"Hat eine Organisation Probleme, spiegeln sich diese im Netzwerk"
Silvia Hagen, Gründerin und Geschäftsleiterin des Beratungs- und Dienstleistungsunternehmens Sunny Connection AG, erzählt im Interview, warum sie sich für Netzwerke und IPv6 interessiert, wie sie als Frau in der IT-Welt lebt, und wie sie scheinbar unlösbare Netzwerkprobleme in den Griff bekommt.
Frau Hagen, wie lebt es sich als Frau in den IT-Branche?
Das ist recht angenehm. Die Frauentoilette an Konferenzen ist immer frei. Und ich kann mir Dinge erlauben, die sich Männer nie erlauben könnten – zum Beispiel im Sommer barfuss durch einen Schulungsraum zu laufen (lacht). Nein, im Ernst, ich verstehe nicht, warum es nicht mehr Frauen in der IT gibt. Der Umgang mit Netzwerken erfordert vernetztes Denken, was eine weibliche Charaktereigenschaft ist. Zudem braucht es dafür eine gut ausgeprägte Intuition. Also würde sich die Arbeit mit Netzwerken für Frauen eigentlich sehr gut eignen.
Dann können Sie ebenfalls vernetzt denken?
Ja, das konnte ich bereits als Kind. Ich kann komplexe Dinge gut erfassen. Ich habe ein Gefühl für die Zusammenhänge und Schnittstellen. Als mich dann ein ehemaliger Arbeitgeber auf diesem Gebiet ausgebildet hat, bin ich auf den Geschmack gekommen und habe gemerkt, dass mir das liegt.
Sie haben mehrere Bücher geschrieben, unter anderem eins über IPv6. Warum gerade IPv6?
Ich schrieb 1998 mein erstes Buch über TCP/IP. Am Schluss des Buches gibt es ein kurzes Kapitel mit einem Ausblick auf IPv6. Wie es meine Art ist, wollte ich sehen, ob nach IPv4 noch etwas Neues kommt. Zudem sagte ich mir, dass wir 30 Jahre lang IPv4 hatten und nun wahrscheinlich weitere 30 Jahre IPv6 haben werden, also ergibt es Sinn, dass ich mich damit vertieft auseinandersetze. 2001 kam dann der IT-Verlag O'Reilly auf mich zu mit der Anfrage, ein IPv6-Buch zu schreiben. Der Editor meines ersten Buches hatte mich vorgeschlagen, weil er vom ersten Buch begeistert war. Ich fühlte mich natürlich von der Anfrage dieses Starverlags gebauchpinselt, aber ich wollte eigentlich nicht nochmals ein Buch schreiben, denn das ist Knochenarbeit. Also bat ich ihn um eine Bedenkzeit. In der darauffolgenden Nacht hielt ich im Traum das fertige IPv6 Buch in den Händen und sah es farbig vor mir. Das war für mich ein Zeichen und darum sagte ich zu.
Das Buch über IPv6 wurde sogar ins Chinesische und ins Japanische übersetzt. Das ist erstaunlich bei so einer trockenen Materie.
Aus irgendeinem Grund lieben die Leute diese Bücher. Ich las weit über 1000 RFC-Dokumente und versuchte, diese auf das Essentielle herunterzubrechen. Ich habe eine Art Gabe, ich arbeite mich in eine Materie hinein, und irgendwie fliesst dann beim Schreibprozess eine Energie mit in das Buch ein. Ich merke an meinen Sätzen, ob ich es verstanden habe und ob es auch verständlich dargestellt ist. Hinzu kommt, dass das Internet meiner Meinung nach etwas mit dem Bewusstsein der Menschen zu tun hat. Wenn das Bewusstsein der Menschen einen Sprung macht, gibt es immer Durchbrüche in Technologie und Wissenschaft. Das Internet ist entstanden, weil die Zeit dafür reif war. Es gab keinen Businessplan, es entstand einfach unkoordiniert, aber einer inneren Ordnung folgend. Jetzt kommt mit der Einführung von IPv6 die zweite Generation des Internets. Solche Dinge interessieren mich eigentlich mehr als die Bits.
Sie sind nicht nur Autorin, sondern auch Unternehmerin. Welche Dienstleistungen bieten Sie an?
Ich mache Netzwerk- und Performanceanalyse für Kunden, die Probleme mit ihrem Netzwerk haben. Daneben biete ich Beratungen für IPv6 an. In letzter Zeit lebe ich wegen der grossen Nachfrage am Markt vor allem von IPv6.
Wo genau drückt denn der Schuh bei IPv6?
Wir haben die Einführung von IPv6 ganz einfach zu lange hinausgezögert. Die Einführung von IPv6 in einem komplexeren Netzwerk ist ein mehrjähriger Prozess, der sorgfältig geplant werden will und schrittweise durchgeführt werden muss. Es gibt auch keine Betty-Bossi-Rezepte, wie man es am besten anpackt, da es von sehr vielen firmenspezifischen Faktoren abhängt. Auch heute wird das Thema noch stark vernachlässigt. Daher engagiere ich mich als Präsidentin des Swiss IPv6 Council dafür, die Schweizer Wirtschaft zu sensibilisieren und die Einführung von IPv6 auf nationaler Ebene zu unterstützen und zu fördern.
Wie kam es, dass Sie ein Unternehmen gegründet haben?
Es gibt einen Satz, den ich im Geschäftsleben immer wieder von meinen Vorgesetzten gehört habe: «Wenn wir deine Ideen umsetzen würden, wären wir schon lange Konkurs gegangen.» Das habe ich mir ein paar Mal sagen lassen, obwohl ich eigentlich davon überzeugt war, dass meine Ideen super sind. Als ich 30 war und den Satz wieder einmal hörte, hat es mir gereicht und ich wollte diese Aussage überprüfen. Es gab nur einen Weg, dies zu tun. Ich gründete eine Firma und leitete sie so, wie ich mir das vorstellte. Inzwischen sind 15 Jahre vergangen und meine Firma existiert immer noch und ist erfolgreich.
Ist diese Reaktion typisch für Sie?
Ja, das ist so ein bisschen meine Lebensphilosophie: Ich probiere alles aus. Ich glaube grundsätzlich niemandem, weder einer Religion noch einer Partei noch einer Managementschule. Wenn ich etwas höre, das interessant klingt und Sinn ergibt, probiere ich auch aus, ob es funktioniert.
Eine Unternehmensgründung ist ja meist nicht ganz einfach. Wie haben Sie das erlebt?
Es war ein Megastress. Ich hatte damals eine kleine Tochter und war alleinerziehend. Um beides parallel im Griff zu haben, ging ich jahrelang über meine physischen Grenzen hinaus. Weil ich einen starken Willen habe, ging es, aber mein Körper hat gelitten. Das spüre ich noch heute.
Und trotzdem ging es irgendwie.
Wenn du total von etwas überzeugt bist, dann steckst du auch deine Kräfte rein und ziehst alles an, das deine Idee unterstützt. Ich lebe mein Leben als ein Experiment, ich habe das immer wieder ausprobiert und bin immer wieder eine Stufe weiter gegangen. Wenn jemand kommt und sagt, etwas könne so nicht funktionieren oder sei nicht möglich, fängt es mich erst recht an zu interessieren und ich frage «Warum nicht? Lass mich das mal ausprobieren.» So wurden schon die unglaublichsten Dinge möglich in meinem Leben.
Lassen Sie sich überhaupt von etwas abhalten?
Mein Lebensmotto ist, dass Grenzen dazu da sind, um überwunden zu werden. Deswegen reize ich diese auch immer wieder aus. Aber das tue ich nur, wenn sich das Ziel richtig anfühlt, nicht einfach nur aus Prinzip. Wenn ich etwas mit Leidenschaft tue, wie zum Beispiel mich für IPv6 zu engagieren, kommt es vor, dass ich Vorträge dazu halte. Dann habe ich das Gefühl, als ob mir jemand einen Starkstromstecker in den Rücken gesteckt hätte, sobald ich vorne stehe. Es fliesst eine unglaubliche Energie durch mich. Es macht mir Freude, zu sehen, dass ich die Leute anstecken kann und sie beschwingt und inspiriert den Raum verlassen. Das funktioniert sogar, wenn ich Migräne habe. Ich schleppe mich vors Mikrofon, dann sprüht es in den Minuten, in denen ich vorne stehe, die Menschen gehen mit Sternchen in den Augen nach Hause und ich muss wieder zurück ins Bett.
Gibt es auch Dinge, die Sie frustrieren?
Ja, wenn ich es nicht schaffe, Menschen, die eine Situation ändern wollen, aber in einem alten Standpunkt gefangen sind, für eine neue Perspektive zu öffnen. Es frustriert mich total, wenn ich nichts bewegen kann. Eigentlich hätte ich Change Management studieren sollen (lacht).
Was sonst ist noch typisch für Sie?
Ich bin kein Mensch, der von Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr arbeiten kann. Ich muss mich selbst einbringen und engagiert arbeiten können. Denn der Job ist ein Teil meines Lebens. Das hat mir mein Vater schon früh beigebracht. Er hat mich gelehrt, meine eigenen Wertmassstäbe zu setzen, mich unabhängig zu machen vom Urteil anderer Menschen und nicht einfach die Befehle oder Ideen anderer Personen auszuführen, wenn ich deren Sinn nicht einsehe. Er hat mich zu einem selbstständig denkenden Menschen erzogen, vor allem, damit ich meine Position auch als Frau beziehe.
Man sagt Ihnen nach, dass Sie Netzwerkprobleme lösen können, die sonst niemand lösen kann. Wie gehen Sie vor, wenn ein Kunde Ihre Hilfe benötigt?
Ich setze mich mit den Verantwortlichen an einen Tisch. Dann erzählen sie mir, wo das Problem liegt und was sie in diesem Zusammenhang beobachtet haben. Während ich zuhöre, entsteht durch mein vernetztes Denken in meinem Kopf ein Bild der Situation und ich weiss intuitiv, was zu tun ist. Wenn ich mich mit einem Netzwerk beschäftige oder vor einem Problem stehe, springen mich manchmal einfach Dinge an. Das lässt sich nicht logisch erklären. Und die Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich meistens zum Ziel komme, wenn ich diesen Impulsen folge.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
In einem besonders kritischen Fall sass ich mit 40 Personen in einem Raum und sie erzählten mir von ihren Beobachtungen. Ich wusste auf einmal intuitiv, dass dem Problem mehr als ein Fehler zugrunde liegt. Ich wusste auch, dass mir das Know-how der anwesenden Mitarbeiter nicht ausreichen würde, um diese Fehler zu finden. Da stellte sich die Frage, wen ich beiziehen sollte, da ich ja noch nicht wusste, wo das Problem liegt. Also ging ich in meinem Kopf mein ganzes soziales Netzwerk durch. Bei einem bestimmten Namen hat mein Energiepegel wiederholt ausgeschlagen. Es handelte sich um einen Linux-Spezialisten aus England, den ich einmal bei einer Präsentation getroffen hatte. Er ist mir dort aufgefallen, weil jeder seiner Sätze sass und ich spürte, dass er weiss, wovon er spricht – eine Eigenschaft, die in der IT-Branche leider nicht sehr verbreitet ist. Also rief ich ihn an und fragte ihn, ob er in die Schweiz kommen könne. Und er, der sonst immer hoffnungslos ausgebucht ist, hatte Zeit. Er war es dann auch, der am dritten Tag die Lösung fand.
Gibt es auch Probleme, die Sie nicht lösen können?
Nein, bisher konnte ich alles lösen. Man kann jedes Problem lösen, wenn man daran glaubt, es lösen will und mit genügend Zeit und Sorgfalt drangeht. Eine Einschränkung gibt es zwar.
Und die wäre?
Ein Netzwerk ist sozusagen das Nervensystem der Organisation. Hat eine Organisation Probleme, spiegeln sich diese im Netzwerk. Man kann zwar mit technischen Massnahmen kurzfristig im Netzwerk etwas verbessern, aber solange die grundlegenden organisatorischen und zwischenmenschlichen Probleme nicht gelöst sind, wird das Netzwerk immer wieder in seine alten Probleme zurückfallen. Wenn die Verantwortlichen in einem Unternehmen nicht bereit sind, etwas daran zu ändern, kann man somit auch die Probleme nicht nachhaltig beheben, da sie nur Symptome sind. Das ist wie in der Medizin, wenn man mit harten Mitteln Symptome bekämpft oder unterdrückt, aber die Ursache nicht sucht und behebt. So kommen die Symptome in vielen Fällen wieder zurück, manchmal in veränderter Form.
Das klingt mehr nach Psychologie als nach IT.
Ja, Psychologie und Organisationsentwicklung. Ich mache eigentlich ganzheitliche IT. Man kann die IT und das Netzwerk nicht fragmentieren und das Netzwerk nicht unabhängig von der Organisation betrachten. Wenn wir nur einzelne Bereiche isoliert untersuchen, entgehen uns die wichtigen Dinge. Leider sind noch nicht viele Firmen bereit, einen solchen ganzheitlichen Ansatz zu fahren. Daher muss ich einfach die Kunden finden, die für meinen Ansatz bereit sind. Am liebsten würde ich einen Kunden finden, der bereit ist, mit mir daraus ein Experiment zu machen und auszureizen, was alles möglich ist, wenn man die Netzwerkprobleme aus der Organisationsperspektive angeht.
Haben Sie Pläne für die Zukunft?
Ja, das obige Experiment (lacht). Ich würde gerne einmal ein anderes Buch schreiben. Ich möchte mehr Zeit dafür haben und nicht immer unter Hochdruck schreiben müssen. Ein Buch zu schreiben, ist ein hochkreativer Prozess, und ich meine, dass da noch einiges an Potenzial in mir schlummert, mit Themen weit über die IT hinaus. Spannende und verfolgenswerte Themen gibt es viele, aber dafür benötige ich einen Rahmen, in dem ich mir Ruhe geben und aus der Routine und der linearen Männerwelt ausbrechen kann. Aber wann das sein wird, weiss ich noch nicht. Vielleicht in zwei, drei Jahren.
Noch eine letzte Frage: Wie geht es eigentlich Ihrem eigenen Netzwerk?
Mein Netzwerk ist total langsam. Es kommt eindeutig zu kurz (lacht).