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Big Data, Big Trouble? So meistern Spitäler die Datenflut

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Die Digitalisierung bringt viele Vorteile, sie generiert aber auch massenhaft Daten. Besonders im Gesundheitswesen. Die Redaktion hat bei Schweizer Spitälern nachgefragt, wie sie damit umgehen. Lösungsansätze gibt es viele - Hürden aber auch.

(Source: Alexander Sinn / Unsplash)
(Source: Alexander Sinn / Unsplash)

Die Datenflut im Schweizer Gesundheitswesen ist so gross wie noch nie. Ein Beispiel dafür ist die Präzisionsmedizin. Sie basiert auf persönlichen medizinischen Daten und generiert schnell mal 1 Terabyte pro Behandlungsfall. "Die Schweiz hat aber Nachholbedarf, die vielen Daten werden so gut wie gar nicht genutzt", sagt Martin Pfund, CIO des Kantonsspitals Graubünden. Der Aufwand, die oft unstrukturierten Daten nutzbar zu machen, sei sehr hoch. Daran seien schon einige Spitäler gescheitert.

Auch die Lindenhofgruppe hat das Problem erkannt. In der Schweiz gebe es keine stringente nationale Initiative für die Erhebung und Nutzung von Daten, heisst es auf Anfrage. Die Daten der Leistungserbringer seien oft zu lückenhaft, um sie sinnvoll zu nutzen. Am besten funktioniere das aktuell noch bei den onkologischen Datenregistern.

Ein positiveres Bild zeichnet Alexander Urs Thomann, Dr. sc. ETH und Bereichsleiter Digitalisierung und Architektur am Universitätsspital Zürich. Er sagt, dass interne medizinische und betriebliche Abläufe seit Jahrzehnten digital unterstützt würden. Bei der datengetriebenen Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg habe die Schweiz aber tatsächlich Nachholbedarf. Gründe dafür seien die schwierige Margensituation und der hohe Investitionsmittelbedarf für bauliche Anpassungen. Es fehle darum oft an Mitteln für Investitionen in die IT und in Daten- und Digitalthemen.

Was wäre möglich, wenn die Erhebung und Nutzung der Daten im Schweizer Gesundheitswesen besser wäre? Thomann sagt, dass dies zu mehr Effizienz und Effektivität entlang der Versorgungskette führen würde. Die Qualität der Behandlungen würde steigen, das Patientenerlebnis besser werden. Mit der Erkennung von Mustern könnte man sich abzeichnende Krankheiten schon früh diagnostizieren, ergänzt Pfund.

Das Papier muss weg

Ein Grund für die mangelhafte Sammlung von Daten ist, dass viele Mediziner noch immer papierbasiert arbeiten und keine digitalen Patientenakten nutzen. "Nichts ist so schnell wie eine Papiernotiz", sagt Stefan Hunziker, Leiter der Informatik des Luzerner Kantonsspitals (LUKS). Er digitalisierte diesen Prozess im LUKS im September 2019 mit dem Klinikinformationssystem LUKiS. "Einige hatten Mühe damit, dass sie ihre Notizen nun selbst ins System eingeben müssen", sagt Hunziker. Sie würden aber mit Spracherkennung, Textbausteinen und laufenden Optimierungen unterstützt.

Auch das Kantonsspital Graubünden setzt kaum noch auf Papierakten. Nur noch da, wo es um historische Akten gehe, die noch nicht digitalisiert seien, sagt Pfund. Bei den niedergelassenen Ärzten sei es häufig eine Frage des Alters und der Gewohnheit. Da der Aufwand für eine elektronische Akte sehr gross sei, würden gerade ältere Ärzte oft zum Schluss kommen, dass sich eine Umstellung nicht lohne. Auch die Lindenhofgruppe merkt an, dass viele Ärztinnen und Ärzte aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters gar nicht bereit seien, in digitale Systeme zu investieren.

"Nach unserer Erfahrung arbeitet höchstens ein Drittel der niedergelassenen Ärzte ohne Praxisinformationssystem und wir kennen kein Spital und keine Nachsorgeeinrichtung ohne Klinikinformationssystem", sagt Thomann. Die Fragmentierung des Marktes erschwere aber die Zusammenarbeit. Die Akteure im Gesundheitswesen würden zwar ihre internen Abläufe mit Daten verbessern, für die Optimierung der Gesamtprozesse gebe es allerdings kaum Anreize. Weder monetäre wie in den angelsächsischen Ländern noch regulatorische wie in den nordischen Ländern oder in Osteuropa.

"Die Papierprozesse haben sich in den klinischen Abläufen über Jahre etabliert", sagt Christian Schraner, CIO des Kantonsspitals Baselland. Neue Abläufe und digitale Prozesse würden temporär immer zu Mehraufwänden im klinischen Alltag führen und erst nach einiger Zeit einen Mehrwert bringen. Es gelte darum, die richtige Balance zwischen schnellen Erfolgen und nachhaltigen Lösungen zu finden.

Adrian Grob, Mediensprecher der Insel Gruppe, weist darauf hin, dass eine digitale Patientenakte nicht reiche, um ein Spital erfolgreich zu digitalisieren. Nötig sei immer auch eine Anpassung der klinischen Prozesse. "Daten alleine haben noch keinen Wert." Wertvolle Informationen könne man aus den Daten nämlich nur gewinnen, wenn man alle Datensilos zusammenführe und die daraus gewonnenen Daten sinnvoll kombiniere.

Bremsklotz Föderalismus

"Ich habe nicht den Eindruck, dass die Schweiz anderen Ländern hinterherhinkt, was die Integration der Systeme innerhalb der Gesundheitseinrichtungen betrifft", sagt Schraner. Auch Pfund sieht das so. Die Schnittstellen seien meist internationale Standards wie HL7, DICOM, IHE und FHIR. Das Problem liege vielmehr an der komplexen und stark heterogenen System- und Gerätelandschaft in Schweizer Spitälern. Die föderalistische Struktur der Schweiz bewirke zudem, dass es keine zentrale Vorgabe bezüglich Systeme und Technik gebe. In den skandinavischen Ländern hingegen würden alle Spitäler dasselbe klinische Informationssystem nutzen.

Auch Thomann stellt fest, dass der Föderalismus den Fortschritt lähmt. "Die Konzepte und Technologien für das elektronische Patientendossier werden schon bei der Einführung Ende 2020 nicht mehr State of the Art sein." Eine Verbesserung der Situation könnten regulatorische Vorgaben für Standards, monetäre Anreize oder Steuerrabatte auf Digitalisierungsinvestitionen bringen. Potenzial gebe es überall, wo die Digitalisierung Top down geschehe, schreibt die Lindenhofgruppe. Der Schweizer Ansatz für das EPD sei nur bedingt zielführend, die doppelte Freiwilligkeit ein Hindernis.

Um das Problem anzupacken, haben das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation und das Bundesamt für Gesundheit die Initiative "Swiss Personalized Health Network" (SPHN) ins Leben gerufen. Sie soll Standards für Formate, Semantik und Governance schaffen und so die Interoperabilität erhöhen. Die Inselgruppe macht bei SPHN mit. Sie erhofft sich dadurch Verbesserungen in der Prävention, Diagnose, Therapie und Genesung von Krankheiten. Profitieren soll auch die transdisziplinäre Forschung. Auch das Universitätsspital Zürich findet das SPHN sinnvoll.

Ein weiteres Beispiel für mehr Interoperabilität ist der ­"eMediplan" des Vereins eHealth Zentralschweiz. Er enthält die aktuelle Medikation von Patienten in verschiedenen Formaten, etwa Papier, QR-Code und maschinenlesbarer Code. Das vereinfacht den Austausch von Medikamenten zwischen Hausärzten, Apotheken und Spitälern. Das Luzerner Kantonsspital will sich dem "eMediplan" 2021 anschliessen.

Die Cloud hält Einzug in Spitälern

Eine Möglichkeit, um mit der Datenflut im Gesundheitswesen umzugehen, sind Cloud- und Big-Data-Technologien. Die Insel Gruppe nutzt diese etwa für die automatisierte Erkennung von Mustern und für die Analyse und Strukturierung grosser Datenmengen. Noch wenig verbreitet sei der Einsatz von Cognitive Computing. Solche Anwendungen kommen laut Grub nur bei spezifischen klinischen Expertensystemen zum Einsatz.

Auch das Kantonsspital Graubünden setzt auf die Cloud. Allerdings nur, wenn es möglich sei, die Daten ausschliesslich in der Schweiz zu halten, sagt Pfund. Big-Data-Technologien und Cognitive Computing seien hingegen noch nicht im Einsatz.

"Wo die Anforderungen an die Datensicherheit gewährleistet sind, werden punktuell heute schon Cloud-Lösungen eingesetzt", sagt Schraner. Cognitive Computing stehe hingegen erst am Anfang. Beim Luzerner Kantonsspital liegen die Patientendaten im eigenen Rechenzentrum. Heute sei es aus Kostengründen und der Komplexität grosser Daten-Repositorys aber gar nicht mehr möglich, alle Daten lokal zu halten, so Hunziker.

"Die Cloud ist aus Compliance-Sicht anspruchsvoll", warnt Thomann vom Universitätsspital Zürich. Für die Aufbereitung von Daten, die Prozessoptimierung und die Unterstützung von klinisch-diagnostischen Entscheidungen seien aber künstliche Intelligenzen im Einsatz. Big-Data-Anwendungen mit Milliarden von Datenpunkten gebe es allerdings eher wenige. Die Lindenhofgruppe teilt mit, dass sie noch keine Cloud- und Big-Data-Technologien nutze. Die Hürden seien aufgrund der Rechtslage hoch.

Was bringen Wearables?

Ein weiterer Trend ist die private Aufzeichnung von Aktivitäts- und Gesundheitsdaten. Können Spitäler von der Quantified-Self-Bewegung profitieren? Die Insel Gruppe erhofft sich Erkenntnisse für die Krankheitsbilder der Patienten. Für die Nutzung der Daten brauche es aber Investitionen in Datenerschliessung und Analytics, sagt Thomann. Er hofft, dass die Patienten nun selbst Verantwortung für die Vermeidung von typischen Zivilisationskrankheiten übernehmen. Das würde die Rolle der Leistungserbringer neu definieren - vom Therapeuten hin zum Coach für Gesundheit und Lebensqualität.

Wearables könnten in Zukunft bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine Rolle spielen, sagt Pfund. Die Geräte sollten dafür allerdings als Medizingeräte zertifiziert sein. Auch die Lindenhofgruppe ortet das grösste Potenzial von Wearables im Umgang mit chronischen Krankheiten.

Wenn Patienten die Daten blockieren

Besonders heikel ist der Umgang mit persönlichen Gesundheitsdaten. "Es gibt Widerstände und Ängste seitens der Patienten", sagt Grob. Gerade bei seltenen Krankheiten sei es aber wichtig, dass man die Daten zu Forschungszwecken verwenden könne, um die Stichprobengrösse zu erhöhen. "Es macht einen Unterschied, ob man es mit Digital Natives oder Digital Nomads zu tun hat", ergänzt Pfund. Die Natives würden meist lockerer mit der Weitergabe persönlicher Daten umgehen. "Der Skepsis kann man nur begegnen, indem die digitalisierten Lösungen sämtliche Anforderungen an den Datenschutz erfüllen", stellt Schraner fest.

Thomann fordert, dass die Spitäler durch Transparenz und Aufklärung Vertrauen schaffen. Im Forschungskontext sei der "General Consent" für die Weiterverwendung von Daten und Proben und der "Informed Consent" für spezifische Projekte wichtig. Man halte sich dabei an die Vorgaben von Humanforschungsgesetz und -verordnung. So könne das Spital garantieren, dass keine Daten zu Forschenden gelangen, bevor eine Bewilligung der Ethikkommission für das Projekt vorliege. Im Durchschnitt würden 85 Prozent der Patienten dem General Consent zustimmen. Das Coronavirus habe beim Abbau des Widerstands übrigens wenig bewirkt, sagt Thomann.

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