Martine Bourqui-Pittet im Interview

Warum E-Health Suisse keinen EPD-Reset plant

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Als zentrale Stelle auf Bundesebene verwaltet eHealth Suisse die Einführung des elektronischen Patientendossiers. Seit einem halben Jahr leitet Martine Bourqui-Pittet die Geschäftsstelle. Im Interview erklärt sie, warum sie trotz holperigem Start keinen Relaunch des EPD in Betracht zieht.

Martine Bourqui-Pittet, Leiterin, eHealth ​​​​​​​Suisse. (Source: zVg)
Martine Bourqui-Pittet, Leiterin, eHealth ​​​​​​​Suisse. (Source: zVg)

Sie leiten die Geschäftsstelle von eHealth Suisse seit November 2022. Wie blicken Sie auf Ihre ersten sechs Monate zurück?

Martine Bourqui-Pittet: Es war sehr intensiv und vor allem abwechslungsreich. Es gibt sehr viele Beteiligte und ich habe sicherlich noch nicht alle kennengelernt, aber ich freue mich darauf, weiterhin mit sehr engagierten Menschen zusammenzuarbeiten. Vor allem schätze ich die grosse Diversität der Gesprächspartner: Gesundheitsfachpersonen, Stammgemeinschaften, IT-Anbieter etc.

Die Schweizer Bevölkerung ist skeptisch bezüglich E-Health. Die Hälfte der Bevölkerung möchte nicht, dass man Gesundheitsdaten digital erfasst und ­weitergibt, wie eine Befragung von Deloitte zeigte. Wie soll sich das ändern? 

Es ist verständlich, dass man gerne die Kontrolle über seine Daten und insbesondere seine Gesundheitsdaten hat. Darum ist es sehr wichtig, dass wir vertrauliche Daten auch vertraulich behandeln. Aus diesem Grund legen wir grossen Wert auf den Datenschutz und arbeiten mit zertifizierten Anbietern zusammen. Die hierfür genutzte Infrastruktur muss auf einem soliden Fundament stehen.

Seit Mai 2021 können Schweizerinnen und Schweizer elektronische Patientendossiers eröffnen. Wie viele haben dies inzwischen getan?

Derzeit haben etwas mehr als 18 000 Personen ein EPD eröffnet. Im Mai 2021 gab es nur einige wenige Eröffnungsstellen, im Kanton Aargau und in der Westschweiz. Seitdem sind einige neue dazugekommen und der Eröffnungsprozess wurde vereinfacht, beispielsweise ist nun auch eine Online-Eröffnung möglich. Einige Stammgemeinschaften sind erst seit 2022 in Betrieb. Das EPD befindet sich also noch in den Kinderschuhen.

Die Zahl eröffneter EPDs liegt also nach wie vor im unteren fünfstelligen Bereich. Warum ist das EPD ein solcher Misserfolg? 

Ich fände es schade, von einem Misserfolg zu sprechen. Die Einführung einer solchen Initiative braucht Zeit, insbesondere um die Sicherheit der Daten zu gewährleisten. Darüber hinaus ist das EPD noch nicht wirklich bekannt. Es ist noch ein Baby und muss noch wachsen. Ich glaube, es wäre besser, erst in ein bis zwei Jahren Bilanz zu ziehen und dann zu urteilen, ob es ein Erfolg oder ein Misserfolg war. In der Zwischenzeit haben sich bereits eine Reihe von Institutionen wie Spitäler und Pflegeheime sowie andere Dienstleister angeschlossen.

Nicht selten bezeichnet man das EPD-Konzept despektierlich als "PDF-Friedhof". Was sagen Sie dazu?

Das EPD bietet eine gesicherte Austauschplattform, und ich finde, dass dies bereits ein Fortschritt ist gegenüber dem heute sehr verbreiteten, aber unsicheren Austausch von medizinischen Daten per E-Mail. Auch Papierakten sind häufig nicht ausreichend geschützt. Wir arbeiten derzeit an Austauschformaten; dies wird ein klarer Vorteil gegenüber PDF-Dateien sein. Das erste sogenannte Austauschformat – der elektronische Impfausweis – ist fertig entwickelt und wird in den kommenden Monaten in den verschiedenen Stammgemeinschaften implementiert. 2024 folgt der Medikationsplan, weitere strukturierte Datenformate werden folgen. 

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Nutzerinnen und Nutzern des EPDs? Was haben die User konkret davon?

Die Leute schätzen es, dass ihre Daten sicher hinterlegt sind und bei Bedarf jederzeit abgerufen werden können. Das System ist aktuell jedoch noch zu kompliziert und der Weg bis zur Eröffnung eines EPDs zu lang. Ausserdem sind derzeit noch zu wenige Dienstleister angeschlossen, um einen echten Mehrwert zu erzielen.

Auch bei Gesundheitsfachpersonen hatte das EPD ­zuweilen einen schweren Stand. Hat sich die Situation­ inzwischen verbessert?

Die Gesundheitsfachpersonen sind sich der Vorteile des EPDs bewusst. Auch sie begrüssen den vereinfachten Zugang zu den Informationen ihrer Patientinnen und Patienten. Die Schwierigkeit besteht derzeit darin, dass die IT-Systeme der Praxen und Kliniken oft keine tiefe Integration des EPDs bieten. Ohne die tiefe Integration werden die Daten nicht automatisch in das IT-System der Praxis oder Klinik integriert, sondern müssen einzeln von der EPD-Plattform in das IT-System der User geladen werden. Zudem wird der Mehrwert des Informationsaustauschs erst bei Erreichen einer kritischen Nutzermasse spürbar, also wenn genügend Patientinnen und Patienten sowie Leistungserbringer mitmachen. 

Experten äussern sich nach wie vor kritisch zum EPD. Jürg Lindenmann, Geschäftsführer von Health-IT, plädiert beispielsweise für einen konsequenten Reset auf politischer Ebene. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Damals war die politische Entscheidung eine andere und das System wurde dezentralisiert aufgebaut. Jetzt wieder bei null anzufangen, hätte den Vorteil, die organisatorische und technische Struktur zu vereinfachen, aber es würde wieder einige Jahre Zeit und viel Geld kosten. Darüber hinaus sind mehrere Kantone bei der Implementierung des EPDs bereits weiter fortgeschritten. Wir werden daher keinen Reset durchführen.

Schon vergangenes Jahr entschied der Bund, das EPD bekannter zu machen. Was ist das Resultat dieser Kampagnen?

Es gab bisher noch keine Kampagne. Zwar wurde diese von einigen Seiten schon lange erwartet, aber wir konnten nicht über einen Service informieren, der noch nicht existierte. Heute haben wir ein funktionsfähiges Produkt, das zwar noch Optimierungspotenzial hat, aber einsatzbereit ist. Wir werden daher in diesem Jahr eine nationale Kampagne lancieren.

Für die Zukunft liebäugelt der Bund mit einer Opt-out-Lösung für das EPD. Was würde dies für die Stammgemeinschaften bedeuten? Könnten sie den damit verbundenen administrativen Aufwand überhaupt stemmen? 

Dies ist eine Option, die im Rahmen der Überarbeitung des EPDG vorgeschlagen wurde. Es bleibt abzuwarten, was aus diesem Vorschlag wird. Das Gesetz wird ohnehin nicht vor 2028 in Kraft treten. Es bleibt also genügend Zeit für die Vorbereitung.

eHealth Suisse will sich gemäss Website im Bereich des mobilen Datenaustauschs im Gesundheitswesen einsetzen. Welches sind hier die dringendsten Probleme?

Wir müssen sicherstellen, dass die Weiterleitung medizinischer Daten effizient und sicher erfolgt. Zudem müssen wir auch eine gemeinsame Terminologie sicherstellen. Die medizinischen Informationen müssen unverändert und unmissverständlich weitergeleitet werden. Nur wenn klinische Daten standardisiert erfasst werden, können sie in der gesamten Behandlungskette korrekt weitergeleitet und weiterverwendet werden. Das führt zu einer höheren Effizienz und geringeren Gesundheitskosten.

Auch auf Ihrer Website erwähnen Sie die "Strategie eHealth Schweiz 2.0", die drei Handlungsfelder definiert. In welchem Feld sehen Sie noch den grössten Handlungsbedarf?

Ich habe den Eindruck, dass die Punkte "Digitalisierung fördern" und "Digitalisierung abstimmen und koordinieren" mit den verschiedenen Massnahmen wie dem Programm Digisanté und der Fachgruppe Datenmanagement im Gesundheitswesen gut aufgegleist sind. Da die Arbeit hier voranschreitet, muss nun der dritte Punkt "Zur Digitalisierung befähigen" in Angriff genommen werden. Dies ist eine grosse Veränderung, da die Patientinnen und Patienten ihre klinischen Daten bisher oft gar nicht zu Gesicht bekamen.

Im Frühling 2022 stellte die EU den "European Health Data Space" vor, in dem Gesundheitsdaten zugänglich gemacht werden sollen. Wäre dies auch etwas für die Schweiz? 

Wir werden die Entwicklung im europäischen Raum aufmerksam verfolgen. Wir arbeiten bereits mit internationalen Standards, die auch in Europa weitgehend umgesetzt sind. Das elektronische Patientendossier basiert auf diesen internationalen technischen Standards. Wir sind also gut positioniert für eine mögliche internationale Zusammenarbeit in den kommenden Jahren. Das politische Umfeld, insbesondere die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union sind dabei ebenfalls zu berücksichtigen.

Wie beurteilen Sie die Situation für hiesige Forschende, wenn es um den Zugang zu Gesundheitsdaten geht?

Dieser Punkt wird im Rahmen der nächsten Revision des EPDG angegangen. Es gibt sicherlich noch einige Dinge, die umgesetzt werden müssen. Es ist klar, dass einige EPD-Daten für Forschungszwecke relevant sein können. Es muss dann jedoch festgelegt werden, wer Zugang haben darf und auch worauf. Der Zugang muss kontrolliert werden und die Daten dürfen nur ­anonymisiert weitergeleitet werden. Die Patienten und Patientinnen müssen selbst darüber entscheiden dürfen, ob sie ihre Daten zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen wollen oder nicht. 

Wie stellen Sie sich das digitalisierte Gesundheitssystem der Schweiz in zehn Jahren vor?

Ich hoffe sehr, dass es mit der Digitalisierung gelingt, die Patientinnen und Patienten wieder in den Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung zu stellen – sei es durch die Vereinfachung der Pflegeprozesse, die bessere Koordination von Behandlungen, die Vermeidung von Mehrfachuntersuchungen und vor allem dadurch, dass die Patienten und Patientinnen wieder die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten erhalten. Ich hoffe, dass wir im Laufe der Zeit eine echte Reduktion der Dokumentationslast für Gesundheitsfachpersonen erreichen werden. Ihre Kompetenzen sollten dort eingesetzt werden, wo sie am wertvollsten sind: beim Patienten.
 


Persönlich

Martine Bourqui-Pittet ist seit 14 Jahren für das Bundesamt für Gesundheit tätig. 2009 übernahm sie die Leitung der Sektion Risikobeurteilung der Abteilung Chemikalien im BAG. Während der Covid-19-Pandemie übernahm sie die Co-Leitung der Arbeitsgruppe "Lage" und im November 2022 die Leitung der Geschäftsstelle von E-Health Suisse. In dieser Funktion koordiniert sie die schweizweite Einführung des elektronischen Patientendossiers. Sie hat einen Doktor in Biochemie von der Universität Freiburg. Quelle: BAG

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