Darum wollen Datenschützer die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum stoppen
Der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware im öffentlichen Raum ist weltweit auf dem Vormarsch. Datenschützer und Datenschützerinnen sowie Politiker und Politikerinnen wollen nun die biometrische Überwachung in der Schweiz verbieten.
Eine Allianz aus Menschenrechts- und Datenschutzorganisationen fordert ein Verbot von Gesichtserkennung und biometrischer (Massen-)Überwachung in der Schweiz. Gemeint ist die automatische Identifikation von Menschen im öffentlichen Raum anhand persönlicher Merkmale wie Gesicht, Gangart, Augen oder Stimme. Die Nichtregierungsorganisation Amnesty International, Algorithmwatch Schweiz und Digitale Gesellschaft lancieren am Donnerstag gemeinsam eine Petition für ein solches Verbot.
"Grundrechte schützen – Gesichtserkennung stoppen"
Mit automatisierten Gesichts- oder Ganganalysen können einzelne Menschen in einer Menschenmenge, beispielsweise während einer Demonstration, identifiziert werden. Hierzu erfolgt ein Abgleich mit den in einer Datenbank hinterlegten biometrischen Daten.
Umstrittene Software-Firmen wie das US-Unternehmen Clearview AI besitzen laut Eigenaussage mehrere Milliarden Porträtbilder, die teils von sozialen Netzwerken abgeschöpft wurden. Solche Firmen verkaufen ihre Überwachungssoftware an Strafbehörden weltweit – auch in die Schweiz. Diese Überwachungsmaschinen eröffnen Behörden und Privaten die Möglichkeit, den öffentlichen Raum rund um die Uhr automatisiert zu überwachen. "Wenn wir im öffentlichen Raum mittels Gesichtserkennungssystemen jederzeit identifiziert oder verfolgt werden können, verletzt dies die Privatsphäre und schreckt Menschen davon ab, an Demonstrationen teilzunehmen oder ihre Meinung offen zu äussern", sagt Angela Müller von Algorithmwatch.
Die grösste Gefahr drohe "durch eine Kombination von Videoüberwachung und Gesichtserkennung", schreiben die Organisationen in einer gemeinsamen Mitteilung. Sie lancieren daher heute die Kampagne "Grundrechte schützen – Gesichtserkennung stoppen", die auf die Gefahren der neuen Technologien aufmerksam machen soll.
Widerstand gegen Gesichtserkennung wächst
Gleichzeitig fordern Politikerinnen und Politiker in Lausanne und Zürich, dass ihre Städte auf biometrische Überwachung verzichten sollen, da diese Technologien für Massenüberwachungszwecke missbraucht werden könnten und somit "fundamentale demokratische Prinzipien unterwandert" würden. Gesichtserkennung im öffentlichen Raum verletze nicht nur die Privatsphäre, sondern halte Menschen auch von ihren Grundrechten wie der Meinungsäusserungs- oder Versammlungsfreiheit ab.
Lausanne und Zürich wären mit dem Verbot nicht alleine: Als erste Stadt in den USA hat San Francisco 2019 den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien durch Behörden verboten.
In China sind Überwachungskameras in Städten teils omnipräsent. Der Lesart des Regimes zufolge sollen so vermisste Personen oder Terroristen aufgespürt werden. Allerdings wird mit Software, die Gesichter oder die Gangart erkennen kann, auch die muslimische Minderheit der Uiguren auf Schritt und Tritt überwacht und unterdrückt. Die Gesichtserkennungstechnologie ist so programmiert, dass sie Uiguren aufgrund ihres Aussehens herausfiltern kann.
Doch die biometrische Überwachung der Bevölkerung ist längst nicht mehr auf autoritäre Staaten wie China oder Russland beschränkt. 2019 erlaubten 109 Länder automatisierte Gesichtserkennung zu Überwachungszwecken, davon 32 in Europa, wie Surfshark recherchierte.
Auch in der Schweiz setzen mehrere Polizeikorps ohne klare Gesetzesgrundlage automatisierte Gesichtserkennungssoftware ein. "Das ist ein besorgniserregender Schritt zu einer flächendeckenden und permanenten Massenüberwachung, bei der nicht nur Schwerverbrecher und Schwerverbrecherinnen ins Visier geraten, sondern die gesamte Bevölkerung", sagt Erik Schönenberger, Geschäftsleiter Digitale Gesellschaft.
Massenüberwachung durch biometrische Daten in der Schweiz?
Der Aargau experimentiert wie andere Kantone mit automatisierter Gesichtserkennung. Von drohender Massenüberwachung will man nichts wissen: "So etwas ist bei uns reine Fiktion", sagte André Gloor, Chef des Lage- und Analysezentrum der Kantonspolizei Aargau dem Tages-Anzeiger. Die Software bedeute primär eine Zeitersparnis. Anders als in China setze der Datenschutz bei uns enge Grenzen.
Das sehen Amnesty International, Algorithmwatch CH und die Digitale Gesellschaft anders: Sie verweisen auf Untersuchungen, die belegen sollen, dass sich der Einsatz von Gesichtserkennungssystemen in Europa rasant ausbreitet. Insofern sei zu erwarten, dass biometrische Überwachung bald auch bei uns zunehmend eingesetzt werde. Die Netzaktivistinnen und Datenschützer befürchten, dass die Politik dafür den Weg bereitet oder diese Technologien in der rechtlichen Grauzone zunehmend zum Einsatz kommen. Nur ein klares Verbot könne dies verhindern.
Kaum ein Land in Europa verzichtet vollständig auf Gesichtserkennung zu Überwachungszwecken. (Source: Surfshark)
In einer dystopischen Zukunft erkennen Kameras und Computersysteme automatisch jeden Fehltritt und senden auch gleich eine Busse nach Hause. Aber was, wenn sich die Software geirrt hat und man gar nicht auf dem Bild ist?
Biometrische Überwachungssysteme stehen schon lange in der Kritik, weil sie nicht fehlerfrei arbeiten und Unschuldige ins Visier der Justiz geraten können. Die Software erkenne insbesondere Menschen mit dunkler Hautfarbe schlechter, es komme daher bei ihnen häufiger zu fälschlichen Identifizierungen.
Die Kritik ist aber auch grundsätzlicher Natur: Das Missbrauchspotenzial sei viel zu gross und das Gebot der Verhältnismässigkeit werde verletzt. Letzteres, weil grundsätzlich alle permanent überwacht werden könnten, auch ohne Straftat.
Datenschützer betonen zudem, dass neue Überwachungsmethoden bei den Strafermittlern stets neue Begehrlichkeiten weckten. Was technisch möglich sei, werde genutzt. Die Rechtsgrundlage werde zur Not auch erst später geschaffen. Die nun lancierte Petition soll Gesichtsüberwachung im öffentlichen Raum verhindern, bevor das Rad nicht mehr zurückgedreht werden kann.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Watson.ch