Handeln statt jammern

Die Crowd und virtuelle Kommunikationstools als Rezepte gegen den Fachkräftemangel

Uhr | Aktualisiert
von Jasmine Hartmann

Jammern und höhere Kontingente für Drittstaaten fordern – das ist das Rezept vieler, vorwiegend grösserer IT-Unternehmen in der Schweiz gegen den Fachkräftemangel. Dafür haben die meisten Start-ups und KMUs weder Zeit noch Geld. Längst gibt es andere Lösungsszenarien, um trotzdem im Geschäft zu bleiben.

In der Schweiz seien die Kontingente für ausländische ICT-Fachkräfte zu klein, beklagen Branchenvertreter immer wieder von Neuem. Besonders gravierend sei das Problem in Zürich. Speziell mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen hätten Start-ups und KMUs, berichtete der "Tagesanzeiger" in einem Artikel vom 21. Januar 2011. "Aus unserer Sicht ist es dringend notwendig, dass die boomende ICT-Branche genügend hoch qualifizierte Fachkräfte rekrutieren kann", wird Daniel Heinzmann, Leiter der Informatikinitiative "eZürich", in der Zeitung zitiert. Und weiter: "Wir versuchen nun auf Kantons- und Bundesebene darauf hinzuwirken, dass die Kontingente für die Branche vergrössert werden."

Dabei sollen insbesondere auch Start-ups öfter zum Zug kommen. Im Kanton Zürich könnten bis ins Jahr 2017 in der Schweiz 32'000 Fachkräfte in der ICT-Branche fehlen. Dies geht aus zwei im Jahr 2010 durchgeführten Studien hervor. Verschiedene Stimmen führen das auf zu kleine Kontingente für ausländische Spezialisten aus Nicht-EU-Staaten zurück. Verschiedentlich drohten Grossunternehmen wie Google oder IBM bereits mit einem Wegzug, falls das Problem weiter bestehen sollte.

Kontingente erhöhen? Nicht unbedingt

Dabei hätte es landesweit eigentlich genügend Kontingente. Während jedoch Kantone mit grösseren Städten und einer grösseren Dichte an ICT-Unternehmen diese über Gebühr beanspruchen, schöpfen kleinere, vorwiegend ländliche Kantone die Kontingente kaum aus. Bei den Drittstaatsangehörigen zum Beispiel wurden schweizweit 2011 bei den Kurzaufenthaltern nur 4'781 von 5'000 zur Verfügung stehenden Bewilligungen genutzt, wie das Bundesamt für Migration in seinem "Monitor Zuwanderung" schreibt. Bei den Aufenthaltsbewilligungen wurden 3'076 der 3'500 angebotenen Kontingente aufgebraucht.

Eine Erhöhung der Kontingente dürfte also nicht die allein seligmachende Massnahme zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in der ICT-Branche sein. Insbesondere kleinere Unternehmen und KMUs kommen schon heute gar nicht darum herum, sich andere Lösungen zu überlegen, damit sie an die benötigten Spezialisten herankommen. "Man findet aus einer Not heraus andere Wege", meint etwa Marcus Kuhn, Mitgründer des Start-ups Connex.io – einer Adressbuch-Synchronisations-Plattform – zum Problem.

Aus der Not heraus andere Wege finden

Kuhn lernte seinen Mitgründer Ata Hezretkuliyev während des Studiums in Singapur kennen. Die beiden Geschäftspartner hätten ihr Start-up-Team gerne in Zürich aufgebaut. Da Hezretkuliyev aus Turkmenistan kommt, war dieses Szenario jedoch nicht realistisch, da sie das nötigte Geld für das behördliche Prozedere, um eine Arbeitsbewilligung zu bekommen, gar nicht erst aufbringen konnten. Kuhn wohnte damals, wie bei vielen Studenten üblich, im Elternhaus.

Schliesslich haben die beiden beschlossen, die neuen Kommunikationskanäle, die das Internet bietet, zu nutzen. "Wir haben uns gesagt, wir machen aus diesem Problem einen Vorteil und kommen mit weniger Geld aus, wenn wir virtuell zusammenarbeiten", so Kuhn. Die Geschäftspartner tauschen sich regelmässig über Chats aus. Skype Video, Google Talk Video und Google Hang Out haben bezüglich des virtuellen Arbeitens vieles einfacher gemacht.

Am Anfang war das jedoch ein Problem, als Hezretkuliyev noch in Turkmenistan wohnte, da es dort "nur etwa einige tausend Internetanschlüsse gab", wie Kuhn anfügt. Hezretkuliyev entschied sich deshalb, seinen Arbeitsplatz nach Dubai zu verlegen. Diesbezüglich habe es dann keine Schwierigkeiten mehr gegeben, erzählt Kuhn. Dort seien auch die behördlichen Hürden viel kleiner als in der Schweiz, um eine Arbeitsbewilligung zu bekommen.

Talentsuche in der Ukraine

Auf die Frage, ob dieses Arbeitsmodell wirklich funktioniert, meint Kuhn: "Reibungslos." Der einzige Nachteil sei, dass man den sozialen Kontakt weniger gut pflegen und beispielsweise nach der Arbeit kein Bier zusammen trinken könne. Kuhn und Hezretkuliyev sehen sich aktuell etwa zwei bis drei Mal im Jahr. Als die beiden mehr Mitarbeiter einstellen wollten, waren sie "wegen des Talentmangels und der hohen Kosten in Zürich" gezwungen, nach Talenten im Ausland zu suchen. "Wir haben uns dann auf die Ukraine festgelegt", so Kuhn.

Connex.io arbeitet in der Ukraine mit Ciklum, einem Outsourcing- Dienstleister, zusammen, der die Rekrutierung für das Unternehmen übernommen hat. Die Mitarbeiter von Connex.io sind nun gleichzeitig auch bei Ciklum angestellt. Der Dienstleister übernimmt die ganze Administration und Korrespondenz mit den ukrainischen Behörden. "Wir könnten es uns nicht leisten, solche Talente in die Schweiz zu holen", meint Kuhn. Aber das Zusammenziehen von mehreren Leuten an einem Ort ergebe durchaus Sinn.

Crowdsourcing für viele Projekte sinnvoll

Dass viele Projekte und Aufgaben durchaus für Outsourcing geeignet sind, bestätigt auch Dieter Speidel, Geschäftsführer des IT-Validierungsspezialisten Pass Technologies. Vergangenes Jahr hat er die Crowdtesting- Plattform Passbrains.com lanciert. Ihre momentan rund 200 freiberuflichen Mitglieder testen Software für das Unternehmen. "Ich habe mich gefragt, warum wir eigentlich nicht einfach Test-Experten auf der ganzen Welt Softwareprodukte testen lassen könnten ", so Speidel. In ICT-Projekten wechseln sich Leerläufe und personelle Engpässe dauernd ab. So kam Speidel auf die Idee, Testaufträge übers Internet zu vergeben. Das heisst, Arbeitskräfte sollen gerade dann zur Verfügung stehen, wenn man sie braucht. Die Tester werden darum auch nicht im Stundenlohn, sondern nach Leistungsbeiträgen für die Projekte bezahlt.

Anfangs hat Speidel bei vergleichbaren Plattformen selbst Aufträge vergeben, um zu sehen, wie die Tester arbeiten. Qualitativ gibt es seiner Meinung nach praktisch keine Unterschiede zwischen den Crowdtestern und Spezialisten, die man sich direkt ins Unternehmen holt. "Die Spezialisten in unserer Passbrains-Crowdtesting- Community sind in der Regel sehr gut ausgebildet und zertifiziert. Sie verfügen über mehrere Jahre Berufserfahrung bei grossen Outsourcing- und Offshore-Firmen." Es handle sich um Test-Ingenieure, die viele Kunden selbst auch gerne in ihr Unternehmen holen würden. Die Kunden von Passbrains. com wünschen zum Teil auch, dass in ihren neuen Projekten immer wieder die gleichen Crowdtester eingesetzt werden. Kunden hätten auch schon angefragt, ob sie gewisse Tester gleich auf Dauer engagieren könnten, was durchaus möglich sei.

Crowd- und Outsourcing

Finanziell ist ein solches Modell laut Speidel auch für KMUs und Start-ups sehr interessant. Die Welt werde sich immer mehr in diese Richtung bewegen und in gewissen Bereichen sei dies eine gute Lösung bei Fachkräftemangel. Wenn es keinen wichtigen Grund gäbe, weshalb jemand physisch präsent vor Ort sein muss, gäbe es auch keinen Grund ihn in die Schweiz zu holen. "Es gibt aber auch Projekte oder spezifische Aufgaben, beispielsweise im Test kritischer Banking-Applikationen, die man generell nicht crowdsourcen kann", meint Speidel.

Die Anzahl an benötigten Fachkräften wächst permanent, da die Anzahl an Applikationen rasant wächst. Crowdsourcing und Outsourcing könnten also ein Weg sein, den Mangel an ICT-Spezialisten ein wenig zu mindern. Alan Frei, Leiter von Startup@UZH, der Startup- Plattform der Universität Zürich, sieht eine klare Tendenz, dass gewisse Projekte outgesourct werden: Stichwort Nearshoring. Besonders bei den Programmierern gibt es seiner Meinung nach zu wenige Fachkräfte in der Schweiz.

Es gebe für Start-ups drei Möglichkeiten, wenn es um Programmierprojekte geht: Entweder haben sie Geld – beispielsweise von den Eltern – und können ein Webbüro mit Projekten beauftragen, oder sie haben kein Geld und holen sich einen Schweizer Programmierer ins Boot, dem sie dann einen Anteil am Unternehmen geben. Als dritte Möglichkeit suchen sich die Unternehmer einen geeigneten Programmierer im Ausland. Modelle wie Crowdsourcing oder Outsourcing werden laut Frei immer wichtiger, "aber trotzdem ist und bleibt die physische Komponente wichtig". Bei Studenten, die Startup@UZH betreut, stelle sich die Frage sowieso meistens gar nicht, ob sie ausländische Fachkräfte ins Unternehmen holen wollen, da sie noch ganz am Anfang stünden.

Mehr in Bildung investieren

Unternehmen, denen Fachkräfte fehlen, beschäftigen sich dennoch vielfach mit den fehlenden Kontingenten. Speidel kennt etliche Unternehmen, die zurzeit Mühe bekunden, passende Mitarbeiter zu finden. "Momentan wären sicher grössere Kontingente nötig, aber ob dies gesund für die Schweiz wäre, ist eine andere Frage." Frei sieht in einer Erhöhung der Kontingente erst die letzte Möglichkeit, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Er würde zuerst in anderen Bereichen ansetzen.

Die hochqualifizierten Personen, die schon in der Schweiz sind, also beispielsweise hier studieren, sollte man seiner Meinung nach hier behalten und ihnen Möglichkeiten geben, etwas zu entwickeln. Dem pflichtet auch Kuhn bei: "Es ist unverständlich, dass jemand an der ETH doktoriert und wir ihn dann nicht hier behalten wollen." Als Lösung könnte man zum Beispiel die Aufenthaltsbewilligung von Studenten nach ihrem Studium noch zwei weitere Jahre verlängern, damit sie noch genügend Zeit haben, ein Start-up zu gründen, so Frei. Um an geeignete Spezialisten heranzukommen, kontaktieren Unternehmen am besten Universitäten. Diese organisieren auch in regelmässigen Abständen Networking-Events.

Mehr aufs Inland setzen

Andreas Kaelin von der Initiative "eZürich " vertritt eine ähnliche Meinung: Man müsse alles unternehmen, damit genügend ICT-Fachkräfte in der Schweiz an den Hochschulen und in der höheren Berufsbildung ausgebildet werden. Der Rückgriff auf ausländische Fachkräfte solle sekundär für die Abdeckung von Bedarfsspitzen erfolgen. "Auf der Ebene der Berufsbildung müssen die Unternehmen und Verwaltungen mehr Lehrund Praktikumsplätze zur Verfügung stellen", so Kaelin. Dies sei die Basis für die dringend benötigten Absolventen der höheren Berufsbildung.

Auf der Hochschulstufe sind laut Kaelin grundsätzlich genügend Kapazitäten vorhanden. Es fehle hier schlicht und einfach an interessierten jungen Menschen, die ICT studieren wollen. Darum müsse man in der Volksschule ansetzen, mit verschiedenen Projekten und Aktivitäten die jungen Menschen für die ICT begeistern und sie für die Wahl eines ICT-Berufs motivieren.

Kontingente besser verteilen

Frei sieht noch eine andere Möglichkeit, um den Fachkräftemangel ein wenig zu mindern. "Die Kantone könnten ihre überschüssigen Kontingente austauschen, beispielsweise in einer Art Marktplatz." Da wie bereits angeführt die Kontingente auf Bundesebene bis Ende des letzten Jahres nicht ausgeschöpft wurden, wäre die Idee nicht abwegig. In manchen Kantonen ist das Problem des Fachkräftemangels also nicht so gravierend wie in Zürich. Die Kontingentszuteilung des Bundes auf die Kantone müsse laut Kaelin die Branchenstruktur besser berücksichtigen und nicht primär die Anzahl Arbeitsplätze als Basis nehmen. Diese Zuteilung sei stark zu hinterfragen. Eine Erhöhung des Gesamtkontingentes auf Ebene der Schweiz scheine zurzeit aber politisch nicht opportun zu sein.

Den ersten Ansatz sieht Kaelin bei der Optimierung der Anmelde- und Bewilligungsverfahren aus Sicht der KMUs und Start-up-Unternehmen. Als Zweites solle geprüft werden, ob die Auslegung und Anwendung der Vergabekriterien KMU-kompatibel ist. "Eine Benachteiligung von Start-ups und KMUs wird oft in dem administrativ anspruchsvollen Anmelde- und Bewilligungsverfahren gesehen." Spezialisierte Personalabteilungen von Grossunternehmen sind besser dotiert und erfahrener und haben es somit einfacher. Zudem können auch Nachteile bei der Auslegung und Anwendung der Kriterien entstehen: "Ein KMU oder Start-up kann für den dringend benötigten Fachspezialisten nicht die Ansätze von Grossunternehmen bezahlen", meint Kaelin.

"ICT-Start-up Incubator"

Der Zürcher Stadtrat setzt sich zudem für weitere Lösungen ein. Seine Initiative "eZürich" hat laut Kaelin die Standortförderung zum Ziel. In zahlreichen Projekten wird gemeinsam mit der ICT-Industrie und den Hochschulen daran gearbeitet. So wird im Rahmen von "eZürich" zum Beispiel ein "ICT-Start-up Incubator" geschaffen. Er soll Jungfirmen nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten, sondern auch den gezielten Austausch mit erfahrenen Unternehmern, Senior ICTExecutives sowie mit Business Angels und Investoren ermöglichen und somit das Leben der Jungunternehmer in den ersten Monaten erleichtern.

Nur auf eine Erhöhung der Kontingente zu setzen, reicht laut Kaelin also nicht – die Anstrengungen zur Start-up-Förderung müssen in mehreren Bereichen gleichzeitig erfolgen. Besonders Start-ups und KMUs brauchen auch konkrete Hilfestellungen, damit sie die benötigten Spezialisten für den Unternehmensaufbau und die Bewirtschaftung des Unternehmens bekommen.

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