Fachbeitrag

Virtual und Augmented Reality in der Industrie

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von Nicola Schlup, Managing Director, Nexum Schweiz

Während der letzten Monate haben die Themen Virtual und Augmented Reality viel Aufmerksamkeit erhalten, meist im Zusammenhang mit technischen Neuigkeiten und Bemühungen der amerikanischen Techgiganten.

Durch AR steht dem Techniker ein virtueller Helfer orts- und zeitunabhängig zur Seite. (Quelle: Nexum)
Durch AR steht dem Techniker ein virtueller Helfer orts- und zeitunabhängig zur Seite. (Quelle: Nexum)

In unserer aktuellen Ausgabe der VR-Reihe widmen wir uns dem industriellen Mittelstand und zeigen auf, wie die technischen Möglichkeiten für businessrelevante Ziele genutzt werden können. Die Schweiz und Deutschland verfügen im industriellen Sektor über eine beachtliche Anzahl an Hidden Champions, die das Potenzial von Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) breit gefächert nutzen können. Sei dies im Vertrieb, der Wartung oder beim Training.

Grosses mal ganz klein: AR im Vertrieb

Die AMB Messe für Metallverarbeitung in Stuttgart: 105 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche gefüllt mit grossen bis sehr grossen Industrieanlagen, die es zu präsentieren und verkaufen gilt. Der Transport ist sowohl eine logistische Herausforderung als auch eine finanzielle Belastung. Zusätzlich wird wertvolle Standfläche verschenkt, die besser genutzt werden könnte.

Erste Industrieunternehmen, wie etwa das Technologieunternehmen Trumpf, setzen auf AR-Applikationen, um einen Teil ihres Produktsortiments an Messen virtuell ausstellen und diese mit interaktiven Elementen ausstatten zu können. So lassen sich verschiedene Einsatzgebiete und Zustände der Maschinenanlagen simulieren. Ausser an Messen wird die Applikation auch für Vertriebsbesuche bei zukünftigen Abnehmern genutzt, so kann die Anlage gleich massstabsgetreu in der Produk­tionsanlage visualisiert und der Platzbedarf sowie die notwendigen Anschlüsse frühzeitig evaluiert werden.

Perfektion gesucht: AR im Betrieb

Sind die Gerätschaften erst einmal in Betrieb, gilt es, Ausfälle zu vermeiden oder zumindest die entstehenden Ausfallzeiten zu minimieren. Mittels Augmented Reality existieren erste Ansätze, um Ausfälle schneller als gewöhnlich zu beheben, sollten sie dennoch auftreten.

Bei komplexen Maschinenanlagen wird schnell ein entsprechender Experte seitens des Herstellers benötigt, der mit seinem Fachwissen und seiner Erfahrung auf der spezifischen Maschine das Problem identifiziert und löst. Lösungen wie Remote AR von Scope AR ermöglichen die Unterstützung durch den Experten, ohne dass dieser sein Büro verlassen muss. Mittels Tablet oder AR-Brille startet der Mitarbeiter an der Maschine die Bildübertragung an den externen Experten, der wiederum interaktiv Anweisungen zur Fehlerbehebung erteilt. Handzeichnungen wie auch Blueprints werden dem Mitarbeiter «augmented» auf seinem Tabletscreen dargestellt, sprich sie ergänzen das reale Bild des Mitarbeiters und ermöglichen es ihm, die umzusetzenden Schritte besser nachzuvollziehen.

Durch das Remote-Zusammenspiel entfällt die bisher übliche Reisezeit durch den Experten, die Ausfalldauer wird reduziert und die durch ungeschultes Personal an der Maschine entstehende Fehlerquote reduziert. Als Hardware kommen in der simpelsten Version Tablets zum Einsatz sowie für Premium-Zwecke Head-Mounted-Displays (HUD) wie etwa die Hololens von Microsoft oder seit Kurzem ­Googles Glass Enterprise Edition. Letztere wurde im Juli veröffentlicht und ist im Gegensatz zur gefloppten Vorgängerversion für B2B-Einsatzzwecke optimiert. Ausgesuchte Unternehmen konnten die Enterprise-Version während der letzten zwei Jahre testen, so etwa auch die Schweizerische Post.

Airbus setzt bei der Endmontage der A330-Kabineneinrichtung bereits seit 2015 eigens individualisierte AR-Brillen ein, welche die Mitarbeiter beim millimetergenauen Einbau unterstützen. Gemäss Airbus wurde die Zeit, die bisher für die Markierung der Einbauorte benötigt wurde, dank der Brille auf ein Sechstel reduziert.

Bei Boeing, wo Google Glass 2015 erstmals experimentell zum Einsatz kam, spricht man von der Reduktion der Produktionszeit um 25 Prozent und der der Fehlerquote um 50 Prozent. Bemängelt wurde von Boeing jedoch, dass noch nicht für alle gewünschten Einsatzgebiete die notwendige Genauigkeit erreicht werden konnte.

Ein Umstand, der sich in der Zwischenzeit mit der technologischen Entwicklung entschärft hat. So plant DHL nach den Tests, die Glass Enterprise Edition in rund 2000 Lagerhäusern weltweit einzuführen. Die neue Glass verfügt über einen schnelleren Prozessor, einen langlebigeren Akku, eine verbesserte Kamera, ein verlässliches WLAN-Modul und fällt zudem robuster aus. Die neu verbaute 8-Megapixel-Kamera wirkt sich dabei positiv auf die Positionierungsgenauigkeit von Objekten aus.

Die noch junge Kundenliste der Business-Glass ist bereits beeindruckend, und der Einstiegspreis von 1300 bis 1500 US-Dollar pro Brille macht sie auch für den Mittelstand interessant, sollte sie die Versprechen halten können. Bekanntlich ist die Hardware aber nur ein Teil des Puzzles. Die Softwarekosten variieren je nach Anforderung und Individualisierung stark.

Gewusst wie: VR im Training

Rund um Vertrieb und Wartung ist es die Augmented-Reality-Technologie, die bereits intensiv genutzt wird und der gerade im Industriesektor ein grosses Potenzial nachgesagt wird. Im Trainingsbereich, etwa an neuen Geräten oder für routinemässig durchzuführende Sicherheitsschulungen, hat Virtual Reality jedoch die Nase vorne.

So betreibt etwa Novazona im Raum Bern ein VR-Schulungszentrum, das exemplarisch für die Simulation von Gefahrensituationen am Arbeitsplatz genutzt wird. Simulationen, die bisher durch geschulte Mitarbeiter mit schauspielerischem Talent, in Echtzeit und dazu noch geografisch gebunden durchgeführt werden mussten. In der Industrie und in vielen anderen Bereichen, in denen eine oder mehrere ISO-Normen gelebt werden, sind derartige Routinechecks fester Bestandteil der Arbeit. Virtual Reality ermöglicht mit seiner immersiven Wirkung eine realistische Simulation und steigert dadurch die Trainingsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Reduktion des anfallenden Aufwands. Erste Trainingsinhalte gibt es zum Beispiel für das Löschen von ausgebrochenen Feuern im Gebäudeinneren.

Der Realitäts-Check in der Schweiz

Die Themen VR und AR kommen bei Schweizer Unternehmen, unabhängig ihrer Branchenzugehörigkeit, langsam aber sicher an. Diverse Anbieter von VR-Lösungen berichten von einer starken Zunahme der Kundenanfragen, die jedoch, was Reifegrad und Sinnhaftigkeit betrifft, sehr unterschiedlich ausfallen. So erfolgt gedanklich oftmals noch keine Trennung zwischen Hardware und Software. Seitens Anbieter und Kunden muss in den nächsten Jahren viel Zeit und Aufwand in die Sensibilisierung für das Thema investiert werden. Nur so werden VR- und AR-Lösungen entwickelt, die dem Benutzer auch tatsächlich einen Mehrwert liefern und nicht nur als Mittel zum Zweck dienen.

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