Anti-Counterfeiting Trade Agreement

ACTA - eine Debatte zwischen ungleichen Akteuren

Uhr | Aktualisiert
von Simon Zaugg

Die Meinung der Netzgemeinde über ACTA ist gemacht: Es ist ein Monster. Die Befürworter ihrerseits, die im Web kaum zu finden sind, halten die Empörung für masslos übertrieben. Gelingt es der Politik nicht, die Situation zu entschärfen, könnten erfolgreiche Webunternehmen den Weg weisen.

Ein tiefer Graben trennt Gegner und Befürworter des ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement): Auf der einen Seite stehen die Befürworter, die im Handelsabkommen ein nützliches Instrument zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie sowie Urheberrechtsverletzungen sehen. Auf der anderen Seite sehen die Gegner in ACTA ein regelrechtes Ungeheuer auf sie zukommen, das den Grundrechtskatalog und demokratische Prinzipien umgeht und im Internet Bedingungen schafft, die einseitig den Interessen mächtiger Unternehmen dienen.

Mittendrin stehen die Politiker. Sie sollen das Abkommen in den verschiedenen Ländern ratifizieren, sehen sich jedoch derzeit mit heftigen Protesten konfrontiert. Deshalb haben sie vorerst die Finger davon gelassen. Sie warten in Europa jetzt erst einmal ab, was der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg sagt.

Konkret prüft der EuGH, ob ACTA in der einen oder anderen Art mit den Grundrechten und Grundfreiheiten der Europäischen Union unvereinbar ist. Angesichts der anhaltenden Kritik an ACTA forderte EU-Kommissar Karel de Gucht, dass die Debatte "auf Fakten und nicht auf fehlerhaften Informationen und Gerüchten" basieren müsse.

Kaum Befürworter im Web

Besonders hervorgetan in der Bekämpfung von ACTA haben sich die Piratenparteien in mehreren Ländern, auch in der Schweiz. Michael Gregr, Präsident der Kantonalen Sektion Piratenpartei Zürich, liess im Februar anlässlich einer Anti-ACTA-Demonstration in Zürich gegenüber der Netzwoche verlauten, dass mit dem Abkommen die Rechte der Internetnutzer mit Füssen getreten und "wenn man es extrem ausdrücken möchte" sogar die Unschuldsvermutung aufgehoben würde.

Die Befürworter sind im Web dagegen kaum zu finden. Bei einer Suchanfrage "Pro Acta" auf Google (siehe Bild Seite 20) listet die Suchmaschine an erster Stelle Proacta.com, die Website einer Firma, die Krebsmedikamente herstellt. An zweiter Stelle kommt ein Gastartikel der Generalsekretärin der Internationalen Handelskammer Deutschland im deutschen "Handelsblatt". An dritter Position erscheint wiederum eine Firmenwebsite: jene von Proacta.ch, einem Schweizer Anbieter von Akten- und Archivmanagement.

Sortimentserweiterung und Expansion in neue Märkte als Ausweg

Vertreter der Rechteverwertungsindustrie wie Roger Chevallaz, Geschäftsführer von Audiovision Schweiz, denen man Pro-ACTA-Kampagnen noch am ehesten zutrauen würde, wiegeln derweil ab. Chevallaz hoffe zwar, dass ACTA von der Schweiz ratifiziert werde. Deswegen eine Kampagne lancieren würde er aber nicht. Er zeigt jedoch wenig Verständnis für die heftigen Anti-ACTA-Proteste und wittert darin eine politische Kampagne jener, die sich die Gratisnutzung von Filmen und Musik, die heute Realität sei, auf längere Zeit hinaus sichern wollen.

Betroffen von Urheberrechtsverletzungen sind indes auch Unternehmen, die die sinkenden Umsätze im CD-Verkauf direkt spüren, Peter Bühler, CEO des Onlineshops Cede.ch. 2011 musste Bühler bei den CD-Verkäufen ein Minus von rund fünf Prozent bei den Stückzahlen im Vergleich zum Vorjahr verkraften, was er mit den nur schwach steigenden Downloadzahlen laut eigener Aussage nicht kompensieren konnte. Auffangen will er den Rückgang mit der Ausweitung des Sortiments sowie der Expansion in neue Märkte.

Angst vor Shitstorm

Die Piratenparteien markieren derweil nicht nur starke Präsenz im Web, sondern definieren auch neue Regeln für den politischen Aushandlungsprozess. So bieten sie etwa ihren Mitgliedern bisher beispiellose Partizipations­möglichkeiten an, übertragen Parteiversammlungen im Internet und geben sich auch sonst besonders transparent.

In den politischen Gremien haben sie allerdings noch kaum Einfluss. So verpasste etwa die Schweizer Piratenpartei im vergangenen Herbst den Einzug ins nationale Parlament. In Deutschland war sie erfolgreicher und konnte zuletzt einige Achtungserfolge erzielen. "Der Spiegel" (Nr. 13/2012) ging unter dem Titel "Politik aus Notwehr" kürzlich der Frage nach, weshalb die Piraten im Netz so stark seien. Eine Antwort gab der CDU-Politiker Peter Altmaier. Er sagt, dass die Piraten im Netz auch deshalb so dominant seien, weil niemand ihnen die Meinungsführerschaft streitig mache.

Mit ein Grund für die Zurückhaltung bei vielen Vertretern anderer Parteien sei etwa der Kommunikationsstil: Die sogenannten Shitstorms, die etwa Marketingabteilungen Angst und Bange machen, schüchterten auch twitter-technisch "weniger versierte" Politiker zunehmend ein. Viele würden inzwischen vor Internetthemen in vorauseilendem Gehorsam die Hände lassen, weil sie in der digitalen Öffentlichkeit keine Mehrheit fänden, so "Der Spiegel".

Anonymous-Video polarisiert

Das Youtube-Video "Was ist ACTA?" der Aktivisten von Anonymous dürfte kaum dazu beitragen, dass sich ACTA-Befürworter künftig vermehrt in Debatten im Web einmischen. Am Ende des Videos spricht "Anonymous" eine Unterstellung aus, die deutlicher nicht sein könnte: "Die Verantwortlichen, die über das Handelsabkommen ACTA abstimmen, sehen die Internetnutzer häufig nur als Kriminelle. Vielleicht sollten wir über sie genauso denken."

Internetunternehmer Philippe Perreaux, CEO der Musik-Community Restorm.com, findet den Inhalt des Videos gerechtfertigt: "Es ist reisserisch und schwarz-weiss, aber die Aussagen stimmen mehrheitlich. Es ist der richtige Weg, um die Leute aufzurütteln." Es sei offensichtlich, dass Rechteinhaberkonzerne mit ACTA versuchten, etwas lobbyistisch durchzubringen, das völlig an der Bevölkerung vorbeigehe.

Transparenz-Kritik wird Traktandum in Bern

Kritiker kreiden den Verhandlungsparteien zudem an, ACTA intransparent ausgehandelt zu haben. Auf Stopp-acta.info schreibt die Schweizer Piratenpartei: "ACTA wurde hinter verschlossenen Türen ausgehandelt, unter Ausschluss der meisten Entwicklungsländer, mit geringer demokratischer Rechenschaftspflicht auf UN-, EU- oder nationaler Ebene."

Zudem habe man die auf demokratischen Prinzipien und Offenheit basierenden und über klare Verfahrensgarantien verfügenden multilateralen Foren wie die "World Intellectual Property Organization" WIPO und die Welthandelsorganisation WTO umgangen. Dieser Kritikpunkt hat mittlerweile auch die nationale Politik in der Schweiz erreicht. Nationalrat Andrea Caroni reichte Mitte März eine Anfrage ein mit dem Titel "ACTA. Warum schwächt die Schweiz die multilateralen Institutionen WIPO und WTO?"

Nicht vor Hardlinern eingeknickt

Emanuel Meyer vom Eidgenössischen Institut für geistiges Eigentum (IGE) verteidigt sowohl Inhalt wie auch das Aushandlungsverfahren: "Die vielen Kann-Formulierungen zeigen, dass wir nicht vor den Hardlinern in die Knie gegangen sind, wie uns viele vorwerfen."

Klar sei zudem, dass eine Unterzeichnung und Ratifizierung von ACTA die Schweiz zu keinen Gesetzesänderungen verpflichten würde. Das sei von Anfang an die Position der Schweiz gewesen, so Meyer. Viele sagten ihm zudem oft, es sei mehr der Geist als der Inhalt von ACTA, der sie stört. "Dann muss ich sagen: Es ist deprimierend, dass man dem Staat so wenig Glauben schenkt. Wir vertreten nicht nur die Industrie, sondern die ganze Schweiz."

Transparent, aber wenig "ernsthaft"

Er relativiert auch den Vorwurf der intransparenten Verhandlungen: "Kreative Prozesse wie Brainstormings unterstützen das Auffinden vernünftiger Lösungen. Damit das funktioniert, müssen die Teilnehmer auch Fehler machen dürfen und Vorschläge einbringen können, die sich in der folgenden Diskussion möglicherweise als ungeeignet erweisen. Der Druck, der bei öffentlichen Verhandlungen auf den Verhandelnden lastet, ist gross. Jeder Fehler droht getwittert zu werden und zu einer öffentlichen Blossstellung zu führen. Das kann in Foren wie der WIPO eine fruchtbare Diskussion verhindern."

Wenn man sich deren Protokolle anschaue, so Meyer, dann seien dort oft nur allgemeine Statements zu lesen. An den Verhandlungen werde kaum noch "Ernsthaftes" gesagt. Eine öffentliche Diskussion sei wichtig und richtig. Sie sollte aber sinnvollerweise dann stattfinden, wenn die mit der Ausarbeitung betrauten Verhandelnden einen Vorschlag erarbeitet haben, hinter dem sie stehen können. Auch auf nationaler Ebene würden Vorschläge erst verwaltungsintern bereinigt und erst dann in die öffentliche Vernehmlassung gegeben.

Urheberrecht: Wie anwenden?

Der auf Internetthemen spezialisierte Rechtsanwalt Rolf Auf der Maur von Vischer Rechtsanwälte hofft trotz des derzeitigen Aufwinds der Gegner, dass ACTA letztlich durchkomme. Gerade für ein rohstoffarmes Land wie die Schweiz sei das "geistige Eigentum" ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Prosperität.

Erfindungen müsse man auch im Zeitalter des Internets schützen können. Beim Urheberrecht stelle sich heute allerdings die Frage nach der richtigen Anwendung. "Die wichtigsten Rechte, das Vervielfältigungsrecht sowie das Verbreitungsrecht, sind heute faktisch nicht mehr durchsetzbar."

Neue Businessmodelle gefordert

Er fordert jedoch nicht wie viele Vertreter der Verwertungsindustrie in erster Linie mehr Repression, sondern propagiert neue Businessmodelle. Für ihn ist klar, dass sich "die produktorientierten Urheberrechtsindustrien zu dienstleistungsorientierten wandeln müssen."

Eine Revision des Urheberrechts hält er derzeit für wenig realistisch. Er verweist auf den Umstand, dass die vorletzte Totalrevision über 30 Jahre (von 1963 bis 1992, die Red.) gedauert habe und eine neue Revision kaum innerhalb angemessener Frist unter Dach und Fach zu bringen sei. Auch Meyer schlägt vor, erstmal abzuwarten: "Entweder käme es zu liberal oder zu konservativ heraus. Das könnte falsche Signale aussenden."

Lizenzierungsplattformen als Modell

Plattformen wie Youtube oder iTunes und nicht die Gesetzgeber in den einzelnen Ländern sind laut Perreaux die Akteure, denen er am ehesten zutraut, praxistaugliche Standards im Umgang mit dem Urheberrecht zu definieren. "Diese Unternehmen können gegenüber Politikern mit rasant steigenden Nutzerzahlen argumentieren und bestimmte Gesetzesartikel damit ad absurdum führen."

Perreaux selbst hat Ende Februar mit Rightclearing.com eine Lizenzierungsplattform für Musik lanciert, mit der er hoch hinaus will: "Wir haben eine Partnerschaft mit dem US-Lizenzdienstleister Rumblefish abgeschlossen, damit wir genügend Songs im Pool haben. Bis in wenigen Monaten sollten es mehrere 100 000 sein. Damit verdeutlichen wir unseren Anspruch, global und schnell zu wachsen", sagte er im Interview mit der Netzwoche.

Kollektivlizenzierung als Lösung

Auf der Maur plädiert derweil dafür, die Youtubes und Facebooks der Welt bezüglich der Nutzungsrechte vermehrt in die Pflicht zu nehmen: "Eine Lösung könnte sein, dass die Plattformen die Inhalte kollektiv lizenzieren. Das geschieht ja teilweise heute schon. Die Plattformbetreiber müssten allerdings verstärkt Instrumente einrichten, um die Nutzungsrechte genau abgelten zu können."

Auch die klassischen Verwertungsgesellschaften seien grundsätzlich eigentlich in einer guten Position, um solche Aufgaben weiterhin zu erfüllen. "Nur haben sie es bisher nicht geschafft, die IT-Systeme so zu entwickeln, dass sie diese Rolle übernehmen könnten", so Auf der Maur.

Suisa lässt Kritik nicht gelten

Perreaux geht mit den Verwertungsgesellschaften wie der Suisa noch etwas härter ins Gericht: Das Konzept mit den Verwertungsgesellschaften als solches sei im Grunde schon richtig. Jeder Rappen, der eingenommen werde, müsste allerdings auch wirklich bei jenem Künstler landen, der ihn verdiene. "Das ist derzeit nicht der Fall. Ein Teil davon verschwindet irgendwo im Niemandsland. Einen anderen Teil bekommen jene Top-Künstler, die sowieso schon erfolgreich sind", so Perreaux.

Diese Kritik lässt Martin Wüthrich, Pressesprecher der Schweizer Verwertungsgesellschaft Suisa, nicht gelten: "Es gibt wohl kaum eine andere Verwertungsgesellschaft, die so genau abrechnet wie die Suisa. Nur so können wir sicherstellen, dass auch kleinere Schweizer Künstler ihre Tantiemen erhalten." Er verweist auf "viele zufriedene Mitglieder". Die Situation sei nun mal so, dass nur jene Künstler Anspruch auf Tantiemen haben, deren Musik gespielt werde. Und das seien meistens die bekannteren. Er hält fest: "Wir sind keine Umverteilungsgesellschaft."

Gema vs. Youtube

Zumindest die Anwälte dürften letztlich – ob mit oder ohne ACTA – zu den Gewinnern zählen. Ihnen dürfte die Arbeit künftig kaum ausgehen, wie wiederum ein Blick nach Deutschland exemplarisch zeigt. Dort streiten sich Youtube und das deutsche Pendant zur Suisa, die Gema, seit Jahren vor Gericht.

Das Problem: Die Gema will Geld für Nutzungsrechte – aus der Sicht von Youtube zu viel. Perreaux prognostiziert, dass der Gerichtsfall noch Jahre dauern und für beide Parteien mehrere Millionen Euro Anwaltskosten produzieren werde. Über die Jahre haben sich die Kräfteverhältnisse jedoch deutlich verschoben: "Die Gema begann mit einem Zwerg zu streiten, der heute ein Gigant ist", sagt Perreaux.