Editorial

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren digitalen Doppelgänger

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Joël Orizet, stellvertretender Chefredaktor. (Source: Netzmedien)
Joël Orizet, stellvertretender Chefredaktor. (Source: Netzmedien)

Zumindest im Film wirken Zwillinge immer ein wenig unheimlich. Manchmal sind sie sogar gruselig wie die beiden Grady-Schwestern im Horrorklassiker "The Shining" von Stanley Kubrik. Auch in der Realität können Zwillinge, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, Unbehagen auslösen, allein aufgrund des Generalverdachts, sie könnten einen durch gelegentlichen Rollentausch zum Narren halten. Für die Wissenschaft sind eineiige Zwillinge zwar ein Glücksfall – mit ihrer Hilfe versuchen Forschende herauszufinden, inwiefern bestimmte Konzepte wie Identität, Intelligenz oder Verhaltensweisen genetisch oder durch Umgebungsfaktoren bedingt sind. Aber die Zwillingsforschung hat auch eine dunkle Vergangenheit im Zusammenhang mit den medizinischen Gräueltaten des Nationalsozialismus. Und auch heute noch ist sie mit Kritik konfrontiert, nicht zuletzt bezüglich ihrer Prämissen, die dazu geführt haben, dass man die Erblichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen häufig überschätzt.

Digitale Zwillinge, also virtuelle Modelle von realen Gegenständen oder Systemen, liefern zwar keine Antwort auf die Frage, wer wir sind und was uns ausmacht. Sie bieten jedoch einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Forschung mit biologischen Zwillingen: Digitale Zwillinge ermöglichen es, zu beobachten und zu experimentieren, Szenarien durchzuspielen und in die Zukunft zu blicken.

Die Idee dahinter ist übrigens aus der Not geboren. Erstmals kam das Konzept womöglich während der Apollo-13-Mission im April 1970 zur Anwendung, nachdem der heute wohl berühmteste Funkspruch der Welt die Kommandozentrale der US-Raumfahrtbehörde NASA erreicht hatte: "Houston, we have a problem." Ein Sauerstofftank der Weltraumkapsel war explodiert und hatte zu einem kritischen Systemausfall geführt. Die NASA-Ingenieure am Boden simulierten die Bedingungen an Bord des beschädigten Raumschiffs mithilfe von physischen Nachbauten der Ausrüstung und fanden so einen Weg, um die Astronauten sicher zurück auf die Erde zu bringen. Wie man dieses Prinzip mit rein digitalen Mitteln umsetzen kann, beschrieb der US-amerikanische Informatiker David Gelernter 1991 in seinem Buch "Mirror Worlds". Ein weiterer Wegbereiter war Michael Grieves, der das Konzept 2002 erstmals auf die industrielle Fertigung übertrug.

Nun hat auch die Humanforschung digitale Zwillinge für sich entdeckt. Und nicht nur die Forschung, sondern auch ihre Anwendung verspricht vielfältige Vorteile. Ärztinnen und Ärzte könnten beispielsweise bessere Vorhersagen treffen oder Behandlungsoptionen durchspielen und nur die effektivste von ihnen anwenden. Patientinnen und Patienten könnten zielgerichteter und proaktiv auf eine sich drohende Verschlechterung des Gesundheitszustands reagieren, noch bevor sich eine Krankheit abzeichnet.

So vielversprechend das alles klingen mag – mit dem Aufkommen von digitalen Zwillingen in der Medizin kommen auch kritische Fragen auf. Zum Beispiel: Wer soll das alles bezahlen? Der Staat, die Krankenkassen oder die Patientinnen und Patienten, die es sich leisten können? Wie steht es um Datenschutz und -sicherheit? Wer trägt die Verantwortung dafür? Wem gehört überhaupt der digitale Zwilling einer Person? Und was passiert nach ihrem Tod? Fristet der digitale Zwilling dann ein Dasein als Datenzombie?

Zumindest weit vorausschauend wirken digitale Zwillinge in der Medizin ein wenig unheimlich, vielleicht sogar gruselig. Sie wissen mehr über uns als wir selbst – wahrscheinlich viel mehr, als wir wahrhaben wollen. Sie erinnern uns ständig daran, wie riskant das Leben ist, was Vor- und Nachteile mit sich bringen kann. Bestenfalls lebt man länger, weil man ein besseres Verständnis für Risiken entwickelt. Schlimmstenfalls lebt man schlechter, weil einem der digitale Zwilling dauernd ins Gewissen redet und ganz genau quantifiziert, was zum Beispiel ein Umtrunk oder eine Portion Speck und Spiegeleier an Lebenszeit kostet. Vielleicht lässt sich aber der digitale Doppelgänger dereinst auch so einstellen, dass er unliebsame Informationen, die nicht unmittelbar kritisch sind, auf Wunsch der User zunächst einmal für sich behält. Ganz nach dem Motto: Risikotoleranz bedingt auch ein gewisses Mass an Ignoranz.

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