Podcast-Special zu den Wahlen 2023

So soll es mit der Schweizer Digitalpolitik weitergehen

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Von E-Voting über Cybersicherheit bis zu künstlicher Intelligenz: An heissen Eisen mangelt es nicht in der schweizerischen Digitalpolitik. Anlässlich der Wahlen 2023 verrieten Parlamentarierinnen und Parlamentarier wichtiger Parteien, wie sie die digitale Schweiz voranbringen wollen.

(Source: @ Parlamentsdienste / Rob Lewis)
(Source: @ Parlamentsdienste / Rob Lewis)

Am 4. Dezember 2023 endet die 51. und beginnt die neue Legislaturperiode des Schweizer Parlaments. Der Oktober davor steht ganz im Zeichen der Wahlen. Fast jeder vierte Ratssitz dürfte dabei neu besetzt werden, schreiben die Parlamentsdienste.

Der bevorstehende Wechsel ist eine gute Möglichkeit, Bilanz zu ziehen: Wo steht die digitalisierte Schweiz heute, und wo soll sie hin? Welche Digitalisierungs-Fails gab es in der vergangenen Legislaturperiode? Und welche Baustellen werden in der kommenden angepackt? 

SVP-Nationalrat Franz Grüter (l.) und Netzwoche-Redaktor René Jaun. (Source: Netzmedien)

Folge 1: SVP-Nationalrat Franz Grüter (l.) und Netzwoche-Redaktor René Jaun. (Source: Netzmedien)

Für eine Podcast-Serie traf sich die Redaktion mit Politikerinnen und Politikern wichtiger Schweizer Parteien zur Bestandsaufnahme. Zu Wort kommen Vertreterinnen und Vertreter jener Parteien, die in Bundesbern in der 51. Legislatur­periode mit einem Wähleranteil von mehr als 5 Prozent beteiligt waren. Eine Ausnahme bildet die Piratenpartei. Sie ist aktuell nicht im Schweizer Parlament vertreten, äussert sich jedoch schon länger regelmässig dezidiert zu Digitalthemen und buhlt aktuell um Wählerstimmen in mehreren Kantonen.

Hamsterrad und Kinderschuhe

Dass es in puncto Digitalisierung in der Schweiz nicht zum Besten steht, zeigt schon die Antwort auf die Einstiegsfrage: Wo steht die digitalisierte Schweiz im Moment? Die kürzeste Antwort liefert Judith Bellaiche, im Parlament für die Grünliberale Partei (GLP, Kanton Zürich) und in der Branche auch bekannt als Geschäftsführerin des ICT-Verbands Swico. "Work in Progress", lautet ihre Antwort.

Etwas ausführlicher formuliert es Min Li Marti von der Sozialdemokratischen Partei (SP, Kanton Zürich): "Wir sind nicht so gut, wie wir sein könnten, aber auch nicht so schlecht, wie es manchmal heisst", findet sie. Franz Grüter, Vertreter der Schweizerischen Volkspartei (SVP, Kanton Luzern) und IT-Unternehmer, sieht die aktuelle Lage ebenfalls durchzogen. Der Staat habe zwar positive Entwicklungen durchgemacht. "Es gibt aber Bereiche, bei denen ich in Sorge bin."

Netzwoche-Redaktor René Jaun (l.) und Nationalrat Gerhard Andrey (Grüne/FR). (Source: Netzmedien)

Folge 2: Netzwoche-Redaktor René Jaun (l.) und Nationalrat Gerhard Andrey (Grüne/FR). (Source: Netzmedien)

Ein schlechteres Zeugnis stellt Simon Stadler aus, der für die Mitte (Kanton Uri) im Nationalrat sitzt: "In vielerlei Hinsicht stecken wir noch in den Kinderschuhen. Es gäbe viel Potenzial für Verwaltung, Politik, aber vor allem für die Bevölkerung. Es könnte viel getan werden, das uns Arbeit abnimmt", kommentiert er. Und Jorgo Ananiadis, Präsident der Piraten und Wahlkandidat für den Kanton Bern, spricht von einem Hamsterrad: "Viele Projekte drehen sich im Kreis und kommen nicht voran." Zudem schaue man sich nicht nach Alternativen um, kritisiert er.

E-ID – vom Misserfolg zum Erfolg

Gefragt nach Erfolgen in der Digitalpolitik der letzten vier Jahre, liefern zwar alle Gesprächspartner Beispiele, doch weitaus weniger als in den später angesprochenen Fails. "Es gibt ganz wenige Digitalisierungsprojekte, die die Schweiz gut meisterte", kommentiert Piraten-Vertreter Ananiadis. Gut sei etwa, dass das Schweizerische Bundesgericht seine Urteile online veröffentliche und dass man Parlamentsdebatten und politische Geschäfte im Web mitverfolgen könne. "Es gibt positive Digitalisierungsbeispiele, die letztlich auch den Bürgerinnen und Bürgern etwas nützen, weil sie effizienter und direkter mit dem Staat kommunizieren können", sagt Franz Grüter und verweist etwa auf ein grosses Digitalisierungsprojekt in der Zollverwaltung.

Ausführlicher äussert sich Gerhard Andrey, Grünen-Nationalrat (Kanton Freiburg) und IT-Unternehmer. "Die Pandemie hat uns komplett durchgeschüttelt und führte zu einem Digitalschub. Wir alle – und gerade auch Verwaltungen – gewannen dabei neues Selbstvertrauen im Umgang mit digitalen Tools, was mich freut." Namentlich verweist er auf das digitale Covid-Zertifikat, das für ihn ein neues Kapitel darstelle: "Technologisch spannend, quelloffen aufgebaut (um die Sicherheit nachweisen zu können), mit Schnittstellen, die diesen Namen verdienen, mit einer gegenseitig befruchtenden Zusammenarbeit von Privatwirtschaft und Verwaltungen." Als weitere geglückte Digitalprojekte nennt er die API-Strategie des Bundesrats, das aufgegleiste "Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben" (EMBAG) oder die E-ID.

Netzwoche-Redaktor René Jaun und Nationalrätin Min Li Marti (SP/ZH). (Source: Netzmedien)

Folge 3: Netzwoche-Redaktor René Jaun und Nationalrätin Min Li Marti (SP/ZH). (Source: Netzmedien)

Auch diverse andere Gesprächspartner sehen in der E-ID einen Erfolg. Noch im März 2021 erteilte das Stimmvolk einer ersten Vorlage eine Abfuhr. Unmittelbar danach reichten sämtliche Fraktionen des Parlaments Vorstösse für einen neuen Anlauf ein. Dieses neue Projekt sei zwar "noch nicht umgesetzt, aber auf gutem Weg", kommentiert Min Li Marti. "Der überparteiliche Vorstoss hat das Potenzial, Riesiges zu bewegen", sagt Simon Stadler. Er, der in einer Bergregion lebt, findet, dass gerade die Bevölkerung in ländlichen Gebieten von der E-ID und der Digitalisierung allgemein profitieren könne.

Auch Marcel Dobler, Vertreter der FDP (Kanton St. Gallen) und Vizepräsident von Digitalswitzerland, ist froh, dass es mit der E-ID vorangeht. Alle hätten eingesehen, dass die Schweiz eine solche brauche, sagt er. Gleichzeitig gibt er sich ungeduldig: "Immerhin ist der Bund darum bemüht und es läuft mega vieles, aber es ist erschreckend, dass alles so lange dauert."

Cybersecurity als Mega-Fail

Sowohl Judith Bellaiche als auch Marcel Dobler zählen auch Entwicklungen im Bereich Cyber zu den Erfolgen. Namentlich erwähnen sie den Aufbau des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit (NCSC) und dessen angelaufene Umwandlung in ein beim Verteidigungsdepartement (VBS) angesiedeltes Bundesamt. "Nun muss man dem Bund etwas Zeit geben, die neuen Strukturen aufzubauen", mahnt Dobler und fügt an, dass Cybersecurity eigentlich ein Erfolgsmodell sei und das VBS viel weiter sei als andere Departemente.

Jorgo Ananiadis (l.), Präsident der Piratenpartei Schweiz, und Netzwoche-Redaktor René Jaun. (Source: Netzmedien)

Folge 4: Jorgo Ananiadis (l.), Präsident der Piratenpartei Schweiz, und Netzwoche-Redaktor René Jaun. (Source: Netzmedien)

Doch die meisten Gesprächspartner verbuchen Cybersecurity in der Liste der Digitalisierungs-Fails. Viel zu lange habe der Bund die Risiken unterschätzt, bemängelt Franz Grüter. "Heute müssen wir erkennen, dass es auch beim Staat zu grossen Angriffen und grossen Datenlecks kommt." Gerhard Andrey spricht in diesem Zusammenhang von einem riesigen Manko, einer "Art Verantwortungsdiffusion und einer mangelnden Fehlerkultur".

Immer wieder fällt auch der Name Xplain, dem Unternehmen, das im Frühling 2023 Opfer eines Ransomware-Angriffs wurde. In den darauf von den Erpressern veröffentlichten Dokumenten fanden sich auch besonders schützenswerte Daten, zum Beispiel des Bundesamtes für Polizei (Fedpol). Die Cyberangriffe "offenbaren das wahre Ausmass der Katastrophe", kommentiert Judith Bellaiche. Simon Stadler findet, das Problem sei, dass Hacker "immer einen Schritt voraus sind. Wir müssen am Ball bleiben, gute Leute ausbilden und fördern, um der Gefahr nachkommen zu können".

Jorgo Ananiadis erinnert an weitere Daten-Desaster wie jene der Stiftungen "Meineimpfungen" und "Swisstransplant". Sein Fazit: "Alles in allem sehen wir, dass offensichtlich nicht viel Digitalkompetenz vorhanden ist. Wir fallen relativ oft auf die Nase."

Der Krampf mit EPD und E-Voting

Cybersecurity ist nicht das einzige Thema, worüber die Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Stirn runzeln. Auch das elektronische Patientendossier (EPD) kommt nicht besonders gut weg. Keiner der Gesprächspartner gab an, ein EPD zu besitzen. "Vielleicht sollte ich das mal tun, um zu checken, was abläuft", räumt Gerhard Andrey ein. Judith Bellaiche findet: "Ich glaube nicht, dass es mir etwas bringt." Min Li Marti und Simon Stadler sagen, dass sie nicht so häufig in der Patientenrolle seien und deswegen noch kein EPD hätten.

Netzwoche-Redaktor René Jaun und Judith Bellaiche, Nationalrätin und Geschäftsführerin des Swico. (Source: Netzmedien)

Folge 5: Netzwoche-Redaktor René Jaun und Judith Bellaiche, Nationalrätin und Geschäftsführerin des Swico. (Source: Netzmedien)

Eine Ausnahme gibt es jedoch (bald) – Franz Grüter: "Gerade vor zwei Wochen entschied ich, meine eigenen Erfahrungen zu sammeln und mich für ein EPD anzumelden", sagt er. Doch noch ist es nicht so weit: "Aktuell stecke ich inmitten des Parcours, der dafür nötig ist. Man kann sich nicht vorstellen, wie kompliziert das ist." So müsse man sich zunächst für einen Anbieter entscheiden – und quasi keiner biete die Möglichkeit an, das EPD online zu eröffnen. Er als Luzerner müsse darum nach Zürich zu einem halbstündigen Gespräch. "Wenn das so mühsam, so kompliziert und schwierig ist, wird es nicht zum Durchbruch kommen", urteilt er.

Viele der Befragten sprechen sich für Änderungen aus: Das EPD müsse mehr Nutzen bringen und für Patientinnen und Patienten sowie medizinische Fachkräfte einfacher verwaltbar werden. "Positiv formuliert, kann man noch immer viel richtig machen", sagt Gerhard Andrey. Er empfiehlt Quelloffenheit, gute Interoperabilität und Maschinenlesbarkeit und fasst zusammen: "Erst wenn man unter der Haube den richtigen Motor hat, kann man auch anständige Apps und Tools entwickeln." Kritischer zeigt sich Marcel Dobler. Er spricht die EPD-Reform an, die der Bundesrat unlängst startete. Zwar gebe es riesiges Potenzial. Aber: "Ich habe Angst, dass der neue Anlauf ein Rohrkrepierer wird."

Nicht besonders gut weg kommt auch das Thema E-Voting. "Es ist ein heisses Eisen, denn es geht hier um etwas Sensibles. Die Schweiz hat eine sehr gute, gelebte Demokratie. Die Leute sind verunsichert davon, diese zu digitalisieren", erklärt Mitte-Politiker Stadler. Er warnt vor der Möglichkeit der Wahlmanipulation durch andere Staaten. Auch SP-Nationalrätin Min Li Marti hat Sicherheitsbedenken, wie auch ein nicht unbedeutender Teil ihrer Partei, wie sie sagt. Die Mehrheit der SP stelle sich allerdings hinter E-Voting, "aus nachvollziehbaren Gründen wie Inklusion von Auslandschweizerinnen und Menschen mit Beeinträchtigungen".

Nationalrat Simon Stadler (Mitte/UR) und Netzwoche-Redaktor René Jaun. (Source: Netzmedien)

Folge 6: Nationalrat Simon Stadler (Mitte/UR) und Netzwoche-Redaktor René Jaun. (Source: Netzmedien)

FDP-Politiker Dobler führt ins Feld, E-Voting sei in der Schweiz – ausser im Fall der im Ausland lebenden Bevölkerung – eigentlich nicht erforderlich, verursache mehr Kosten und sei nicht schneller als analoges Abstimmen. "Folglich muss man sich schon fragen, warum wir so etwas Risikobehaftetes überhaupt machen." Und GLP-Vertreterin Bellaiche empfiehlt: "Wenn wir alles andere beherrschen in der Digitalisierung und das Vertrauen der Bevölkerung verdient haben, können wir über E-Voting reden."

Der Ruf nach Kompetenz

Differenziert fallen die Voten zum Thema künstliche Intelligenz aus. "Mich fasziniert, was gerade abgeht. Gleichzeitig frage ich mich, was für eine Welle gerade auf uns zurollt", sagt Gerhard Andrey. Um Regulierung werde man nicht herumkommen, "damit uns das Ganze nicht um die Ohren fliegt". Für Regulierung spricht sich auch SP-Politikerin Marti aus. Ihrer Meinung nach sollte die Schweiz proaktiv handeln, anstatt in einiger Zeit die EU-Beschlüsse zu übernehmen.

Marcel Dobler sagt dagegen: "Mir ist wichtig, dass wir nicht wie andere Länder etwas auf Vorrat verbieten. Die Schweiz müsse in diesem Bereich flexibel bleiben". Judith Bellaiche sieht in KI einen "Silberstreifen am Horizont. Ich bin überzeugt, dass die Schweiz in der Poleposition steht, um zum Innovations­standort und Hub für künstliche Intelligenz zu werden."

Jorgo Ananiadis schliesslich sagt, KI sei "eigentlich eine sehr lustige Sache", und erzählt von einer Wahlkampagne der Piraten, in deren Rahmen die Kandidierenden ihre Gesichter von KI verändern liessen. Er fügt hinzu, dass ein Anruf auf eine moderne Kunden-Hotline oder das Gespräch mit einem Chatbot auf einer Website deutlich zeige, "dass künstliche Intelligenz eigentlich dumm ist". Rahmenbedingungen seien zwar nötig. Die Wirtschaft müsse aber Freiheiten haben, sich zu entwickeln.

Netzwoche-Redaktor René Jaun (l.) und Nationalrat Marcel Dobler (FDP/SG). (Source: Netzmedien)

Folge 7: Netzwoche-Redaktor René Jaun (l.) und Nationalrat Marcel Dobler (FDP/SG). (Source: Netzmedien)

Gefragt, was sich die Politikerinnen und Politiker für die digitale Schweiz wünschen, fällt ein Wunsch besonders häufig: mehr Digitalkompetenz in der Politik. Viele sprechen dabei vom Parlament, manche aber auch von der Exekutive. "Im Bundesrat haben wir im Moment keinen Einzigen mit IT-Affinität", kritisiert Marcel Dobler und fügt an: "Wenn auf der obersten Ebene das Verständnis für IT nicht da ist, wird es schwierig, Digitalisierungsthemen weiterzutreiben."

Sowohl er als auch Judith Bellaiche kommen auf den ­abtretenden Bundeskanzler Walter Thurnherr zu sprechen. ­Er sei "ein versteckter Digitalminister" gewesen, sagt Bellaiche, die sich jemanden wünscht, der seine Vision weiterträgt ­(lesen Sie dazu auch das Interview von Judith Bellaiche mit Walther Thurnherr). Min Li Marti und Gerhard Andrey wünschen sich mehr Digitalisierung zum Nutzen der Bevölkerung. "Im Moment ist manchmal noch das Gegenteil der Fall", kommentiert Marti. Und Simon ­Stadler sagt: "Es ist bitter nötig, Schritte vorwärtszumachen und vorwärtszukommen." Dafür brauche es politische Entscheidungsträger, die in diesen Bereichen versiert ­seien.

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