Alle Unternehmen betroffen

Die vierte industrielle Revolution klopft an die Tür

Uhr | Aktualisiert
von Christoph Grau

Unternehmen haben das Web 2.0 gerade verdaut, da rollt schon die nächste Welle mit Industrie 4.0 heran. Aber hat dieses Konzept überhaupt konkrete Ansatzpunkte für die Schweizer Industrie?

Ist Industrie 4.0 nicht nur wieder so ein Modebegriff? Durch Schlagwörter wie: die vierte industrielle Revolution, Smart Factory, M2M-Kommunikation und auch dem Internet der Dinge ist die Industrie 4.0 momentan allgegenwärtig. Die Definitionen sind dabei sehr unterschiedlich, und es ist nicht einfach, den Überblick zu behalten. Dies hob auch Robert Rudolph, Bereichsleiter Bildung und Innovationen bei Swissmem, hervor. Aktuell habe die Anbieterseite in der Schweiz die Deutungshoheit über den Begriff. Diese versuchen unter dem gut klingenden Schlagwort, ihre Software, Steuerungselektronik und Sensoren an den Mann oder an die Frau zu bringen. Daher haftet dem Konzept ein gewisser Marketing-Touch an.

Es stellt sich daher die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, sich mit diesem Konzept auseinanderzusetzen. Rudolph beantwortet diese Frage mit einem klaren "Ja". Für Swissmem nimmt Industrie 4.0 eine zentrale Rolle für die Zukunftsfähigkeit der Schweizer Industrie ein. Daher rührt der Verband auch schon seit längerem dafür die Werbetrommel. Der Start von Industrie 4.0 war laut Rudolph in der Schweiz noch recht verhalten, aber auch durch das Engagement der Verbände ist das Interesse in letzter Zeit stark gestiegen, was Rudolph begrüsst.

Keine wirklich neuen Technologien

Am Anfang der bisherigen industriellen Revolutionen stand immer eine bahnbrechend neue Technologie (siehe Infobox Seite 17). Das Besondere an der nächsten Revolution werde jedoch sein, dass alle entscheidenden Technologien schon lange bekannt und erprobt seien, sagt Ralf Schulze, Industry Strategy Manufacturing bei CSC. Beispielsweise gibt es das kommerzielle Internet schon seit über 20 Jahren, Sensoren finden in der Industrie schon seit über 40 Jahren Anwendung, der 3-D-Druck wird schon lange in der Industrie verwendet. Die elektronische Datenverarbeitung bildete sogar den Grundstock der dritten industriellen Revolution.

Was ist also das Spezielle an dieser Entwicklung, und warum wird der Begriff "Revolution" verwendet? Neu ist, dass alle genannten Technologien nun leicht verfügbar sind. Sensoren kosten heute teilweise nur noch wenige Franken. Ebenso werden Rechenleistung und Speicherplatz immer günstiger. Sogar die Skalierbarkeit dieser Ressourcen wird durch "As-a-Service-Dienste" und Cloud ­Computing gewährleistet. Bahnbrechend ist, dass diese Faktoren zusammenkommen und sogenannte "cyberphysische Systeme" (siehe Infobox) ermöglichen. Laut Schulze ist das Wort Revolution auch richtig, da es zu einer Umgestaltung in der Industrielandschaft kommen wird. Nach jeder der bisherigen Revolutionen waren andere Player an der Spitze als zuvor. Sollten sich Firmen also nicht den Erfordernissen anpassen, stehe ihnen ihr Ende bevor, so Schulze weiter.

Wirklich neu sind viele der unter Industrie 4.0 propagierten Konzepte auch nicht. Teilweise arbeiten Schweizer Unternehmen schon seit vielen Jahren mit Ansätzen, die heute Industrie 4.0 genannt werden, ohne dass sie den Begriff zuvor überhaut gekannt hätten. Dies entspricht auch Rudolphs Erfahrung. Der Begriff selbst bietet keinen Nutzen, der Mehrwert liegt vielmehr darin, dass die aktuellen Entwicklungen in der Industrie- und ICT-Welt mit ihm veranschaulicht werden können.

Produzenten als Dienstleister

Industrie 4.0 bietet Ansatzpunkte für neue Geschäftsmodelle auch in etablierten Industrien. Laut Schulze macht dies gerade die Sprengkraft der nächsten industriellen Revolution aus. Thomas Ohnemus, VP IoT Extended Supply Chain bei SAP, veranschaulichte dies auf einem SAP-Partnerevent zur Industrie 4.0 anhand des Unternehmens Heidelberger Druckmaschinen. Laut Ohnemus ist die Firma durch die neuen technischen Möglichkeiten dazu übergegangen, nicht mehr Maschinen, sondern "bedrucktes Papier" zu verkaufen. Dies war durch die Vielzahl von Sensoren in den Druckmaschinen möglich, welche die Basis des neuen Geschäftsmodells bildeten. Heidelberger Druckmaschinen führte die Sensorendaten zusammen, um den Service für die Druckmaschinen in die eigene Hand zu nehmen. Dafür werden die Daten in Echtzeit übermittelt, damit das Unternehmen aktuelle und sich anbahnene Störungen erkennen kann. Mit diesem neuen Ansatz weitet es die Wertschöpfung deutlich aus.

Vom smarten Kaffeeautomaten bis zum smarten Klo

Neue Geschäftsmodelle gibt es aber nicht nur bei Grossmaschinen. Auf dem SAP-Partnerevent präsentierte André Guillebeau von Swisscom eine intelligente Kaffeemaschine. Auch hier erkennen Sensoren Fehler und Störungen. Der Support wird automatisch informiert und erhält einen detaillierten 3-D-Fehlerbericht, wodurch er die richtigen Ersatzteile gleich mitnehmen kann. Bei Bedarf soll es sogar möglich sein, fehlerhafte Teile mittels 3-D-Druck vor Ort zu fertigen.

Auch Unternehmen aus dem Dienstleistungsbereich können von Industrie 4.0 profitieren. Beispielsweise entwickelte der österreichische Hygiene-Dienstleister Hag­leitner eine "digitale Toilette". Das Unternehmen stattete Seifenspender, Lufterfrischer und Papierspender mit ­Sensoren aus. Damit kann es den Verbrauch in Echtzeit überwachen und die Wiederbefüllung planen. Auch ist es möglich, schnell auf plötzlich auftretende Verbrauchs­spitzen zu reagieren.

Einen ähnlichen Ansatz erarbeitete Swisscom in der Schweiz mit der Brauerei Feldschlösschen. Hier wurden Bier-Zapfanlagen mit Sensoren ver­sehen, um den Wiederbefüllungsservice zu verbessern.

Verschwimmen der Geschäftsgrenzen

In der Industrie 4.0 verschwimmen die zwischen Industrie, Dienstleistern und dem Kunden zunehmend. Der Konsument verlangt nicht mehr vorrangig nach einem Produkt, sondern fordert die Lösung eines Problems. Schulze bezeichnete dies als Trend zum "Everything as a Service" und zur „Individualisierung“.

Deutlich wird dieser Ansatz auch am Konzept der Mobility-Autos in der Schweiz. Der Kunde sucht hiermit nach einer Lösung für sein Mobilitätsproblem, beispielsweise für den Transport von Gegenständen. Die Lösungen wird ihm durch eine Online-Plattform bereitgestellt, welche physisch existente Auto vermittelt. Die auf der Webseite verzeichneten Autos sind dabei mit Sensoren zu Ortung ausgestattet und die Freischaltung erfolgt ebenfalls über einen solchen. Die Abrechnung erfolgt automatisch. Dies ist ein Beispiel wie ein völlig neues Geschäftsmodell entwickelt wird.

Nutzer, die auf diesen Ansatz vertrauen brauchen, eigentlich kein neues Auto mehr. Damit fällt für den Kunden kein neue Auto in Betracht, dem Hersteller geht ein Geschäft verloren. Ein neues Geschäftsmodell ist geboren, welches sich grundlegend von klassischen Verleihdiensten unterscheidet. Die neusten technischen Entwicklungen haben es erst ermöglich und somit ist es ein Teil der Industrie 4.0.

Neue Art der industriellen Produktion

Die Industrie 4.0 geht weg von der Massenproduktion einförmiger Produkte. Ein hohes Mass an Individualisierung ist das Ziel, um den Ansprüchen der Kunden zu entsprechen. Um ein Produkt gegenüber der Konkurrenz abzuheben, ist es immer wichtiger diese den Wünschen des Kunden anzupassen. Bisher war dies oft nur in kostspieligen Kleinstreihen möglich. Wie es geht zeigen schon heute einige Automobilhersteller. Online können Kunden ihr Auto schon individuell anpassen. Angefangen bei der Ausstattung, über die Polsterfarbe bis hin zu besonderen Features. Laut Aschwanden müssten für ein völlig neues Geschäftsmodell in der Industrie 4.0 auch andere Hersteller reagieren.

Diese Massenpersonalisierung stellt die traditionellen Fertigungsstrassen in Frage. Die Antwort hierfür sieht Aschwanden im Ansatz einer „Intergrated Factory“, welche erstmals auf der Hannovermesse vorgestellt wurde. Dieses Modell ermöglicht die Fertigung von individuell konfigurierten Modellen. Jedes Bauteil werde automatisch erkannt und entsprechend der Kundenwünsche verbaut. Auch könnten solche Fertigungsstrassen schnell und flexibel auf Änderungen reagieren.

Industrieunternehmen werden zu Softwareherstellern

Auch mittels Software können Unternehmen die Wertschöpfungskette noch weiter ausreizen, ist Schulze überzeugt. Beispielsweise bei Smartphones optimieren Apps und Softwareapplikationen die Geräte schon seit jeher. Dieser Ansatz ist auch auf Autos, Velos oder sogar Mikrowellengeräte übertragbar. Alteingesessene Industrieunternehmen setzen immer stärker auf Software, um ihre Produkte wettbewerbsfähig zu machen. Das Paradebeispiel hierfür sind die Autohersteller. Gerade deutsche Produzenten wie VW und BMW sind hier an vorderster Front. Auf der kürzlich zu Ende gegangenen International Consumer Electronics Show in Las Vegas präsentierten sie Prototypen, die auch mittels Software ein völlig neues Produktgefühl vermitteln.

Dabei bietet Software den Vorteil, dass der Kunde noch viel länger an das Produkt gebunden werden kann. Man denke an Updates, die den Energieverbrauch reduzieren, neue Funktionen freischalten oder auch Daten für die individuelle Optimierung von Prozessen bereitstellen. Ebenso können mittels Applikationen Geräte speziell auf den Nutzer zugeschnitten werden. Somit hört für Unternehmen die Wertschöpfungskette nicht schon beim Verlassen der Werkhallen auf, sondern umfasst den gesamten Lebenszyklus.

Jetzt werden die Weichen gestellt

Das Konzept Industrie 4.0 hat auch für den Schweizer Industriestandort eine sehr grosse Bedeutung, ist Rudolph überzeugt. Laut Achim Ittner, Business Development SAP Schweiz, "werden sich die Geschäftsmodelle komplett ändern". Gewinner der neuen Industrie werden Firmen sein, die sich mit ihren Geschäftsprozessen den neuen Anforderungen angepasst haben. Denn der Wettbewerb werde nicht allein über die Technologie gewonnen.

Daher ist es auch für KMUs eine Überlebensfrage, sich mit den hinter dem Begriff verborgenen Konzepten auseinanderzusetzen, ist Rudolph überzeugt. Industrie 4.0 sei eine strategische Frage, die für die Zukunft der Schweizer Industrie mitentscheidend sei. Um nicht den Anschluss zu verlieren, müssen die Weichen bald gestellt werden.

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