Interview mit Adrian Schmid, Leiter eHealth Suisse

"Für die breite Abdeckung braucht es vielleicht einmal ein Obligatorium"

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Seit dem 15. April 2020 ist in der Schweiz das elektronische Patientendossier verfügbar – zumindest theoretisch. Praktisch zögert sich die Einführung immer wieder hinaus. Grund ist die Zertifizierung der Stammgemeinschaften, sagt Adrian Schmid, Leiter eHealth Suisse, im Interview. Ausserdem spricht er darüber, was es braucht, damit das EPD ein Erfolg wird, und wie die Gesundheitsbranche die letzten Faxgeräte loswerden kann.

Adrian Schmid, Leiter eHealth Suisse (Source: Netzmedien)
Adrian Schmid, Leiter eHealth Suisse (Source: Netzmedien)

Ich befürchte, dass es noch einmal 20 Jahre dauern wird, bis das EPD flächendeckend eingesetzt wird. Was halten Sie von meiner Prognose?

Adrian Schmid: Das EPD wird nächstes Jahr flächendeckend verfügbar sein. Jede Person, die in der Schweiz lebt, kann eines haben. Wie es sich aber weiterentwickelt, lässt sich nur schwer einschätzen. Erstens verändern sich technische Aspekte, Funktionen und Inhalte. Zweitens ist es schwierig, die Entwicklung der Digitalisierung und die Auswirkungen auf die Gesellschaft vorauszusagen – vor zehn Jahren liess sich auch nicht sagen, wie sich unsere Gesellschaft verändern würde. Drittens ist das EPD auch ein Kulturprojekt: Im Kern verändert es die Art, wie behandelnde Ärzte zusammenarbeiten, mit einem gemeinsamen Datenaustausch unter Einbezug des Patienten – auch hier sind Prognosen schwierig.

Wann können wir konkret mit dem Start rechnen? Der Termin wurde dieses Jahr nun ja schon zwei Mal verschoben …

Es gab nie einen aktiven Beschluss, die Einführung zu verschieben. Richtig ist aber die Feststellung: Das EPD ist noch nicht bereit. Vor allem der Zertifizierungsprozess dauert länger, als wir angenommen hatten. Wir glauben, dass spätestens im Frühling 2021 alle Stammgemeinschaften zertifiziert sind und ihren Betrieb aufgenommen haben, wenn auch zum Teil noch mit wenigen Institutionen. Aber aktiv steuern können wir das nicht.

Wer ist für diese Zertifizierung zuständig?

Die Zertifizierung der Stammgemeinschaften erfolgt durch private Unternehmen, die beispielsweise auch ISO-Zertifikate für Firmen herausgeben. Es sind also nur private Akteure beteiligt. Wir und das Bundesamt für Gesundheit können dabei unterstützen, helfen und koordinieren, aber den Prozess nicht direkt beeinflussen. Denn am Schluss ist es wichtig, die Zertifizierung zu bestehen, also die Anforderungen an die Umsetzungsprojekte zu erfüllen. Dabei geht es etwa um den Schutz und die Sicherheit von Daten. Hier soll nicht gepfuscht, sondern sauber gearbeitet werden.

Corona legt die Schwächen des föderalistischen Flickenteppichs bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens offen. Inwiefern verändert die Pandemie wohl die eHealth-Strategie von Bund und Kantonen?

Corona ändert nichts daran, dass vor allem die Kantone für die Umsetzung der digitalen Vernetzung zuständig sind. Entsprechend bleibt auch das Zusammenspiel zwischen nationaler und regionaler Ebene bestehen. An der Strategie wird sich also nichts ändern. Aber dank der Erfahrungen der letzten Monate und der erhöhten Aufmerksamkeit auf die Probleme ändert sich vielleicht etwas an der Umsetzung der Massnahmen.

Welche Probleme meinen Sie?

Man sieht dies etwa im Bereich der Videokonsultationen. Diese waren bei der Ärzteschaft lange Zeit nicht beliebt, wurden dann aber während Corona von vielen Ärzten eingeführt und sogar von der FMH mit einem Faktenblatt begleitet. Dies wäre vor einem Jahr noch nicht denkbar gewesen. Ein anderes Beispiel ist die Diskussion um die Erhebung der Virusinfektionen, die zum Teil noch immer per Fax erfolgt. Dank Corona hat die Öffentlichkeit gemerkt, dass wir in der grossflächigen Digitalisierung noch nicht da sind, wo wir sein wollen.

Was muss passieren, damit die alten Faxgeräte ganz verschwinden?

Die Ärzte müssen anfangen, bei ihren Anbietern die Weiterentwicklung der Praxisinformationssysteme einzufordern. Und die Anbieter wiederum müssen anfangen, sich zu bewegen und innovativere Produkte zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass sie sich von ihren proprietären Schnittstellen verabschieden und die internationalen Standards, auf denen das EPD aufbaut, integrieren.

Stand heute ist das EPD für viele Dienstleister freiwillig. Steht diese Freiwilligkeit nicht einer schnellen breiten Adoption im Weg?

Das ist sicher richtig. Ich als Patient habe ein Interesse daran, dass alle meine Behandelnden beim EPD dabei sind – ob sie nun müssen oder das freiwillig tun. Tatsächlich ist das EPD derzeit für den stationären Bereich obligatorisch, für den ambulanten jedoch nicht. Eigentlich sollten sich Ärzte, Apotheker oder Therapeuten im Interesse einer guten Behandlung ihrer Patienten freiwillig dem EPD anschliessen und dies nicht als Pflichtübung sehen. Dennoch nimmt der Druck auf den ambulanten Bereich zu, und es kommt langsam Bewegung in die Ärzteschaft und die Verbände. Wir gehen davon aus, dass man einen grossen Teil mit guten Projekten überzeugen kann. Für die wirklich breite Abdeckung braucht es vielleicht einmal ein Obligatorium, aber das ist letztlich ein politischer Entscheid. Für Patienten wird das EPD dann ein Erfolg, wenn sie sicher sein können, dass 70 oder 80 Prozent ihrer behandelnden Ärzte mitmachen.

Und wie erreichen wir diesen Zustand?

Kurzfristig hilft eine starke Erwartungshaltung der Öffentlichkeit, aber vor allem auch der Patienten. Diese können konkret ihren Hausarzt auf das EPD ansprechen und ihn bitten, ihre Unterlagen dort digital abzulegen. Auf politischer Ebene wird vielleicht eines Tages, aber sicher nicht sehr bald, ein Obligatorium beschlossen. Und schliesslich stellen wir auch einen Generationsunterschied fest: Dass Ärzte kurz vor der Pensionierung kein EPD mehr einführen, ist nachvollziehbar. Für junge Ärzte (unter 45 Jahren) ist die digitale Praxisführung ohnehin der Standard. Entsprechend dürfte hier die Adoption mit den Jahren zunehmen.

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