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Neuland Tessin

Uhr | Aktualisiert
von Daniele Giampà

Das Tessin bietet mehr als schöne Landschaften und feines Essen. Die IT-Wirtschaft des Kantons wächst stetig – seit Jahren. Für moderne Technologien ist das ­Tessin ein fruchtbarer Boden.

Jedes Jahr lädt Swisscom zur Dialog Arena ein. Im November 2015 fand die Veranstaltung zum ersten Mal im Tessin statt. Swisscom wollte als nationales Unternehmen auch in der italienischen Schweiz eine Plattform für die IT-Branche schaffen, wie Stefano Santinelli, CEO von Swisscom Health und Gastgeber, am Event erklärte. Der Event fand Anklang. Rund 130 Unternehmer folgten der Einladung von Swisscom. Ein Grund könnte sein, dass das Unternehmen im Tessiner IT-Markt eine Chance für Wachstum sieht.

In der Tat erlebte der IT-Markt im Tessin in den vergangenen fünf Jahren ein bedeutendes Wachstum, wie mehrere Studien belegen. Gemäss dem Istituto di Ricerche Economiche IRE waren im Jahr 2012 rund 1000 IT-Unternehmen im Tessin aktiv, in denen 5670 Mitarbeiter fest angestellt waren. Dies entspricht 3,3 Prozent der gesamten Mitarbeiterzahl des Kantons. Das IRE beruft sich für diese Statistik auf Daten des Bundesamtes für Statistik (Statent 2012), des BAK Basel Economics und des Orbis.

Der IT-Markt sei im Tessin sehr dynamisch, schreibt das IRE. Nur in den Kantonen Zürich, Genf, Bern und Waadt arbeiten mehr Festangestellte in der IT-Branche. Vor allem in den letzten drei Jahren stieg die Zahl der Mitarbeiter stark. Im Kanton Tessin wuchs sie um 16 Prozent, gesamtschweizerisch waren es etwa 4 Prozent.

Näher beim Kunden

Wie sieht das Tessin aus der IT-Unternehmersicht aus? UPC Cablecom etwa eröffnete seinen ersten Shop im Tessin im August 2015. Damit will der Telko näher bei den Kunden sein, wie das Unternehmen sagt. Die Rechnung scheint aufzugehen. Seitdem begrüsst UPC Cablecom nach eigenen Angaben jeden Monat 3500 neue Kunden. Zurzeit wachse ausser Internet und TV vor allem der Mobile-Bereich stark. Künftig will das Unternehmen weiter in die Netzinfrastruktur investieren.

Appway ist schon seit 2008 im Tessin angesiedelt. Für den Anbieter digitaler Businesslösungen sei die Region eine gute Ausgangslage für Projekte im Tessin und in Italien, sagt Christina Thoma, Head of People and Places bei Appway. Zudem baut Appway auf das Wissen von Ingenieuren aus Italien. Das Unternehmen plant, seinen Deve­loper Campus im Tessin noch dieses Jahr auszubauen.

Geht es nach Massimo Torretta, Softwareentwickler bei Epikure, stellt sich die Situation des Tessiner IT-Marktes gleich dar wie auf der ganzen Welt. Die klassische ICT der 90er-Jahre entwickelte sich in Richtung Virtualisierung, Cloud-Service, Mobile-Service für Mitarbeiter, schnellere Internetverbindungen oder Geolokalisierung.

Insbesondere gab es bedeutende Investitionen in Cloud-Technologien und in die Glasfaser. Qualitative Technologie, die früher aus dem Ausland kam, könne nun auch direkt von Anbietern im Tessin bezogen werden.

Zwischen Tradition und Innovation

Im Tessin sei insbesondere die Vernetzung ein zentrales Thema, sagt Santinelli von Swisscom. Der Kanton sei klein und die Wirtschaft vorwiegend regional verankert. Deswegen würden kleine und grosse Unternehmen in der italienischen Schweiz auf Zusammenarbeit setzen, sagt Santinelli weiter. Ausserdem könnten sich kleine Unternehmen eine hochprofessionelle Infrastruktur gar nicht leisten. Eine industrieübergreifende Strategie oder die Nutzung von Managed Services würden stattdessen die Produktionskosten massgeblich senken.

Natürlich hat das Tessin, wegen der geografischen Lage und der Kultur, einen guten Anschluss an Italien. Der Tessiner Anbieter von Collaboration-Plattformen Agora Secureware arbeitet sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene. Seit dem letzten Jahr konzentriert sich das Unternehmen auf den italienischen Markt, wie CTO Patrick Herber sagt. Seiner Meinung nach ist die Tessiner Wirtschaft, etwa die Finanzbranche, auf das Ausland ausgerichtet. Die Kommunikation sei ein wichtiger Faktor in der Entwicklung von Geschäften. Das Tessin habe aber eine schweizerische Identität. Dies erleichtere die Annäherung an den italienischen Markt.

Eine Marktöffnung des italienischsprachigen Kantons sieht Valentina Gatti, CEO der Consulting-Firma 1st Group, eher kritisch. Im Tessin gebe es viele Unternehmen, die vor allem im Hardwaregeschäft unterwegs seien. Ein Grund dafür sei, dass das Tessin für Unternehmen aus den Deutschschweizer Kantonen kaum strategische Relevanz habe. Zwar böten bereits viele Firmen seit Jahren grundlegende Dienstleistungen und Serviceverträge auf lokaler Ebene an. Diese Unternehmen leisteten aber keinen nennenswerten Beitrag zur Verbreitung neuer Technologien. Ähnlich sehe es bei der Ausbildung von Fachkräften aus, sagt Gatti weiter.

Die Eigenart des Kantons Tessin stellt indes für Appway eine Chance dar. In Italien selbst hat Appway keine Niederlassungen. Das Unternehmen nutzt die Tessiner Filiale, um auch den italienischen Markt zu bearbeiten, wie Thoma erklärte.

Strategische Bedeutung

Darüber hinaus biete sich das Tessin als idealer Standort an, um Start-ups im IT-Bereich zu fördern. Dank international ausgerichteter Universitäten im Tessin und Universitäten im Nachbarland Italien erweitere sich der mögliche Talentpool fast natürlich und ohne spürbare Grenzen, wie Thoma weiter sagt. Allerdings habe das Tessin Nachholbedarf im Bereich IT-Versorgung, sagt Thoma. Sie sei aber zuversichtlich, dass sich diese Situation dank der Universitäten sowie der zusätzlichen Förderung durch den Kanton in naher Zukunft ändern werde.

Diesen Trend bestätigt auch Kai Hormann, Dekan der Fakultät für Informatik der Università della Svizzera Italiana USI. Das Tessin sei zu wenig attraktiv für Hochschulstudenten. Die meisten Absolventen zögen es deshalb vor, in einem anderen Teil der Schweiz zu arbeiten oder ins Ausland auszuwandern, auf der Suche nach besseren Gehalts- und Projektbedingungen.

Der Markt habe sich nicht sonderlich entwickelt, sagt etwa Gatti. Es gebe noch viele KMUs, die eine Erneuerung in den Bereichen Projektmanagementsoftware, Webportale, Analyse- und Reporting-Tools benötigen würden. Ihrer Meinung nach wird es noch ungefähr fünf Jahre dauern, bis die Geschäftsprozesse in den Tessiner Unternehmen komplett digitalisiert sind. Die Marktdaten scheinen dies zu bestätigen.

Ein dynamischer Markt

Der Tessiner ICT-Markt ist gemäss den Statistiken von verschiedenen Forschungsinstituten in den letzten zehn Jahren stetig gewachsen. Dabei unterscheiden sich die Studien nach den zwei Definitionen ICT und IT. Geht es nach dem IRE stieg das BIP der Tessiner ICT-Branche von rund 3,2 Prozent im Jahr 2003 auf 3,5 Prozent im Jahr 2016. In dieser Zeit stieg der Mehrwert des ICT-Sektors von rund 640 Millionen Franken auf 950 Millionen Franken.

Im Jahr 2015 lagen gemäss MSM Research die ICT-Ausgaben (B2B) im Kanton Tessin bei rund 730 Millionen Franken oder 4,3 Prozent des Schweizer Marktes. In diesem Jahr betrugen die ICT-Ausgaben in der ganzen Schweiz rund 17 Milliarden Franken. In der Deutschschweiz lagen die Ausgaben deutlich höher bei 12,5 Millionen Franken. Dies entspricht 74 Prozent des Schweizer Marktes. In der Romandie waren es 3,6 Millionen Franken, was rund 20 Prozent des Schweizer Marktes ausmacht.

Das BAK Basel verschafft mit einer verfeinerten Studie einen Einblick in den IT-Markt. Im Vergleich zu den anderen Kantonen entwickelte sich der Tessiner IT-Markt überdurchschnittlich gut. Das durchschnittliche reale Wachstum der IT-Services in der Schweiz von 2005 bis 2015 liegt gemäss BAK Basel bei 1,4 Prozent.

Im Kanton Tessin stieg die Wertschöpfung der IT-Services von 2005 bis 2015 um 3,2 Prozent. In dieser Zeit war in den Kantonen Obwalden (18 Prozent), Jura (6,7 Prozent), Appenzell Innerrhoden (6 Prozent), Uri (4,5 Prozent) und Appenzell Ausserrhoden (4,1 Prozent) das reale Wachstum stärker. In der Romandie hingegen wuchs die Wertschöpfung um 2,5 Prozent in Waadt und um 2 Prozent in Genf.

Licht am Ende des Tunnels

Die IT-Branche hat sich in den letzten zehn Jahren gut entwickelt. Das Tessin blieb wie die anderen Kantone auf dem aktuellen Stand der Technologie. Allerdings gibt es noch viele alteingessene Unternehmen, die nicht zum digitalen Wandel beitragen können. Möglicherweise fehlt ihnen das nötige Kapital. Die Cloud-Technologie könnte Kosten reduzieren und die Zusammenarbeit mit grossen und reichen Unternehmen in die Wege leiten.

Die strategische Relevanz des Tessins liegt mit Sicherheit in der Verbindung zu Italien. Dennoch besteht eine gute Zusammenarbeit mit den Kantonen der Deutschschweiz. Im Vergleich zu den anderen Kantonen ist die Wertschöpfung der Tessiner IT-Branche höher. Künftig könnte sich das Tessin weiter entwickeln. Jetzt scheint die Zeit noch nicht reif zu sein. Es gibt immer noch sehr viele Uni-Absolventen, die nicht in der Region bleiben wollen.

Tessiner Unternehmer stehen nun vor der Herausforderung, ihr Geld in die richtige Technologie zu investieren. Gleichzeitig müssten sie bereit sein, sich von traditionellen Denkhaltungen und Strategien zu lösen und den kulturellen Wandel in die Wege zu leiten.

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