gesamten Schweizer Gesundheitswesen durch die politischen und gesellschaftlichen Strukturen eher verzögert. Diese Strukturen sind jedoch von der Bevölkerung und der Politik bewusst so gewählt und haben an anderer Stelle ja auch beachtenswerte Vorteile. Nun gilt es, möglichst ohne weiteren Zeitverlust auszuweisen, worin der Mehrwert einer komplett digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen liegt und dies der Schweizer Bevölkerung auf Augenhöhe zu vermitteln. Im Erfolgsfall sollte dann eine Umgestaltung des Gesundheitswesens innerhalb weniger Jahre durchführbar sein.

Zu den Personen

Jens Eckstein
Chief Medical Information Officer und Leitender Arzt der Klinik für Innere Medizin am Universitätsspital Basel. Hat einen PhD in Physiologie der Universität Maastricht und FMH Titel für Kardiologie und Innere Medizin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt bei mobilen Sensoren und der Transformation innovativer technologischer Konzepte in die Routine des Gesundheitswesens. Er leitet am USB das Innovationsmanagement und ein zugehöriges Innovation Lab als Knotenpunkt für Menschen mit Ideen aus dem digitalen Bereich.

Garif Yalak
Head of Digital Transformation für das Bildungs- und Gesundheitswesen, Country Digital Acceleration bei Cisco Schweiz. Er hat einen B.Sc. in Bioinformatik, einen M.Sc. in Biomedizin aus Deutschland und einen Ph.D. der ETH Zürich in beiden Disziplinen. Zuvor war er mehr als 10 Jahren als Bioinformatiker und Biomediziner in der Gesundheitsforschung in Deutschland, den USA und der Schweiz tätig. Er war ebenfalls mehrere Jahre als Wissenschaftler und Dozent an der ETH Zürich und Harvard Universität tätig.

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