Carte blanche

Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?

Uhr | Aktualisiert
von Christof Zogg, Director Developer & Platform Group bei Microsoft Schweiz

Täglich studieren wir Charts, die uns aufzeigen, wie sich Märkte, Produkte und Anbieter in Zukunft entwickeln werden. Doch woher wissen die IT-Marktforschungsunternehmen das eigentlich, und wie genau sind solche Reports in der Retrospektive?

Christof Zogg, Director Developer & Platform Group bei Microsoft Schweiz (Quelle: Netzmedien)
Christof Zogg, Director Developer & Platform Group bei Microsoft Schweiz (Quelle: Netzmedien)

Beim Verfassen dieser Zeilen steht der Schreibende kurz vor Pfingsten und kurz nach Apples Entwicklerkonferenz WWDC. Beide Ereignisse haben etwas gemeinsam: Sie bilden einen interessanten Prüfstein für Prognostiker. Auf der einen Seite sind da die Meteorologen und Wetterfrösche, die regenfreie und rekordwarme Pfingsten mit Temperaturen von bis zu 30 Grad vorhersagen (den zeltenden Jungendverbänden sei’s gegönnt). Auf der anderen Seite kann bereits heute das Fazit gezogen werden über die Zuverlässigkeit der Prognosen, die die zahlreichen Technologie-Auguren und Apple-Kaffeesatzleser im Vorfeld der WWDC zum Besten gaben: Ja, es gab Neuigkeiten zu OS X und iOS. Nein, es gab kein "One more Thing" zu iPhone, iTV und iWatch. Das ergibt über den Daumen gepeilt eine Trefferquote von 40 Prozent und damit ein "ungenügend " in der Bewertung.

Der Kachelmann, der kann's

Etwas besser schneiden die Meteorologen ab. Dank wissenschaftlicher Methoden, engmaschigerer Modelle und grösserer Rechnerkapazität ist die Verlässlichkeit von Wetterprognosen gestiegen. So konnte etwa MeteoSchweiz die Zuverlässigkeit der Prognosen für die Tage 2 bis 5 in den letzten 30 Jahren um rund 10 Prozent auf 75 Prozent erhöhen.

Verglichen mit den Muotathaler Wetterschmöckern und ihrer geschätzten Trefferquote von 30 bis 40 Prozent, verdient das schon mal ein "sehr gut" (zumal mit der naturwissenschaftlichen Methode auch keine Ameisenhaufen plattgesessen werden müssen). Überprüft man dagegen die Zuverlässigkeit von 10-Tages-Prognosen, so scheiden Meteorologen "sehr schlecht" ab. Dann sinkt nämlich die Trefferquote – der Chaostheorie sei Dank – auf marginale 25 Prozent. Weshalb man bei längerfristigen Wetterprognosen mit Münzenwerfen beziehungsweise prophylaktischem Einpacken eines Regenschirms besser fährt als mit dem Vertrauen auf die Vorhersage.

Doch wie sieht es mit den Wachstums- und Technologieprognosen in unserer Branche aus? Wie zuverlässig sind die Vorhersagen der IT-Marktforschungs- und –Beratungsunternehmen à la Forrester, Garner und IDC? Werden da eher Resultate mit der Genauigkeit von kurzfristigen Wetterprognosen geliefert oder eher Schätzungen mit Muotathaler-Volatilität?

Besser verkaufen mit krummen Zahlen

Zunächst einmal stellt man beim Studieren von IT-Marktprognosen zwei Dinge fest: Erstens kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei vielen Themen von App-Umsatz bis Cloud-Penetration ein und dasselbe logarithmische Wachstums-Chart verwendet wird, bei dem jeweils bloss situativ die Achsen neu beschriftet werden. Zweitens sind der Kreativität von Marktprognosen fast keine Grenzen gesetzt. Es gibt kaum ein Bereich, der sich nicht vermeintlich exakt bis auf die Nachkommastelle genau prognostizieren lässt.

So schätzt Forrester, dass 2015 weltweit der Smartphone-Markt auf 29,4 Milliarden und der Tablet-Markt auf 8,1 Milliarden Dollar wachsen wird. Gartner prognostiziert, dass sich bis 2015 der globale Software-as-a-Service- Umsatz auf 21,281 Milliarden Dollar vergrössern wird. Und IDC meint, dass 2015 genau 380,3 Millionen PCs verkauft werden.

Blick in den Rückspiegel

Erstaunlicherweise scheint dabei die retrospektiv relativ leicht überprüfbare Zuverlässigkeit solcher Prognosen niemanden so richtig zu interessieren (nicht einmal die Grosskunden, die für Jahresabonnemente fünfstellige Beträge zu berappen haben). Exemplarisch können wir uns etwa die Prognose anschauen, die Gartner 2009 über die weltweiten Marktanteile der verschiedenen Smartphone-Betriebssysteme für 2012 vorausgesagt hat: Symbian 40 Prozent, Android 14 Prozent, iOS 13 Prozent, Windows Phone 12 Prozent. Heute wissen wir: Symbian existiert nicht mehr, Android dominiert die Verkäufe mit fast 80 Prozent Marktanteil und Windows Phone hat zwar in Europa zugelegt, steht weltweit aber bei unter 5 Prozent.

Zugegeben, unsere Branche ist so dynamisch, dass niemand die mittelfristige Zukunft prognostizieren kann, schon gar nicht auf die Nachkommastelle genau. Vielleicht täten die IT-Researcher gut daran, sich stattdessen auf die relevante und aufschlussreiche Analyse der gegenwärtigen Marktlage zu beschränken, anstatt sie weiterhin nach dem Motto "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern" die zukünftigen Trends in exakte Charts fassen zu wollen. Aber vielleicht sehe ich das einfach zu kritisch und müsste mich mehr an den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer halten. Dieser antwortete einst auf den Vorwurf, er hätte gestern noch einen ganz anderen Standpunkt vertreten: "Niemand kann mich daran hindern, jeden Tag klüger zu werden."