Digitalisierung im Gesundheitswesen

Wie KI und Apps die Telemedizin ins digitale Zeitalter hieven

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Wer krank wird, greift heute vermehrt zum Telefonhörer, statt den Gang zum Hausarzt anzutreten. Mit digitaler Technologie verspricht Telemedizin medizinische Beratung rund um die Uhr und überall. Doch wo es viel Potenzial gibt, gibt es auch noch viele offene Fragen.

(Source: verbaska_studio)
(Source: verbaska_studio)

Telemedizin ist das E-Health-Wort der Stunde. Das Thema treibt Versicherer, Softwareentwickler und die medizinische Forschung um. Anfang des Jahres gab Swica bekannt, mit "Sante24" das erste Telemedizin-Zentrum einer Schweizer Krankenkasse mit einer Praxisbewilligung zu eröffnen. Die Tele-Praxis soll Patienten per Telefon beraten, Rezepte für verschreibungspflichtige Medikamente sowie Arbeitsunfähigkeitszeugnisse digital ausstellen, wie die "Handelszeitung" berichtete. Auch eine Überweisung an einen Facharzt sei möglich. Im Nationalrat ist eine Motion von ICT-Switzerland-Präsident Marcel Dobler zur Telepharmazie hängig. Dobler verlangt, dass Schweizer Apotheken nicht-rezeptpflichtige Arzneimittel nach einem Videochat an ihre Kunden liefern dürfen. Und in Deutschland herrscht derweil laut einem Bericht der "Welt" ein Streit darüber, ob sich Arbeitnehmer per Whatsapp ein Arztzeugnis ausstellen lassen dürfen. Ein Hamburger Start-up bietet diesen Service für 9 Euro an. Die Hamburger Ärztekammer sei nicht erfreut, schreibt die "Welt". Sie finde es problematisch, einen Patienten vor einer Krankschreibung nicht persönlich gesehen zu haben.

 

Medizin unabhängig von Ort und Zeit

Über Telemedizin wird also viel gesprochen, aber was ist darunter eigentlich zu verstehen? Wie einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestags aus dem Jahre 2011 zu entnehmen ist, liegt die Geburtsstunde der Telemedizin weit vor der Erfindung der ersten modernen Computer. Im Frühling 1876 tüftelte der britische Erfinder Alexander Graham Bell an seinem selbstentwickelten Telefonapparat und schüttete sich dabei aus Versehen Säure über den Anzug. Konfrontiert mit einem medizinischen Notfall, habe Bell den Telefon-Prototyp dazu genutzt, um seinen im Nebenzimmer befindlichen Gehilfen Thomas Watson zur Hilfe zu rufen. Die Telemedizin war geboren.

Seit diesem ersten Anwendungsfall hat sich viel getan. Anfänglich ging es wie zu Bells Zeiten um die Diagnostik und Therapie per Telefon, wobei vor allem die Überbrückung von räumlicher Distanz im Vordergrund stand. So konnte die medizinische Versorgung auch in Gegenden gebracht werden, wo sie vorher nicht zur Verfügung stand. Mit dem Aufkommen des Internets, von Apps, Wearables und Video-Chats wurde auch die zeitversetzte Kommunikation zwischen Arzt und Patient möglich. So können heute Patienten etwa von ihrem Smartphone aus Bilder von Hautveränderungen mit einem Arzt teilen.

In Zeiten, in denen von einem Mangel an Hausärzten, einer alternden Gesellschaft, Versorgungsengpässen in abgelegenen Gebieten und steigenden Gesundheitskosten die Rede ist, erscheint Telemedizin als Heilmittel für viele Probleme. Sie soll auch in gut erschlossenen Gebieten die Qualität der Versorgung verbessern, Arztbesuche ersetzen, Ängste durch ständig verfügbare Beratung nehmen, die Medizin den Bedürfnissen der Patienten und Ärzte anpassen, nachfolgende Therapien steuern sowie Zeit und damit Kosten einsparen. Die telemedizinische Beratung erfolge in rund 45 Prozent aller Fälle fallabschliessend, das heisst ohne weitere ärztliche Konsultation, rechnet etwa die Krankenkasse CSS auf Anfrage vor. Mitbewerberin Swica geht davon aus, dass die medizinischen Kosten via Telemedizin zirka 50 Prozent günstiger seien, als wenn bei einem Notfall eine Praxis aufgesucht würde.

 

Mehr als eine Hotline

Trotz aller Digitalisierung in den vergangenen Jahren: Die Web­sites von Schweizer Krankenkassen und Anbietern von Telemedizin-Dienstleistungen zeigen, dass auch im Jahr 2019 immer noch der telefonische Kontakt im Vordergrund steht. Ein Patient hat gesundheitliche Probleme und ruft bei einer Hotline an. Dort wird er beraten, direkt am Telefon behandelt oder an die entsprechenden Stellen weitervermittelt. Das Potenzial der Telemedizin reicht aber weit über diesen Fall hinaus, wie etwa Jan Kukleta auf der Website der Spitalgruppe Hirslanden schreibt. Für Kukleta, Chirurg an der Klinik im Park, ist vor allem die Übertragung von Audio- und Videodaten aus dem Operationssaal interessant. Per Videokonferenz könne so die Zweitmeinung eines anderen Spezialisten eingeholt werden. Ebenfalls möglich: Die Schulung von Chirurgen in der Ausbildung direkt während der Operation. Telemedizin findet also nicht nur zwischen Arzt und Patient, sondern auch zwischen Medizinern statt.

Beratung und Behandlung per Video-Chat wird nicht nur im OP, sondern ebenso für den Telemedizin-Anbieter Medgate wichtiger, wie das Unternehmen auf Anfrage schreibt. Als Hub diene hierbei die "Medgate App". Über diese könnten Videokonsultationen durchgeführt sowie Fotos und Sprachnachrichten übermittelt werden. Auch Medi24 setzt ausser auf das Telefon auch auf Video, ein Web-Klinik-Portal sowie auf Mobile-Kommunikation. Der Anbieter unterscheide dabei zwischen synchroner und asynchroner Beratung, schreibt CEO Angelo Eggli. Erstere laufe in Echtzeit als Telefon- oder Videogespräch ab, letztere zeitlich versetzt, etwa per Webportal oder Mobile-Anfrage. Ein eigenes Telemedizin-Modell bieten Schweizer Apotheken unter dem ­Label "Netcare" an. 25 Krankheiten behandelt der Apotheker direkt in der Apotheke. Dabei wird bei Bedarf per Telefon oder Video ein Arzt zugezogen.

Wenn es um die Weiterentwicklung des bestehenden Telemedizin-Angebots mit E-Health-Lösungen geht, sehen Krankenkassen und Anbieter in erster Linie zwei Ansätze: Mobile Health und künstliche Intelligenz (KI). Die CSS bietet mit etwa "myGuide" einen digitalen Ratgeber an, der Kunden als erste Anlaufstelle dient und Krankheitssymptome prüfen sowie Empfehlungen zum weiteren Vorgehen geben soll. Medgate will bei der Weiterentwicklung seiner App in eine ähnliche Richtung gehen und dabei auf KI setzen. Unter Mitwirkung von IBM-Wissenschaftlern entwickle das Unternehmen eine Entscheidungshilfe für die Patienten der "Medgate Tele Clinic". In einem ersten Schritt sei eine systematische Symptomerfassung in die App integriert worden, die Patienten genauer zum medizinischen Anliegen befrage. Beim Konkurrenten Medi24 wird der KI-Ansatz "digitaler Arzthelfer" genannt. Dieser soll mit einer gezielten Erstbefragung eine medizinische Ersteinschätzung vornehmen und so die klassische Telemedizin ergänzen. Die Ärztevereinigung FMH schreibt, dass Apps insbesondere beim Monitoring von Patienten mit chronischen Erkrankungen mehr Qualität und Effizienz schaffen könnten. Visana, Swica und der Apothekerverband Pharmasuisse erhoffen sich ausserdem von der Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) einen Effizienzschub für die Telemedizin.

Künstliche Intelligenz und E-Health-Apps waren auch Thema am zweiten Tag des E-Health Forums 2019. Lesen Sie hier, wie sich die beiden Technologien geschlagen haben.

 

Vernetzung, Geschick und Offenheit sollen ­Telemedizin voranbringen

So viel Potenzial das Zusammenspiel von Medizin und IT auch hat, noch ist die Schweizer Telemedizin laut den befragten Organisationen nicht dort, wo sie sein könnte. Um das Versprechen einer besseren Versorgung und tieferen Kosten einlösen zu können, muss etwa die digitale Vernetzung zwischen Telemedizinern, Hausärzten und Spezialisten verbessert werden, wie Swica, Pharmasuisse und die CSS schreiben. Aktuell erschwerten Informationslücken und Brüche die Koordination. Jede Versorgungsstufe löse das an sie adressierte Problem isoliert, es komme zu Doppelspurigkeiten, Missverständnissen und Verzögerungen. Visana gibt zu bedenken, dass die heutigen telemedizinischen Modelle in Fällen, in denen der Hausarztbesuch unumgänglich sei, auch Mehraufwand verursachen könnten. Ein weiteres Problem ist laut Medi24 die Regulierung in Europa. "Heute sind in vielen europäischen Ländern Gesetze darauf ausgerichtet, Fern­behandlung entweder zu verbieten oder nur eingeschränkt zu erlauben", so CEO Eggli. Hier seien die politischen Entscheidungsträger gefordert, Gesetze und Verordnungen der Zeit und den technologischen Möglichkeiten anzupassen.

Auf eine grundsätzliche Herausforderung der Telemedizin weist Medgate hin. Da der Patient für den Arzt am Telefon nicht sichtbar sei, müssten Telemediziner die Fähigkeit haben, das zu erfragen, was sie nicht sehen könnten. Sie seien gefordert, sich sowohl auf die medizinische Fragestellung zu fokussieren, als auch den Patienten in seiner Komplexität zu begreifen. Damit das gelingen könne, brauche es sehr gute kommunikative Fähigkeiten seitens des Arztes und medizinische Richtlinien. Ärzte seien durch Telemedizin in mehrfacher Hinsicht gefordert, merkt die FMH an. Zum einen entstünden für die Installation der dazu nötigen IT-Systeme Kosten, die durch den aktuellen Arzttarif nicht abgedeckt seien. Zum anderen führten digitale Affinitäten und Kompetenzen sowohl bei der Ärzteschaft wie auch bei den Patienten zu einem unterschiedlichen Zugang und einer unterschiedlichen Nutzung von digitalen Angeboten. Dies schlage sich auch in den Zahlen nieder. Laut dem E-Health-Barometer 2018 sind die Patienten gegenüber der Telemedizin zwar positiv eingestellt, Messenger-Dienste und Videotelefonie nutzten aber weniger als 10 Prozent der Befragten. Die Gefahr, dass insbesondere ältere Menschen von der digitalen Telemedizin überfordert werden könnten, sei allerdings gering, so die Meinung der Mehrzahl der Befragten. Die Vielfalt an Versicherungsmodellen und Techniken stelle sicher, dass für alle Patienten eine passende Lösung gefunden werden könne. Telemedizin sei gerade für Menschen mit erschwertem Zugang zum Gesundheitssystem eine Erleichterung.

 

Ergänzen, nicht ersetzen

Ob es für die Telemedizin spezifische Regeln und Standards braucht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Telemedizinische Richtlinien seien nicht zwingend angezeigt, heisst es vonseiten der CSS. Die Branche sei schon umfassend reguliert, gesetzliche Vorgaben – etwa die Pflicht zur Praxisbewilligung – existierten bereits. Zwingend sind Richtlinien hingegen für Swica. Die Krankenkasse lasse ihre telemedizinischen Leitlinien vom Zürcher Kantonsarzt bewilligen und erstelle sie in Zusammenarbeit mit dem Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich. Für die FMH sind vor allem die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen je nach Kanton ein Problem. Die Organisation fordert deshalb kantonal harmonisierte Rahmenbedingungen zu Angebot, Nutzung und Vergütung digitaler Gesundheitsangebote. Zudem müssten schweizweit geltende telemedizinische Qualitätskriterien und Leitlinien erarbeitet werden, die sowohl der Ärzteschaft wie auch den Patienten als Orientierungshilfe dienen könnten. Aus diesem Grund habe die FMH vor Kurzem ein "Zielbild 2022" zur Digitalisierung der ambulanten Gesundheitsversorgung verfasst.

Braucht es in Zukunft den Besuch beim Hausarzt vielleicht gar nicht mehr? Wird er auf breiter Front vom Telemediziner mit seinem digitalen Arzthelfer ersetzt? So weit will keine der befragten Organisationen gehen. Für die meisten ist Telemedizin eine Ergänzung zur physischen Konsultation. "Es wird immer Fälle geben, in denen ein Arzt seinen Patienten mit seinen Händen untersuchen, Verletzungen versorgen oder zum Beispiel eine Spritze, Kurzinfusion oder Impfung geben muss", schreibt etwa die Swica. Medgate pflichtet bei: "Ein Beinbruch oder eine Blinddarmentzündung können nicht über das Telefon oder in einer Videokonsultation behandelt werden." Trotzdem ist Medi­24-CEO Eggli davon überzeugt, dass heute viele Besuche beim Hausarzt unnötig seien und mittels digitaler Technologie vermieden werden könnten. "Mit unserer Triage-Software und unserem Know-how können wir mehr Kompetenzen vereinen als ein Hausarzt", schreibt er. "Dank umfassender digitaler Datenquellen stellen wir die Beratung und die Entscheidungsgrundlagen zudem in einen viel grösseren Kontext." Nach anfänglicher Skepsis hätten auch die Ärzte die Vorteile der Telemedizin erkannt. Wenn weniger Bagatellfälle in der Praxis landeten, könnten sie sich auf diejenigen Patienten konzentrieren, die wirklich ihre Hilfe benötigten.

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