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"Ich bin überzeugt, dass unsere Forschung eines Tages nützlich sein wird"

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von George Sarpong

Wann ist eine Software attraktiv und wann nicht? Das Design ist nicht allein entscheidend. Das kulturelle Empfinden des Anwenders bestimmt mit. Das könnte Folgen für die Softwarebranche, Web- und App-Entwickler haben. Der Forscher Abraham Bernstein von der Universität Zürich und seine Kollegen haben eine Lösung entwickelt.

Abraham Bernstein, Leiter Institut für Informatik, Universität Zürich. (Quelle: Universität Zürich)
Abraham Bernstein, Leiter Institut für Informatik, Universität Zürich. (Quelle: Universität Zürich)

Sie haben die kulturellen Auswirkungen auf die Entwicklung von Software erforscht. Wie kamen Sie darauf?

Abraham Bernstein: Eine Doktorandin forschte für ihre Masterarbeit in Afrika. Dort stellte sie fest, dass Anwender unsere Software kaum gebrauchen konnten. Das führte uns zu der Überlegung, dass wir heute Software massgeblich für den durchschnittlichen User im Silicon Valley oder in Redmond entwickeln. Aber nicht für alle Anwender weltweit.

Woher kommt das?

Jeder Mensch hat eine andere Wahrnehmung und ein anderes Schönheitsempfinden. Es gibt eine universell und eine kulturell abhängige Ästhetik, etwa bestimmte Farbpräferenzen. Wir überlegten uns, ob man Software gestalten kann, deren Oberfläche sich dem kulturellen Raum des Anwenders anpasst, ohne dabei Rechenleistung einzubüs­sen. Der durchschlagende Erfolg unserer Forschung lag darin, dass wir so ein Programm entwickeln und dessen Vorteile empirisch nachweisen konnten.

Wie haben Sie das gemacht?

Indem wir ein System bauten, welches das User Interface automatisch dem kulturellen Hintergrund einer Person anpasst und es mit einer To-do-List-Anwendung testeten. Dazu erstellten wir ein Regelwerk. Dieses ist ein Destillat aus gut hundert wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die wir im Vorfeld lasen. Dieses Regelwerk gossen wir dann in ein wissensbasiertes System. Das fertige System brauchte dann noch eine Beschreibung, welche Interaktionselemente vorhanden sein müssen und welche optional sind. Die Bedienelemente etwa, um eine To-do-Liste zu manipulieren, sind ein «Muss». Andere Features sind hingegen optional.

Was genau verändert sich an der Oberfläche?

Die Elemente, die tatsächlich präsentiert werden, deren Grösse sowie ob diese Elemente mit Piktogrammen oder textuell gezeigt werden. Ein anderes Beispiel sind Listen. Diese können als Ganzes oder als Dropdown-Menü dargestellt werden. Die Variationen sind gewaltig. Jede Entscheidung in dem Regelwerk ergab mehrere Möglichkeiten. Mit jeder neuen Regel ergab sich dadurch ein exponentielles Wachstum an kulturellen Interfaces. Auf diese Weise kamen rund 32'000 verschiedene Kombinationen zusammen.

Wie äussern sich diese kulturellen Eigenheiten?

Benutzer in Südkorea und Japan wünschen sich Ikonen, ergänzt mit Listen. In Japan wünschen sich Anwender zusätzlich einen sogenannten Wizard, einen Guide, der sie durch die Software führt. In China wiederum arbeiten Anwender gerne mit grossen Piktogrammen und weniger mit Listen. Alle drei Länder liegen geografisch beieinander und doch sieht man diese deutlichen Unterschiede in Design und Farbgebung.

Was bedeutet Ihre Forschung für den Einsatz von Software?

In unserem Experiment arbeiteten wir mit Anwendern aus der Schweiz, den afrikanischen und asiatischen Ländern zusammen. Das Ergebnis zeigte, dass User schneller arbeiten, effektiver sind und weniger Fehler machen. Ausserdem empfanden die Nutzer in unserem Experiment die Software als ästhetischer und subjektiv als besser als das klassische Software-Design von der US-Westküste. Dass dies grundsätzlich so ist, ist vielleicht nicht verwunderlich. Erstaunlich ist aber, dass wir zeigen konnten, dass man so etwas auch automatisch generieren kann.

Was bedeutet das jetzt für die Praxis?

Wenn man sich überlegt, dass Menschen effizienter, effektiver und glücklicher mit einer bestimmten Software arbeiten, so wird das für die künftige Entwicklung von Nutzeroberflächen Konsequenzen haben. Die kulturelle Adaption ist beinahe eine Vorstufe zur Personalisierung von Software. Doch auch mit einer Vielzahl an Designern wird man eine Software nie ganz an alle Vorlieben anpassen können. Zudem verliert man gewisse Vorteile, welche die Standardisierung mit sich bringt. Ich kann für einen Anwender aus Südkorea die Windows-Oberfläche auf seinem Rechner konfigurieren, da bis auf den Text viele Bedienelemente gleich aussehen. Bei einer kulturell angepassten Software könnte ich das wahrscheinlich nicht mehr.

Ist Ihre Forschung in der Wirtschaft bereits angekommen?

Das glaube ich nicht. Nehmen sie Microsoft-Lösungen. Die Sprache wird jeweils angepasst. Dadurch ist auch ein Schweizer Anwender in der Lage, ein koreanisches Office zu bedienen. Das ist eine Lokalisierung. Für Standardprodukte wie Microsofts Office ist das sinnvoll. Aber stellen wir uns eine Beratungssoftware für Banken vor. Muss diese für den amerikanischen, europäischen und den asiatischen Markt nicht jeweils anders aussehen? Ein Berater will seine Kunden doch auf deren kulturellen Ebene ansprechen.

Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung seitens der Wirtschaft?

In der IT dauert es häufig bis zu 20 Jahre, bis eine Technik vom Labor in den Mainstream gelangt. In den 1970er-Jahren wurden die ersten Papers über relationale Datenbanken geschrieben. Die frühesten Anwendungen folgten in den 1980er-Jahren. Das lässt sich auf praktisch alle Entwicklungen in der IT übertragen. Folglich werden bei uns voraussichtlich in fünf oder zehn Jahren die ersten Firmen an die Türe klopfen.

Aus der Schweizer Softwareindustrie kam bis heute noch keine Anfrage?

Wir referierten über unsere Forschung und die Besucher fanden das auch spannend. Aber wir erhielten noch keine konkreten Anfragen.

Frustriert Sie das?

Ich bin Wissenschaftler, ich schaffe Wissen und ich bin froh, wenn dieses nützlich ist. Ich bin überzeugt, dass unsere Forschung eines Tages nützlich sein wird. Es gibt Forschung, die ist kurzfristig nützlich und Forschung, die sich erst nach langer Zeit auswirken wird. Es ist meine Aufgabe, Dinge vorherzusehen, die erst morgen wichtig werden. Das unterscheidet die akademische Grundlagenforschung von der Entwicklungsabteilung in der Industrie.

Die Wirtschaft wird derzeit von Megatrends wie Big Data, Mobile oder Social Media getrieben. Wie sehen Sie diese Entwicklungen aus wissenschaftlicher Sicht?

Nehmen wir das Beispiel Big Data. Hier sind extrem viele Werkzeuge auf dem Markt. Die grösste Hürde sehe ich im Mangel an Fachkräften, die Big Data auch «sprechen». Wir bilden noch zu wenige Spezialisten aus. Es gibt Informatiker, die denken aber nicht als Statistiker und umgekehrt. Der grösste Hemmschuh ist derzeit, Leute für die Wirtschaft auszubilden, die beides beherrschen. Ein weiteres Problem ist das Verständnis für das jeweilige Anwendungsgebiet.

Den Mangel an hochqualifizierten Spezialisten zu beheben, ist auch eine Aufgabe der Hochschulen. Wie geht die Universität Zürich das Problem an?

Wir bilden ab nächstem Jahr Masterstudierende in Data Science aus. Die Studierenden müssen in der Lage sein, Fragestellungen im Bereich Big Data zu verstehen. Ausserdem lernen sie, die richtigen statistischen Verfahren einzusetzen. Es ist etwa ein Unterschied, ob ich die Daten von 50 Personen auswerte oder von 50 Millionen Menschen. Bis unsere Studierenden auf den Arbeitsmarkt kommen, werden jedoch noch rund zwei Jahre vergehen.

Welche Entwicklungen sehen Sie im Bereich Mobile?

Für mobile Anwendungen ist bereits viel Infrastruktur vorhanden. Wichtiger wäre, dass wir uns überlegen, wie wir mit der Technik umgehen wollen. Wie sieht unser Leben und wie sehen unsere Prozesse mit mobiler IT-Technik aus? Es fehlen noch Überlegungen dazu, wie wir diese Prozesse sinnvoll nutzen. Der Sozialwissenschaftler Marshall Mc­Luhan sagte einmal, jede «Augmentation» sei zugleich eine Amputation. Wenn Leute Taschenrechner benutzen, verlieren sie an Kopfrechenleistung. Das greift aber noch nicht weit genug.

Weshalb muss ich überhaupt noch meine Geräte mit mir herumtragen? Und wie lautet Ihre Antwort darauf?

Vor zehn Jahren schrieb ich mit einem Kollegen von IBM Research einen Artikel über Ubiquitous Computing. Überall stehen Bildschirme und Rechner herum. Die Devices wissen heute, wo ich jeweils bin. Also soll nur noch die Intelligenz mit mir mitkommen. Der Schriftsteller Ian Banks beschreibt das bereits in seinen Romanen. Entwicklungen wie Google Now oder Amazons Echo zeigen heute schon, dass wir uns in Richtung «Intelligence is Ubiquitous» bewegen. Derzeit wird aber die Menge an Geräten noch grösser, da die Technik noch nicht nahtlos integriert ist. Vielleicht wird das in 30 Jahren anders sein.

Wie wird sich das Thema Social Media Ihrer Meinung nach weiterentwickeln?

Wir entdecken heute wieder das, was wir eigentlich immer wussten: Der Mensch hatte schon immer den Wunsch nach Geselligkeit. Dieses Prinzip wiederholen wir online. Mit allen Auswirkungen wie der Unverbindlichkeit oder den sogenannten Flash-Trends. Das können etwa bestimmte Hashtags sein, die eine breite Öffentlichkeit erfahren und nach wenigen Wochen oder Monaten wieder verschwinden. Wir erleben derzeit auch eine starke Verbilligung von Kommunikation. Wir können günstig weltweit mit Menschen sprechen, ihnen mailen oder auf andere Weise Texte senden. Dadurch beschleunigen sich soziale Prozesse. Diese Beschleunigung erzeugt Feedbackschleifen, die wir nicht mehr kontrollieren können. Das System fängt an, zu oszillieren.

Was meinen Sie damit?

Es gibt Trends, die kommen, wieder gehen und wieder kommen. Etwa, weil jemand etwas entdeckt und hypt. Dieser Hype verschwindet wieder, bis ihn erneut jemand ausgräbt. Ein gutes Beispiel ist die Mode. Diese wird in immer kürzer werdenden Zyklen selbstreferenzieller. Was uns heute aber fehlt, ist das Verständnis dafür, wie wir in dieser beschleunigten Welt leben. Früher halfen Distanz und Langsamkeit beim Umgang mit Informationen. Heute verbreiten sich Informationen blitzartig. Daraus ergeben sich Probleme bei Unternehmen, etwa wenn sie in einen Shitstorm geraten. Ich glaube, dass die Grundlagenforschung hier helfen kann, indem sie diese dynamischen Systeme untersucht.

Was fasziniert Sie persönlich an der IT?

Es gibt in wenig anderen Disziplinen einen derart hohen Freiheitsgrad wie in der IT. Das einzige, das uns noch eingrenzt, ist unsere eigene Fantasie. Alles, was wir uns vorstellen können, können wir bauen. Das macht die IT zu einem grossartigen Arbeitsumfeld für alle, die kreative Ideen haben. Hinzu kommt, dass die Technik heute so weit ist, dass wir soziale Phänomene untersuchen und mitentwickeln können. Wir IT-Wissenschaftler können helfen, die Gesellschaft in einem Ausmass mitzugestalten, das lange nicht möglich war. Man könnte auch sagen: Wir bauen Welten.

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