Matthias Stürmer im Gespräch

Das Beschaffungsrecht wird nachhaltig

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Im neuen Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen ist der Aspekt der Nachhaltigkeit explizit verankert. Was eine nachhaltige IT-Beschaffung konkret bedeutet und warum die Revision des Beschaffungsrechts einen Paradigmenwechel markiert, erklärt Matthias Stürmer, Leiter der Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit am Institut für Informatik der Universität Bern.

Matthias Stürmer nimmt Stellung zur Revision des Beschaffungsrechts. (Source: RROMIR IMAMI (WWW.RRIM.INFO))
Matthias Stürmer nimmt Stellung zur Revision des Beschaffungsrechts. (Source: RROMIR IMAMI (WWW.RRIM.INFO))

Digitale Nachhaltigkeit ist einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Was reizt Sie an diesem Thema?

Matthias Stürmer: Digitalisierung ist omnipräsent. Alle wollen vorwärtsmachen und möglichst viel digital abwickeln, in der Wirtschaft, in der digitalen Verwaltung, in der Bildung und im Gesundheitswesen. Allerdings interessieren sich nur wenige für die kritischen Fragen: Wo sind meine Daten genau gespeichert? Wer hat Zugriff darauf? Wer kontrolliert die Informationen und die Softwareentwicklung? Wie können wir auch langfristig auf unser digitales Wissen zugreifen? Diese Herausforderungen reizen mich. Auf diese Probleme möchte ich hinweisen und Lösungen dafür entwickeln.

Was kann man sich konkret unter digitaler Nachhaltigkeit vorstellen?

Mit dem Konzept der digitalen Nachhaltigkeit wollen wir auf die langfristigen Auswirkungen der Digitalisierung hinweisen, also wer die Macht und Kontrolle über Daten und Software hat. Sind es private Firmen, die auf Gewinnmaximierung aus sind? Digitale Nachhaltigkeit beschreibt die Eigenschaften von digitalen Wissensgütern und ihren Umsystemen, damit diese einen möglichst hohen Nutzen für die Gesellschaft schaffen. Nehmen wir zum Beispiel Wikipedia: Das ist eine weltweite, komplett werbefreie Wissensplattform, bei der alle mitwirken können. Alle Inhalte sind dank der offenen Lizenzen frei zugänglich und dürfen auch kommerziell genutzt werden. Dasselbe gilt für Openstreetmap, ein freies Kartografie-Portal, oder Linux, das weit verbreitete Betriebssystem. Solche Crowd-Sourced-Digital-Initiativen stellen einen hohen gesellschaftlichen Nutzen dar und ermöglichen gleichzeitig Innovationen aus der Privatwirtschaft. Darum gilt es, solche digital nachhaltigen Systeme zu nutzen und zu fördern, insbesondere wenn öffentliche Gelder im Spiel sind.

Anfang 2021 tritt das revidierte Beschaffungsrecht in Kraft, wobei Nachhaltigkeit neu als Kriterium gilt. Wie lässt sich überprüfen, inwiefern eine geplante IT-Beschaffung nachhaltig ist oder nicht?

Eine nachhaltige Beschaffung muss sowohl ökologische als auch soziale Bewertungskriterien enthalten. Somit gilt beispielsweise eine Smartphone-Ausschreibung als nachhaltig, wenn diejenigen Angebote mehr Punkte erhalten, die modulare, langwertige Geräte beinhalten, die aus Rohstoffen (seltenen Erden) bestehen, die aus konfliktfreien Regionen ohne Kinderarbeit stammen. Dazu gibt es verschiedene Labels und Zertifizierungen und auch Organisationen wie Electronics Watch, welche die Nachhaltigkeit von Produkten beurteilen. Noch sind leider nicht in jeder Hardware-Beschaffung Nachhaltigkeitskriterien enthalten, aber durch unseren Datenauswertungen beobachten wir eine stetige Zunahme.

Wird der Vergabeprozess durch das Kriterium der Nachhaltigkeit nicht komplizierter?

Klar, das Leben wäre generell einfacher, wenn man sich nicht um Stromverbrauch oder Elektroschrott sorgen müsste. Aber das sind nun halt ernsthafte Probleme, die durch die Digitalisierung verursacht werden. Deshalb nützt es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir haben eine Verantwortung für die elektronischen Geräte, die wir mit öffentlichen Geldern kaufen. Diese verursachen sowohl bei der Herstellung als auch bei der Anwendung und erst recht bei der Entsorgung einen hohen CO2-Footprint. Schon heute verursacht die globale IT mehr Treibhausgase als der gesamte Flugverkehr – und der Ausstoss nimmt immer mehr zu! Am besten ist es immer, IT-Hardware möglichst lange zu benutzen. Das reduziert die ökologischen und sozialen ­Schäden am meisten, schont das Portemonnaie und gibt uns weniger Beschaffungsaufwand.

Sind Sie mit der Revision zufrieden oder wünschen Sie sich weitere Rahmenbedingungen für das öffentliche Beschaffungswesen in der Schweiz?

Ich bin grundsätzlich sehr zufrieden, dass die Nachhaltigkeit nun integraler Bestandteil aller öffentlichen Beschaffungen wird. Das ist schon ein sehr grosser Fortschritt, denn die über 40 Milliarden Franken Beschaffungsvolumen schon nur in der Schweiz haben einen Hebeleffekt auf die ganze Wirtschaft. So gehe ich davon aus, dass aufgrund nachhaltigerer öffentlicher Beschaffungen auch die Supply Chain von privaten Unternehmen ökologischer und sozialer wird. Was ist bedauere, ist die noch einfachere Art und Weise, wie freihändige Vergaben begründet werden können. Das ist in der ICT-Branche ein Problem: Wir haben mit über 40 Prozent Freihänder-Anteil seit Jahren eine weit überdurchschnittliche Verhinderung des Wettbewerbs. Es ist ein strukturelles Problem, dass viele IT-Hersteller Abhängigkeiten schaffen und dadurch der Markt in vielen Bereichen umgangen wird. Denken Sie an Systeme wie SAP, Microsoft Office oder Adobe-Produkte. Das sind proprietäre Lösungen, von denen kaum je eine Behörde ablöst. Somit ist der Wettbewerb in diesen Teilen weitgehend tot.

An der letzten Beschaffungskonferenz monierte die Berner Finanzdirektorin Beatrice Simon, dass die Schweiz im Beschaffungswesen hinterherhinke. Gründe dafür seien die demokratischen Prozesse und die Möglichkeit zur Mitsprache. Was glauben Sie: Kommt die direkte Demokratie dem Beschaffungswesen in die Quere?

Nun, es ist eine Realität, dass die Schweiz das letzte Land ist, das die WTO-Verträge von 2012 umsetzt – auf Bundesebene Anfang 2021, auf kantonaler Ebene nochmals Jahre später. Mir persönlich laufen diese Prozesse auch viel zu langsam. Aber das ist halt der Preis der Schweizer Demokratie, in der zuerst auf eidgenössischer Ebene und dann noch in allen Kantonen zuerst das Vernehmlassungsverfahren und erst dann die parlamentarische Beratung stattfindet. Dafür können alle mitreden und das Resultat ist breiter abgestützt, als wenn es einfach von oben durchgedrückt würde.

Vor zwei Jahren haben Sie die Plattform Intelli­procure vorgestellt – mit dem erklärten Ziel, Licht ins Dunkel des Schweizer Beschaffungswesens zu bringen. Wie kommt das Projekt voran?

Die Plattform ist sehr gut unterwegs. Wir haben schon über 400 aktive Nutzer, die sich regelmässig bei Intelliprocure einloggen. Und dank der stetig wachsenden Abo-Einnahmen können wir die Plattform auch laufend weiterentwickeln. Jetzt bieten wir schon die Beschaffungsunterlagen von über 20 000 Ausschreibungen an. Das sind über eine halbe Million PDFs, Word-Files und Excel-Tabellen, insgesamt über 1,7 Terrabyte an Daten. Diese können die Nutzer innerhalb von Sekunden mit der Volltextsuche durchsuchen und so relevante Ausschreibungen von früheren Beschaffungen anderer Behörden wiederverwenden. Die Rückmeldungen der Nutzer sind sehr positiv. Die meisten, welche die Plattform ausprobiert haben, lösen ein Abo – sowohl Beschaffungsstellen als auch Anbieter und Berater.

Wie geht es mit Intelliprocure weiter?

Wir sind aktuell daran, weitere Informationen über die Auftraggeber und Anbieter zusammenzustellen, damit wir noch relevantere Aussagen über die laufenden Ausschreibungen und Zuschläge machen können. Auch experimentieren wir mit Machine-Learning-Technologien, sodass man hoffentlich bald sehr gezielt nach Stichwörtern, etwa bei allen Beschaffungskriterien, suchen kann. Das Potenzial von Open-Source-Natural-Language-Processing-Tools ist noch riesig!

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DPF8_192625