Interview mit Anna Maria Blengino

Warum Sunrise nicht alle Daten in der Cloud lagert

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"Wir beantworten die Fragen der Zeit neu und entwickeln die Dienstleistungen von morgen" – so umschreibt Telko Sunrise die Arbeit seiner IT-Abteilung. An deren Spitze steht Anna Maria Blengino. Im Gespräch verrät sie, wie Sunrise auf KI, die Cloud und Diversität setzt.

Anna Maria Blengino, CIO, Sunrise. (Source: zVg)
Anna Maria Blengino, CIO, Sunrise. (Source: zVg)

Wie ist die IT-Organisation von Sunrise strukturiert?

Anna Maria Blengino: Unsere IT gliedert sich in folgende Bereiche: «Strategie, Innovation und Governance» bestimmt die langfristige IT-Roadmap, koordiniert Partner und überwacht die Finanzgovernance. «Delivery Management» sorgt für die Umsetzung von IT- und Businessprojekten, inklusive Risiko- und Ressourcenmanagement. «Platforms Build» entwickelt unsere digitalen Benutzer- und Back-End-Plattformen weiter. «IT Operations und Infrastructure» sichert den täglichen Betrieb und die digitalen Arbeitsplätze, fokussiert auf Automatisierung, Standardisierung und KI-Effizienz. «Business Continuity Management und Assurance» stellt schliesslich die Ausfallsicherheit der IT-Systeme sicher und hilft bei Störungsbehebungen. Diese Struktur sichert operative Exzellenz und eine agile IT-Unterstützung des Unternehmens.

Abgesehen von Ihnen als CIO gibt es bei Sunrise noch einen CTO. Wie teilen Sie sich Ihre Aufgaben auf?

Bei Sunrise ergänzen sich CIO und CTO mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Unser CTO verantwortet Netzwerkdienste wie Mobilfunk, Konnektivität und Unterhaltung sowie Netzwerkinfrastruktur, Sicherheit und Management der Rechenzentren. Als CIO unterstütze ich das Unternehmen von innen. Dazu gehört das Management unserer IT-Infrastrukturen – Server, Cloud-Plattformen, Speichersysteme, Betriebssysteme und Datenbanken. Zudem manage ich die Geschäftsplattformen, die kunden­orientierte Kanäle – Telefonie, Web, Apps – und Back-End-Systeme abdecken. Der digitale Arbeitsplatz für die Mitarbeitenden mit Kommunikationsmitteln und Support ist ebenfalls meine Aufgabe. 

Wie arbeiten Sie bei sich überschneidenden Themen zusammen?

CIO und CTO arbeiten sehr eng und effizient zusammen und sind in Bezug auf Strategie, Roadmap und Geschäftsziele optimal aufeinander abgestimmt. Bei thematischen Überschneidungen tauschen wir kontinuierlich Best Practices aus und teilen technologisches Know-how miteinander. So stellt die CIO-Abteilung beispielsweise IT-Infrastrukturdienste zur Unterstützung von Netzwerkanwendungen des CTO bereit.

Wie packen Sie Fragen zur Cybersecurity an?

Cybersecurity ist bei Sunrise eine funktionsübergreifende Disziplin. Der integrierte Ansatz stellt sicher, dass es keine Rolle spielt, wo das Thema Sicherheit organisatorisch angesiedelt ist. Wichtig ist, dass sie allen Abteilungen einheitliche Leitlinien und ein starkes Kontrollsystem bietet. Mit regelmässigen Schulungen und Sensibilisierungsmassnahmen sichern wir das gemeinsame Verständnis. Unsere Schutzmassnahmen entwickeln wir kontinuierlich weiter, um stets einen Schritt voraus zu sein und die ­Resilienz der Organisation zu stärken.

Welche zentralen Themen treiben Sie und Ihr Team derzeit um?

Unsere IT-Strategie beruht auf kundenorientierter Innovation, operativer Effizienz, Infrastrukturmodernisierung und digitaler Transformation – eng abgestimmt auf die Geschäftsziele: So migrieren wir etwa Kernanwendungen und Workloads konsequent in die Cloud, um Skalierbarkeit, Agilität und Kosteneffizienz zu erhöhen – insbesondere für latenzempfindliche Anwendungen. Eine einheitliche Datenplattform aggregiert Daten aus unterschied­lichen Quellen, wie Kundeninteraktionen, Netzwerk­leistung oder der Rechnungsstellung. Mit KI- und Machine-Learning-Modellen gewinnen wir Erkenntnisse zur weiteren Personalisierung der Kundenerlebnisse, können Wartung vorausschauend gestalten und Betrug erkennen. Weitere technische Projekte sind unsere Selfservice-Portale und Apps mit KI-basierten Empfehlungen, Automatisierungen und KI-Lösungen für Backoffice-Prozesse, ein API-Ökosystem für Drittentwickler und Partner sowie ständige Optimierungen des digitalen Arbeitsplatzes mit der Microsoft 365 Suite und KI-gesteuerten Tools für mobile und stationäre Arbeit. Zudem investieren wir viel in Mitarbeitende mit Weiterbildung, Hochschulkooperationen und Berufsbildungsprogrammen, um ein divers aufgestelltes und innovatives Team zu erhalten.

2024 kündigte Sunrise eine Partnerschaft mit AWS an, um KMUs auf ihrer Cloud-Reise zu unterstützen. Wo steht diese Partnerschaft heute? Und welche Rolle spielt Sunrise dabei?

Seit dem Start vor etwas mehr als einem Jahr ist die Zusammenarbeit mit AWS sehr erfolgreich. Wir verstehen uns nicht als einfacher Reseller, sondern als strategischer Partner, der die technologischen Möglichkeiten von AWS mit lokaler Marktkenntnis, regulatorischem Know-how und End-to-End-Unterstützung kombiniert. KMUs schätzen einen Ansprechpartner, der sowohl die Anforderungen in der Schweiz kennt als auch Zugang zu führender Cloud-Technologie bietet. Wir entwickeln Servicepakete und Kompetenzen kontinuierlich weiter, um noch mehr kleine und mittlere Unternehmen auf ihrer Cloud-Reise zu begleiten und messbare Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen.

Wie hält es Sunrise selbst mit der Cloud? Sind all Ihre Daten in der Wolke?

Die Cloud ist für uns ein zentraler Hebel zur Steigerung von Agilität, Skalierbarkeit und Innovation. Wir verfolgen jedoch eine pragmatische Herangehensweise und prüfen jeden Fall einzeln hinsichtlich technischer Machbarkeit, Wirtschaftlichkeit und regulatorischer Rahmenbedingungen. Nicht alle unsere Daten befinden sich in öffentlichen Cloud-Umgebungen. In einigen Fällen nutzen wir hybride Modelle, um sensible Daten auch lokal in unseren eigenen Rechenzentren zu halten. Altplattformen, die keinen Mehrwert durch Migration bringen, betreiben wir weiterhin on-premise, bis sie abgelöst werden. Sicherheits- und Compliance-Anforderungen stehen bei allen Cloud-Einsätzen an erster Stelle.

Was spricht gegen eine vollständige Verlagerung in die Cloud und welche On-Prem-Infrastrukturen betreiben Sie noch?

Nicht alle Applikationen profitieren von einer reinen Cloud-Strategie. Sicherheits- und Datenschutzaspekte, gesetzliche Vorgaben bezüglich Datenspeicherung, Latenz- und Verfügbarkeitsanforderungen sowie Kostenstrukturen sprechen gegen eine vollständige Verlagerung. Zudem führt die Abhängigkeit von stabilen Internetverbindungen im Cloud-Betrieb zu Einschränkungen bei zeitkritischen Anwendungen. Sunrise verfolgt deshalb eine Hybrid- und Multi-Cloud-Strategie, die optimale Flexibilität, Compliance und Kosteneffizienz miteinander verbindet.

Eine neuere Partnerschaft ist jene zwischen Sunrise und Perplexity. Warum hat sich Sunrise gerade für diesen Anbieter entschieden?

Uns war wichtig, unseren Kundinnen und Kunden modernste KI-gestützte digitale Erlebnisse zu bieten. Perplexity punktet als führende Such- und Informationsplattform mit Echtzeitinformationen, Quellenangaben und einem dialogorientierten Ansatz. Für uns war entscheidend, dass wir mit dieser Partnerschaft unser bestehendes Angebot um ein hochmodernes, digitales Tool erweitern können, das den Alltag unserer Kundinnen und Kunden spannender, effizienter und smarter macht. Wir schenken allen Privatkunden mit Abo ein einjähriges Perplexity Pro-Abo – damit honorieren wir ihre Treue und schaffen echten Mehrwert durch Innovation.

Was haben Sunrise-Kunden sonst noch für konkrete Vorteile durch KI?

KI ermöglicht personalisierte und schnellere Services, indem sie individuelle Anliegen erkennt und proaktiv Lösungen vorschlägt. Im Kundensupport reduzieren wir Wartezeiten und erhöhen die Zufriedenheit. Auch im Einkauf optimieren KI-gestützte Analysen Produktempfehlungen und Angebote, sowohl online als auch in den Shops. Durch Ursachenanalysen beugen wir erneutem Auftreten von Problemen vor, verbessern so die Servicezuverlässigkeit und schaffen nachhaltige Kundenzufriedenheit.

Welche KI-Anwendungen setzen Sie intern ein und von wem stammen diese Lösungen?

Wir nutzen ein breites Portfolio von KI-Technologien, darunter Predictive AI für Vorhersagen, generative KI zur Inhaltserstellung und agentenbasierte KI für komplexe Prozesse. Unsere KI-Initiativen konzentrieren sich auf drei Schlüsselbereiche: Care und Sales Agent Assistance: Unterstützung der Mitarbeitenden mit prädiktiven Analysen und besseren Informationen; Netzwerkbetrieb: KI begleitet den gesamten Lebenszyklus von Planung bis Optimierung des Mobilfunk- und Festnetzes; Mitarbeitererfahrung: KI-Tools erleichtern Wissensrecherche, Content-Erstellung und Qualitätssicherung. Wir kombinieren kommerzielle KI-Plattformen mit eigenen Frameworks und arbeiten eng mit Hyperscalern, Dienstleistern und Softwareanbietern zusammen. Die Steuerung passiert über unsere AI Community of Practice, die Strategie, Priorisierung und Governance verantwortet.

Wird KI bereits in Sunrise Callcentern eingesetzt?

Ja, mit einem KI-basierten Sprachsystem können Anrufende unserer Hotline ihre Anliegen mündlich schildern, was die Navigation erleichtert und Wartezeiten verkürzt. Mitarbeitende erhalten in Echtzeit Unterstützung zur personalisierten Betreuung und verkaufsorientierten Empfehlungen. Die automatisierte Anrufkategorisierung verbessert die Problemlösung beim ersten Kontakt. Für digitale Supportanfragen setzen wir zudem KI-Chatbots ein, die 24/7 schnelle und effiziente Hilfe bieten.

Verfolgen Sie mit KI nur Effizienzziele oder auch andere Zwecke?

KI geht bei Sunrise weit über die Effizienzsteigerung hinaus. Sie ist ein strategischer Treiber der ganzheitlichen Transformation. Wir verbessern den Kundenservice mit Echtzeit-Insights, optimieren Netzwerke für maximale Ausfallsicherheit und unterstützen Mitarbeitende mit intuitiven KI-Tools, die Aufgaben wie Wissen abzurufen, Inhalte zu erstellen und Qualitätssicherung zu betreiben vereinfachen. Ziel ist es, Personalisierung, Innovation und Produktivität auf allen Ebenen zu erhöhen.

Mit welchen weiteren Technologien experimentieren Sie neben KI?

Abgesehen von KI testen wir aktuell Cloud-native Architekturen und Microservices zur Steigerung von Agilität und Innovationstempo. Zudem untersuchen wir die Integration von IT-Systemen mit 5G und Edge-Computing, um Dienste mit geringer Latenz und dynamischem Network Slicing für IoT und Unternehmen anzubieten. Ein Schlüsselbereich ist auch intelligente Automatisierung. Wir nutzen Orchestrierungstools, um komplexe Workflows zu optimieren und manuelle Eingriffe zu reduzieren. Aktuell setzen wir auch unsere API-First-Strategie für schnelle Partnerintegration und Wachstum in offenen Ökosystemen um und testen immersive Technologien wie Augmented Reality in Shops und hyperpersonalisierte Self-Service-Lösungen zur Kundenbindung.

Als Frau gehören Sie (noch immer) zu einer Minderheit unter den hiesigen CIOs. Sie sind bereits viele Jahre in der Branche unterwegs. Inwiefern ist die Branche Ihrer Meinung nach offener oder attraktiver für Frauen geworden?

Im Laufe der Jahre habe ich bedeutende Fortschritte in der Herangehensweise der Tech-Branche an die Geschlechter-Diversität beobachtet – sowohl in der Denkweise als auch in der Umsetzung. Heute ist das Bewusstsein für den Mehrwert, den unterschiedliche Perspektiven für Führung und Innovation mit sich bringen, weit verbreitet. Unternehmen fördern zunehmend inklusive Einstellungsprozesse, Mentoring-Programme und flexible Arbeitsmodelle, die dazu beitragen, den Tech-Bereich für Frauen zugänglicher und attraktiver zu gestalten. Trotz dieser Verbesserungen sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert – insbesondere in technischen Führungspositionen. Es gibt wohl Fortschritte, aber diese vollziehen sich gerade an der Spitze oft langsamer. Eine anhaltende Herausforderung besteht nicht nur darin, Frauen in die Branche zu bringen, sondern sie auch zu halten und zu fördern. Strukturelle Hindernisse, unbewusste Vorurteile und das Fehlen sichtbarer Vorbilder können Frauen nach wie vor davon abhalten, Führungspositionen wie die einer CIO anzustreben – oder zu erreichen. Ich bleibe aber optimistisch. Persönlich habe ich von Netzwerken und zukunftsorientierten Kolleginnen und Kollegen profitiert und glaube, dass es Teil unserer Verantwortung als Führungskräfte ist, der nächsten Generation Türen zu öffnen. Je üblicher es wird, Frauen in Führungspositionen der Tech-Branche anzutreffen, desto attraktiver und erreichbarer wird dies auch für andere.

Wie hoch ist der Frauenanteil in der IT bei Sunrise und wie ­fördern Sie ihn?

Der Frauenanteil liegt leicht unter dem Schweizer Tech Industry Benchmark, es gibt noch Potenzial nach oben. Wir sind uns dessen bewusst und setzen uns aktiv für mehr Geschlechtergleichheit auch in der IT-Abteilung ein. Grundlage sind eine klare Transparenz im Sinne von «What you treasure, you measure» sowie Ambitionen und konkrete Massnahmen. Wir setzen auf eine aktive Förderung, weil wir überzeugt sind, dass gemischte Teams bessere Resultate bringen. Wir sind insbesondere sehr stolz, dass unsere Tech-Graduates ausgeglichen 50 Prozent Frauen und 50 Prozent Männer ausmachen. So sollte gelebte Geschlechtergleichheit aussehen. Wir fördern unsere Talente weiter und bieten etwa Mentoring-Programme an, die Mitarbeitende in ihrer beruflichen Entwicklung begleiten. Flexible Arbeitsmodelle unterstützen zudem die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.

Was müsste sich noch ändern und wer trägt die Verantwortung?

Die Hauptverantwortung liegt bei der Führung – auch bei mir als CIO. Es braucht klare Zielsetzungen, Fortschrittsmessungen und eine gelebte Unternehmenskultur, die Diversität integriert. Sichtbarkeit weiblicher Führungskräfte, gezielte Förderung von Nachwuchstalenten und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleiben zentrale Themen. Inklusion ist keine HR-Aufgabe allein, sondern eine tägliche Führungsaufgabe, die wir konsequent verfolgen und vorleben müssen.


Zur Person
Anna Maria Blengino amtet seit April 2023 als Chief Information Officer von Sunrise. Sie ist seit 2005 für den heute zweitgrössten Telko der Schweiz tätig, allerdings mit einer fünfjährigen Unterbrechung. Zu ihren weiteren beruflichen Stationen gehören die Grossbank UBS und der Technologiekonzern Atos. Sie hat einen Master-Abschluss in Ingenieurwesen vom Polytechnikum Turin und ein ­INSEAD-Diplom in Executive Leadership Business Administration and Management.

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