20 Jahre Netzwoche

Es war einmal die EDV – eine Geschichtsstunde

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Was früher EDV – also elektronische Datenverarbeitung – war, heisst heute ICT. Ein Rückblick in die Geschichte der Technologie von den 1980er-Jahren bis heute. Eines vorweg: Die Disintegration ist geblieben.

Philipp A. Ziegler, Geschäftsführer, MSM Research. (Source: Miklós Klaus Rózsa)
Philipp A. Ziegler, Geschäftsführer, MSM Research. (Source: Miklós Klaus Rózsa)

Ende der 80er-Jahre habe ich im Rahmen einer Workshop-Reihe mit führenden EDV-Herstellern die künftige Entwicklung des Marktes diskutiert. Die Anbieterwelt begann sich damals zusehends in Lösungs- und Technologie- respektive Komponentenanbieter (Rechner, Storage) aufzuteilen. Dabei entwarfen wir unterschiedliche Szenarien hinsichtlich der längerfristigen Entwicklung des Marktes und der Anbieterlandschaft im Speziellen.

Im Kern der Diskussionen ging es um die Fragen, wie sich der Markt in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten entwickeln könnte und welche Anbieter in der Lage sein würden, ihre Marktposition zu halten oder auszubauen. Es drehte sich nicht so sehr um die Frage, welcher der damaligen traditionellen Hersteller es wäre oder sein könnte, sondern vielmehr darum, welches die künftigen und entscheidenden Erfolgsfaktoren sein würden. Denn die absehbare Weltenteilung – oder von uns damals als Disintegration der Anbieterwelt bezeichnet – stellte die Hersteller vor grosse strategische Herausforderungen.

Der Fokus unserer Diskussionen in den Workshops war deshalb auf die Frage ausgerichtet, wie die künftige strategische Ausrichtung des Unternehmens zu gestalten sei, dies speziell im Hinblick auf das Leistungsportfolio und die primären Zielgruppen. Schon damals war absehbar, dass die Dominanz der traditionellen Rechnerhersteller unter anderem auch durch die an Bedeutung und Einfluss gewinnenden Softwareunternehmen zu bröckeln beginnen würde. Zudem zeichnete sich ab, dass die rasche Verbreitung des Personal Computers und dessen Nutzung im privaten und geschäftlichen Umfeld den EDV-Markt nachhaltig auf den Kopf stellen würde.

Das Computergeschäft

Die Mehrzahl der in den 80er-Jahren führenden Anbieter gehörten dem Lager der Rechnerhersteller an. Dazu zählten unter anderem Digital Equipment Corporation (kurz DEC), Hewlett-Packard (HP), Wang, Data General, Bull, Siemens Nixdorf Informationssysteme (SNI) Apollo, Compaq, NCR, Unisys (Fusion Sperry und Burroughs 1986), Control Data Corporation (CDC) und auch IBM. Die Aufzählung erhebt übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit und entspricht auch nicht der Rangliste ihrer Marktpositionierung zur damaligen Zeit.

Die Mehrheit dieser Anbieter hatte sich in den Boomjahren der EDV eine treue Kundenbasis geschaffen, die zudem durch hauptsächlich proprietäre Betriebssysteme und Lösungen gegen Akquisition und Abwerbung durch Mitbewerber weitgehend geschützt waren. Erst mit der zunehmenden Standardisierung der Rechner- und Betriebssysteme haben sich den Verantwortlichen Wege eröffnet, diesen Vendor-Lock-in zu überwinden.

Es war absehbar, dass kein Hersteller auf lange Sicht das Businessmodell des Komplettanbieters (Hardware, Software und Services) verteidigen könnte. Die zunehmende Bandbreite an Systemsoftware und vor allem an Businesslösungen verlangte nach einem auf Branchenwissen und betriebswirtschaftlichem Know-how ausgerichteten Marketing- und Vertriebsansatz. Rechner wurden im Laufe der Jahre zu einem austauschbaren Produkt, zur Commodity in einem Massengeschäft. Das sich daraus entwickelnde Boxmover-Business, das zunehmend über Drittkanäle, den Channel, abgewickelt wurde, war gekennzeichnet durch grosse Absatzmengen und geringer werdende Margen. Der Hersteller hatte nur noch einen losen, wenn nicht sogar anonymen Kundenkontakt, vielleicht abgesehen von der Key-Account-Ebene, auf der die grössten Kunden direkt und persönlich betreut wurden. Das Massengeschäft mit austauschbaren Produkten hatte auch zu einem austauschbaren Marketing und Argumentarium geführt. Sich entsprechend zu differenzieren, wurde für die Hersteller immer schwieriger. Wenn überzeugende Argumente und einzigartige Produktfeatures fehlen, setzt der Preiskampf und damit die Preiserosion ein.

Das Lösungsgeschäft

Anders die Entwicklung des Lösungsgeschäfts: Gekennzeichnet durch einen engen Kundenkontakt, basierte die Strategie der Anbieter auf einem stark mehrwertorientierten Businessmodell, das sich vorab Softwareunternehmen, Outsourcer, Integratoren und Beratungsunternehmen auf die Fahne geschrieben haben.

Und so teilte sich der EDV-Markt zusehends in zwei Universen: in die Welt der Komponentenhersteller und in die der Lösungsanbieter. Nur wenigen grossen Anbietern gelang es zumindest ansatzweise, die bislang verfolgte Strategie des Komplettanbieters erfolgreich weiterzuführen. Viele der genannten traditionellen Hersteller sind vom Markt verschwunden oder haben durch Übernahmen ihre Identität und einstige Bedeutung verloren. Zwischen den Antipoden der Disintegration ist kein Überleben möglich.

Die Disintegration

Der EDV-Markt Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre war in einige wenige grosse Segmente unterteilt, dominiert von den beiden Kernbereichen der Disintegration, der Hardware (Mainframes, Server, PCs, Workstations und Storage) und der Software (Systemsoftware und Anwendungen). Rund zwei Drittel der Projektausgaben und Investitionen der Schweizer Unternehmen entfielen zu dieser Zeit auf die Hardwareumgebungen und die dazugehörige Software. Für Professional Services wurde nur rund jeder vierte Franken des Budgets ausgegeben. Heute haben die an Umfang und Bandbreite massiv zugelegten Services einen Anteil von knapp zwei Drittel an den gesamten Ausgaben. Zusammengenommen bewegten sich die gesamten B2B-Ausgaben im Schweizer EDV-Markt gegen Ende der 80er-Jahre noch deutlich im einstelligen Milliarden-Bereich, erst zum Jahrtausendwechsel überstiegen sie dann die 10-Milliarden-Franken-Grenze.

Die Jahrtausendwende

Ende der 90er-Jahre war auch die Zeit des Aufbruchs der EDV in eine neue Ära, zu einem neuen Weltbild, in dessen Zentrum sich die Netze und das Internet als Drehscheibe der New Economy ihren Platz eroberten. Die Investitionen bewegten sich zusehends weg vom Desktop hin zum Netz, die Bandbreite wurde wichtiger als die CPU-Leistung, und die Information als Produktionsfaktor hat Einzug in die Strategieentwicklung der Unternehmen gehalten. Und auf der EDV-Betriebsseite entwickelte sich eine steigende Bereitschaft zur Auslagerung der Informatik. Der Big Shift von intern zu extern, der Paradigmenwechsel im EDV-Betrieb nahm seinen Lauf.

Heute

Heute präsentieren sich unter dem Oberbegriff des ICT-Marktes Segmente mit eigenständigen Ausprägungen, Regeln, Gegebenheiten und Erfolgsfaktoren für entsprechende Anbieter. Dazu zählen wir beispielsweise den Security-Markt, die Cloud, die Mobility, Analytics, künstliche Intelligenz, Internet of Things oder auch Blockchain. Themen und Märkte, die nicht mehr auf ICT-Produkte und -Lösungen reduziert werden können. Gerade die Digitalisierung wirbelt die ehemals festgeschriebenen und klar umrissenen Grenzen des Marktes weiter durcheinander und schafft neue Strukturen und Bereiche. Und letztlich auch neue Anbieter in Segmenten, die sich nach dem Gesetz der Weltenteilung wieder trennen werden. Die Evolution und Disintegra­tion und die Geschichte der EDV, heute ICT, geht weiter.

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