Kolumne von André Golliez

Das grosse Experiment mit der Proximity-Tracing-App

Uhr | Aktualisiert

Der Kampf gegen die Pandemie ist ein globales, unfreiwilliges und leider nicht abgeschlossenes Experiment. Der Erfolg dieses Experiments hängt von den technischen Faktoren wie auch vom Verhalten der breiten Bevölkerung ab.

In einer Endlosschlaufe repetieren wir folgende Schritte auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene: Daten über die Pandemie erheben und sammeln – Daten auswerten und analysieren – Zielwerte für die Eindämmung der Pandemie definieren – Massnahmen zu deren Erreichung abwägen und beschliessen – Massnahmen anordnen und durchsetzen – weitere Daten erheben und sammeln – Zielerreichung überprüfen – Massnahmen anpassen usw.

In diesem datenbasierten "kybernetischen" Kreislauf spielt das Verhalten der einzelnen Personen die entscheidende Rolle. Zentral ist die Frage, wie dieses Verhalten so beeinflusst werden kann, dass sich der gesundheitliche und wirtschaftliche Schaden der Pandemie für die ganze Gesellschaft in Grenzen hält. Ziele und Massnahmen sind hier allerdings nicht nur auf den reinen Erkenntnisgewinn ausgerichtet, sondern divergierenden politischen und wirtschaftlichen Interessen unterworfen. Daher muss in einer rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft über diese Ziele und Massnahmen öffentlich diskutiert, gestritten und letztlich durch die Voten der politischen Gremien demokratisch entschieden werden. Und dabei ist von allen beteiligten Akteuren in Rechnung zu stellen, dass diese Entscheidungen stets auf dem aktuellen Stand des Wissens respektive Nichtwissens basieren. Es ist die Aufgabe der Wissenschaften, das Wissen über die Pandemie stetig zu vergrössern und der Politik bessere Grundlagen für ihre Entscheidungen zu liefern.

Die Epidemiologen haben mit empirisch abgesicherten mathematischen Modellen nachgewiesen, dass die Ausbreitung von Sars-CoV-2 mit der Strategie "Test – Trace – Isolate" am effektivsten bekämpft werden kann. Es ist auch unbestritten, dass eine Proximity-Tracing-App die Rückverfolgung der Ansteckungsketten wesentlich vereinfacht. Bei einem erneuten Anstieg der Infektionen ist die Nutzung der App möglicherweise die einzige Alternative zu einem erneuten totalen Lockdown. Ob die App die hohen Erwartungen erfüllen kann, ist allerdings ungewiss und kann sich erst im praktischen Einsatz weisen. Sie ist somit das grosse digitale Experiment innerhalb des globalen Covid-19-Experiments.

Der Erfolg dieses Experiments hängt von den technischen Faktoren wie auch vom Verhalten der breiten Bevölkerung ab. Wie viele Personen sind freiwillig dazu bereit und in der Lage, die App auf ihrem Handy zu installieren, die benötigten Bluetooth-Funktionen zu aktivieren, das Handy stets bei sich zu tragen, bei einer Alarmierung die Hotline anzurufen und sich an deren Anweisungen zu halten, sich also unverzüglich in Quarantäne zu begeben und sich testen zu lassen? Zudem ist entscheidend, ob positiv getestete Personen dazu bereit sind, den Alarm an alle digital aufgezeichneten Kontakte der vergangenen Tage weiterzuleiten. Der erfolgreiche Einsatz der App ist von der Solidarität jedes Einzelnen abhängig. Die App bietet weder einen Schutz gegen das Virus noch einen persönlichen Vorteil. Da es noch keine prophylaktischen Therapien gegen Covid-19 gibt, ist auch eine Ansteckungswarnung für eine alarmierte Person eigentlich wertlos. Falls zudem eine Lohnfortzahlung während der freiwilligen Quarantäne nicht garantiert ist, wie im aktuellen Entwurf des Bundesrats zur dringlichen Anpassung des Epidemiegesetzes vorgesehen, ist der Erfolg dieses Experiments mehr als fraglich. Der Bundesrat und das Parlament haben es aber in der Hand, mit flankierenden Massnahmen die Erfolgschancen der App signifikant zu erhöhen. Ein erneuter totaler Lockdown ist sicher wesentlich teurer.

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