Ursula Meidert im Interview

So untergräbt die Helsana mit ihrer App das Solidaritätsprinzip

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Wearables haben den Trend zur Selbstvermessung angeheizt. Eine Studie unter der Leitung des ZHAW-Instituts für Ergotherapie untersuchte Chancen und Risiken der Quantified-Self-Bewegung. Projekt-Co-Leiterin und ZHAW-Dozentin Ursula Meidert erklärt, wo sich Potenziale auftun und was sie kritisch sieht.

Ursula Meidert, Soziologin 
und Dozentin, ZHAW (Source: Beka Bitterli)
Ursula Meidert, Soziologin 
und Dozentin, ZHAW (Source: Beka Bitterli)

Sie haben eine breit angelegte Studie zu Wearables und Gesundheits-Apps durchgeführt. Welche Befunde haben Sie überrascht?

Ursula Meidert: Dass es so schlecht um den Datenschutz bestellt ist und dass das Gesundheitswesen nicht oder nur wenig vorbereitet ist auf Personen, die Apps und Wearables für ihre Gesundheit nutzen wollen.

 

Welche wirtschaftlichen Chancen tun sich mit der Quantified-Self-Bewegung auf?

Ich sehe vor allem Chancen für Gesundheitsdienstleistungen, die sehr niederschwellig angeboten werden können, unabhängig von Ort und Zeit. Die Schweiz wäre aufgrund der hier vorhandenen hohen Kompetenzen auf den Gebieten der Pharmazie, der Medizintechnologie und der Technik sowie mit den Hochschulen eigentlich sehr gut positioniert für Innovation in diesem Bereich.

 

Was sind die grössten Risiken?

Für Individuen liegt das Problem vor allem beim Datenschutz, der sehr oft nicht eingehalten wird. Es ist derzeit sehr profitabel, mit solchen Daten aus Apps und Trackern zu handeln. Werden Daten aus verschiedenen Quellen zusammengeführt, so ist die Gefahr gross, dass Personen identifiziert werden können. Solche Daten sind sehr privat und sollten gut geschützt werden. Zudem können Menschen aufgrund ihrer Daten diskriminiert werden, etwa wenn diese in die Hände von Arbeitgebern oder Versicherungen fallen.

 

Wie sieht es auf gesellschaftlicher Ebene aus?

Für die Gesellschaft als Ganzes besteht das Risiko der De-Solidarisierung. Diese Tendenzen sind bereits zu verzeichnen, beispielsweise mit dem Vorstoss von Ruth Humbel. Sie fordert, dass sportliche Personen bei den Krankenkassen Vergünstigungen bekommen. Ein weiteres Beispiel ist die neue Helsana-App, die Menschen mit einem sportlichen Lebensstil einen Preisnachlass auf die Grundversicherung verspricht. Dies ist insofern problematisch, als es Personen gibt, die Geburtsgebrechen haben und keine 10'000 Schritte pro Tag machen können. Auch werden nicht alle Sportarten gleich berücksichtigt, denn es lassen sich längst nicht alle Aktivitäten gleich gut mit Trackern messen. Zudem täuscht es darüber hinweg, dass auch sportliche Personen schwerwiegende Krankheiten erleiden können, denn ein gesunder Lebensstil ist eben nur ein Faktor unter vielen, der darüber bestimmt, ob jemand erkrankt oder nicht.

 

Wo stehen wir heute, was den medizinischen Einsatz von Fitnesstrackern im Schweizer Gesundheitswesen betrifft?

Fitnesstracker und Gesundheits-Apps werden in der Medizin erst vereinzelt eingesetzt. Wir haben insgesamt eine zurückhaltende Einstellung bei Gesundheitsfachpersonen wahrgenommen. Sie haben Vorbehalte in Bezug auf die Messgenauigkeit der Tools. Auch ist der Aufwand sehr gross, sich einen Überblick über den App-Markt zu verschaffen. Dafür fehlt Gesundheitsfachpersonen oftmals die Zeit.

 

Wie sieht es bei den Nutzern aus? Wie verbreitet sind Wearables und Gesundheits-Apps in der Schweiz?

Apps, Tracker und Smartwatches sind hierzulande weit verbreitet. Es ist tatsächlich so, dass viele Schweizer ihre Aktivitäten mit solchen Apps und Trackern selbst messen. Der Hype scheint zwar abzuflauen, aber die Verbreitung solcher Messgeräte und -programme ist nach wie vor hoch.

 

Wearables und Datenschutz waren der Schwerpunkt der Netzwoche 18/2018. Alle Inhalte aus dem Heft finden Sie hier.

 

Kritiker monieren, dass sich Krankenkassen in puncto Quantified Self nur für Nutzerdaten interessieren würden. Was wäre daran auszusetzen?

Die obligatorische Krankenversicherung in der Schweiz beruht auf dem Prinzip der Solidarität. Dieses würde ­untergraben werden, wenn Personen, die an die 10 000 Schritte pro Tag machen, tiefere Prämien zahlen müssten. Menschen, die nicht mitmachen wollen oder können, weil sie beispielsweise mit einem deformierten Fuss geboren wurden, werden benachteiligt. Es kommt also zur Diskriminierung. Die Krankenversicherung Helsana brachte eine App auf den Markt, die genau dies tut. Damit hat Helsana eine neue Faktenlage geschaffen, ohne dass in der Bevölkerung darüber diskutiert werden konnte, ob das Prinzip der Solidarität hochgehalten oder abgeschafft werden soll. Ausserdem ist Gesundheit immer auch eine Frage des Lebensstils.

 

Der eidgenössische Datenschützer verklagte die Helsana, weil das Bonusprogramm gegen das Datenschutzgesetz verstosse. Wie könnte sich dieser Fall auf die Quantified-Self-Bewegung hierzulande auswirken?

Wir haben mit Personen gesprochen, die sich selbst vermessen – also zu dieser Bewegung gehören. Die haben uns gesagt, dass sie in dem Moment aufhören würden, wenn es von ihnen verlangt würde, sich selbst zu vermessen. Solche Aktionen können sich für die Krankenkassen also durchaus auch kontraproduktiv auswirken. In unserer Studie haben wir grundsätzlich unterschieden, ob sich Personen aus freiem Willen messen, oder ob sie dazu gezwungen werden. Im ersten Fall sprechen wir von Quantified Self, in letzterem von Quantify the other.

 

Wie geht es in der Diskussion weiter?

Man kann grundsätzlich darüber diskutieren, ob wir das Solidaritätsprinzip in unserer Gesellschaft verankern oder abschaffen wollen. Wichtig erscheint uns, dass solche Entscheidungen zur Debatte stehen, sodass sie bewusst gefällt werden. Was jedoch bestimmte Krankenkassen derzeit tun, ist problematisch. Die Helsana untergräbt mit ihrer App das Solidaritätsprinzip. Es sollte uns allen bewusst sein, dass sie mit solchen Massnahmen Menschen diskriminiert.

 

Forscher setzen sich für die Einführung von Qualitätslabels für Gesundheits-Apps ein. Wie könnten solche Standards aussehen?

Es braucht Richtlinien, die sicherstellen, dass die geltenden Datenschutzgesetze eingehalten werden. Dann brauchen wir auch Standards für mehr Transparenz, was die Validität und Reliabilität der erhobenen Daten angeht. Ausserdem sollte stets genau dokumentiert werden, nach welchen Gesichtspunkten solche Apps Empfehlungen abgeben. Wenn es um solche Richtlinien geht, liegt der Ball zurzeit bei den Herstellern von Gesundheits-Apps und Trackern.

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